Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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      Jetzt kann Olav endlich zeigen, dass er mehr weiß, als seine jüngere Schwester. Er rennt voraus zum Traktorschuppen und zieht seine Geschwister hinter sich her, durch den Sackvorhang in die Geräteecke. Mit hochroten Wangen sucht er Spatel, spitze Schraubenzieher und andere schmalkantigen Werkzeuge zusammen.

      „Ihr könnt euch auf die gefalteten Kartoffelsäcke knien. Und das Unkraut fegt ihr zwischendurch immer mal zusammen und stopft es in diesen Sack. Den leert ihr drüben auf dem Kompost aus. Und so weiter. Ich denke, ihr wisst, wie man so was macht.“

      Alleine vom Anblick der wuselnden kleinen Körper und flinken Hände wird Lydia warm ums Herz. Wann hat ihr das letzte Mal jemand geholfen? Sie wird einen extra großen Topf Kakao kochen. Und Waffeln wird sie backen. Und vielleicht weiß sie schon morgen, ob sie es bei dem Umschlag mit echtem Geld zu tun hat …

      Sollte Letzteres nicht der Fall sein, wird sie sich etwas einfallen lassen müssen. Darüber wird sie noch ausführlich nachdenken, aber erst, wenn die Kinder sich wieder auf dem Weg ins Tal befinden. Vorher jedoch will sie etwas ganz anderes angehen, etwas, das schon lange überfällig ist.

      Ihr weites Hemd weht wie eine Flagge hinter ihr her, als sie mit langen Schritten ins Haus eilt. Mit dem Bewusstsein, dass draußen Regsamkeit wie in alten Zeiten herrscht, wird sie schon heute den Mut für ihren Plan vom Vortag aufbringen.

      Zumindest den Anfang dazu wird sie wagen.

      Kapitel 10

      Noch im Haus klingt das Schaben und Kratzen der Kinder draußen im Hof wie Musik in Lydias Ohren.

      Im kleinen Badezimmer gegenüber der Küche wäscht sie sich Hände und Gesicht, trocknet sich ab und öffnet den halb aufgelösten Haarknoten am Hinterkopf.

      Die waren einmal richtig braun, denkt sie, als sie ihre langen weißen Haare bürstet. Mit gekonnten Bewegungen zwirbelt sie ihren gesamten Haarwuchs zu einer einzigen dicken Strähne mehrfach um sich selbst und steckt sie am oberen Hinterkopf fest, sodass es sich anfühlt wie ein Knäuel aus feinem Garn.

      „Du bist schon so uralt“, flüstert sie ihrem Spiegelbild mit der Betonung des Mädchens zu. Nicht diese Bemerkung ist es, die Lydia schmunzeln lässt, vielmehr hat sie soeben eine Lücke in all der frühkindlichen Bildung der kleinen Verena entdeckt: Wer so viel weiß, sollte Erwachsene nicht einfach mit Du ansprechen!

      „Ich bin Frau Brause, du kleiner Intelligenzbesen da draußen“, sagt Lydia schnippisch, wenngleich sie sich fragen muss, ob sie sich den Kindern überhaupt vorgestellt hat. Dennoch weiß sie nicht recht, was sie von diesem Mädchen halten soll; ganz geheuer ist ihr das Kind nicht. Andererseits konnte sie Kinder noch nie gut einschätzen, bevor sie nicht ihre persönlichen Erfahrungen mit ihnen gemacht hatte. So wird sie auch bei Verena erst beobachten müssen, wie mit ihr umzugehen ist. Aber das sollte kein Problem darstellen – entweder fügt sich die Kleine oder sie war das letzte Mal hier oben gewesen.

      Lydia greift in das geöffnete Einweckglas und verteilt eine Portion Pflegecreme auf Gesicht und Hals, massiert sie mit kreisenden Bewegungen ein und nutzt den glänzenden Überschuss für ihre Hände.

      Auf ihre glatte Haut war Gustav immer sehr stolz. Seine Frau hatte nie ein kosmetisches Fertigprodukt gekauft, ihre selbstgemischten Tiegelinhalte aus gelber Taubnessel, Bienenwachs und Öl, die viele frische Luft und die Arbeit in der Natur schienen seit jeher bessere Erfolge zu bringen als die Tübchen und Dosen der Vorzeigedamen des Ortes. Lydias gesamte Kosmetik wird aufbewahrt in zwei tassengroßen Gläsern mit Dichtungsgummi und Schnappverschluss – in ehemaligen Wurstgläsern aus dem alten Bestand der Hausschlachtungen.

      So lange sie zurückdenken kann, wurde am Brausehof alles wiederverwertet und weiterbenutzt, indem man es zweckentfremdete.

      So sitzt sie nun alleine auf einer Fülle von gläsernem Leergut, Eimern ohne Henkel und gesammeltem Kleinkram. Den von draußen begehbaren Lagerraum für all die gestapelten Behältnisse, gleich neben dem Wohnhaus, nennt sie seit jeher etwas zynisch 'Antiquitätenkammer', was ihr Schwiegervater Magnus kommentierte:

      „Ihr Verschwender würdet euch umsehen, wenn ihr all das Zeug bei Bedarf kaufen müsstet. Würden wir nach euren Maßstäben wirtschaften, wären wir längst bankrott.“

      Die einzige Plastikflasche, die den Brausehof je aufgesucht hat, stammte von einem Wanderer, der sie achtlos neben der Außenbank liegen ließ. Sie existiert immer noch – als Sammelbehälter für mehrfach benutzte Bratfette, die dann wiederum als Schmierfett eingesetzt wurden. Noch heute wird Lydia dieses ekelhafte Ding entsorgen.

      „Jetzt entscheide ich, was hier wie und wo eingesetzt wird!“, sagt sie mit festem Ton zu ihrem Spiegel-Zwilling, von dem aus die immer noch klaren blauen Augen möglichst konsequent zurückblicken. Sie wird lernen müssen, solche notwendigen Vorsätze ernst zu nehmen, denn noch ist sie nicht aus Überzeugung, sondern nur der Erbfolge nach die alleinige Besitzerin des Brausehofes.

      Unter dem Türspalt am Ende des langen Flures fließt kein Licht hindurch, im Gegensatz zu all den anderen Türen des Wohntraktes. Die Türen des Brausehofes enden allesamt etwa fingerbreit über dem Boden, damit die Holzdielen Platz haben, sich bei Wetterveränderungen auszudehnen.

      „Gute Handarbeit“, merkte Schwiegervater Magnus stolz an, wenn die Brausefrauen ihren Hausputz bewerkstelligt hatten. Die gelobte Handarbeit bezog sich nicht auf das Werk der Frauenhände, sondern auf die selbst geschnittenen und eigens gelegten Bodenbretter.

      Nun steht Lydia vor der Tür des immerdunklen Zimmers. Seit dem Tod von Gustavs Mutter, die ihren Mann Magnus um zwei Jahre überlebt hatte, wurde dieser Raum nur noch zum Lüften und Säubern geöffnet. Hierin hatte Adelinde, genannt Ada, sich zurückgezogen, hier hatte sie geschlafen und hier war sie gestorben. Ihre wenigen Besitztümer schlummern weiter genauso vor sich hin, wie Ada sie mit den Füßen voraus verlassen hat. So nimmt Lydia es jedenfalls an.

      Für Adas Sohn Gustav war diese zuletzt unbewohnte Kammer ein dritter Augapfel. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, zweimal die Woche Fenster und Läden zu öffnen, um frische Luft einzulassen und dieses besondere Erbe zu entstauben.

      Gustav hatte seine Mutter verehrt, wie es ihm das Vaterunser gebot. Für seinen Vater hingegen galt seit dessen verhängnisvoller geäußerten Enttäuschung über einen fehlenden Hoferben keines der Gebote mehr; er hätte dem alten Magnus vermutlich nicht einmal mehr in Lebensgefahr geholfen. Bis heute kann Lydia nicht einschätzen, ob Gustav sich in der eigenen Ehre verletzt fühlte oder ob es ihm um die Ehre seiner Lydia ging.

      Die 'stille Stube', wie Adas Kammer seit ihrem Tod vor dreizehn Jahren genannt wird, ist auch heute noch still. Ihrem Mann zuliebe hat Lydia diese letzte ganz persönliche Erinnerungsstätte – vielleicht sogar Begegnungsstätte zwischen Mutter und Sohn – stets aus Respekt gemieden. So lange Gustav lebte, lebte auch diese Kammer, weil sie geöffnet und betreten wurde. Erst gestern ist Lydia bewusst geworden, dass sie selbst Adas kleines Reich seit dreizehn Jahren nicht mehr betreten hat. Es hat einfach nicht mehr existiert, war tabu für sie wie ein Kellerraum, der für jemanden mit Angst vor Ratten verschlossen bleibt; tabu wie der Austritt durch eine gemauerte Wand. Tabu wie die private Post anderer Personen. Doch diese Wand ist in Wirklichkeit eine Tür zu einem Raum, der jetzt ganz und gar Lydia gehört.

      „Andenken heißt, beim Betrachten von Dingen an jemanden zu denken“, so Gustavs Gebrauchsanweisung für die stille Stube. Als Lydia jetzt zum ersten Mal selbst den Schlüssel vom oberen Türrahmen nimmt und ihn ins Schloss steckt, hält sie inne. „Stimmt, Gustav, Andenken sind da, um betrachtet zu werden. Man kann Andenken aber auch benutzen. Und jetzt lebe ich alleine hier, verstehst du? Ich bin übrig geblieben. Alles, was hier ist, werde einmal ich hinterlassen. Und dann darf es hier ruhig so aussehen, als hätte ich meinen Besitz auch benutzt.“

      Lydias Hand zittert so stark, dass sich sogar ihr Herzschlag anpasst. Bedächtig öffnet sie die Tür zur Dunkelheit, ganz vorsichtig drückt sie die Klinke herunter, immerhin wird sie jetzt eine Art Heiligtum betreten. Obwohl sie im Grunde die geringe Habe ihrer Schwiegermutter aus den Stunden kennt, in denen sie gemeinsam


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