Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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gibt es darüber hinaus auch kaum Erwähnenswertes; man hat sich immerhin täglich gegenseitig beobachten können und hätte sofort erfasst, wenn sich außergewöhnliche Ereignisse abspielten. Sie und ihre Schwiegermutter haben beide ein ähnliches Leben geführt, wurden von ihren Ehemännern geschätzt und verehrt, ebenso selbstverständlich war jedoch auch der tägliche Arbeitseinsatz auf dem Brausehof, und da wäre es beiden Frauen niemals in den Sinn gekommen zu schwächeln oder sich aus der Pflicht zu ziehen.

      „Siehst du, Ada, jetzt bin ich auch eine Witwe. Aber das wirst du wissen, du hast deinen Sohn ja wieder um dich“, sagt Lydia, weil sie irgendein Geräusch braucht, weil die Stille, die aus der stillen Stube dringt, zu still ist. Selbst die Stimmen der Kinder im Hof scheinen auf einmal wie gekappt.

      „Und du, Gustav, bist gerade bestimmt richtig sauer auf mich, was? Aber wenn's brennen würde, wolltest du auch, dass ich hier hineingehe und lösche.“

      Nicht noch an Feuer denken, beschwört sich Lydia, das würde ihr den letzten Funken Mut nehmen. „Ich komm jetzt rein, Ada“, sagt sie stattdessen mit höflich gedämpfter Stimme.

      Der Lichtschalter befindet sich gleich neben der Tür. Es ist ein schwacher Schein, der sich auf die dunklen Möbel legt. Lydia empfindet stärker als vermutet die Bedeutung dieses Augenblicks. Sie hat ja nicht nur vor einzutreten, sondern sie verfolgt damit eine Absicht, die schon jetzt plant, alles hier zu verändern, konkret formuliert,

      zu zerstören.

      Der Geruch verblüfft sie. Er enthüllt unerwartet intensiv das Wesen der einstigen Bewohnerin. Wahrscheinlich ist es das, was Gustav sich mit seinem Alleinrecht bewahren wollte.

      Lydia hat damit gerechnet, dass die stille Stube finster und gespenstisch auf sie wirken könnte. Jetzt, da sie eingetreten ist, vermittelt dieses kleine Reich nichts anderes als Ordnung und Anstand, vielmehr hat es etwas Unschuldiges an sich, etwas Warmherziges wie zu Adas Lebzeiten, etwas, das auf dem gesamten Rest des Brausehofs nirgends zu finden ist. Und Gustav scheint keinen einzigen Gegenstand in seiner Position verändert zu haben. Dennoch fehlt hier etwas Lebensnotwendiges ...

      Lydia eilt zum Fenster, öffnet den ächzenden Rahmen und stößt die Läden mit aller Kraft auseinander, sodass sie zu beiden Seiten gegen die Hauswand schlagen. Augenblicklich strömt reine Waldluft in die stickige Kammer und Lydia saugt genüsslich den vertrauten feuchtgrünen Sauerstoff ein. Dann wendet sie sich dem erhellten Zimmer zu, lässt ihren Blick über die wenigen Möbelstücke gleiten und erstarrt auf der Stelle.

      „Sieh an, ein Eindringling!“, vernimmt sie sogleich Gustavs helle vorwurfsvolle Stimme von der gläsernen Abdeckplatte des Nachttisches her. Lydia hatte ganz vergessen, dass es diese Aufnahme ihres Mannes gibt.

      Es ist das erste Mal, dass sie ihm seit dem vergangenen Herbst wieder in die Augen schaut. Er hatte seiner Mutter das Foto zu deren letztem Weihnachtsfest geschenkt. Damals, als diese Aufnahme gemacht wurde, war Gustav dreiundsechzig.

      Er blickt stark, fröhlich und gesund aus dem braunen Rahmen direkt in Lydias Gesicht, und Lydia drückt die Hand gegen ihren Brustkorb und weiß nicht, ob ihr Herz überhaupt noch schlägt. Sie schließt die Augen, ganz kurz nur, dann lässt sie ihren Blick weiter wandern. Gustavs Foto gegenüber steht ein Bild von Ada. Er muss es im Nachhinein so angeordnet haben, eine Zweisamkeit, die an Einvernehmen nichts entbehrt.

      „Hallo Gustav“, sagt Lydia scheu. Sie ist froh, sich gerade eben noch vor dem Spiegel im Badezimmer aufgehalten zu haben. Dies ist der Moment der ersten Wiederbegegnung, so empfindet Lydia seltsam real. Doch dies soll auch der Moment sein, in dem sie die Karten neu mischt.

      Sie nähert sich den beiden Fotos, zieht ruckelnd die Schublade des Nachttisches auf und wundert sich nicht, dass sie darin genau das vorfindet, was sie erwartet hat.

      Es liegt obenauf, mit der Vorderseite nach unten. Lydia holt es heraus, hält es sich kurz vor die Augen und stellt es liebevoll auf der anderen Seite von Gustavs Foto auf.

      „Das wird dir nicht gefallen“, sagt sie zögernd, doch sie bemüht sich um eine feste Stimme, als sie einen Schritt zurücktritt. „Doch so war es einmal und so solltest du es jetzt wieder annehmen, mein lieber Gustav. Auch dein Vater gehörte zur Familie. Und weißt du, was? In seinen letzten beiden Jahren, in dem ihr euch aus dem Weg gegangen seid, du mehr ihm als er dir, ja, also, was ich damit sagen will: Ich habe heimlich mein gutes Verhältnis zu ihm weitergelebt. Du hast das nicht bemerkt, Gustav, es war wohl das einzige große Geheimnis, das ich je vor dir hatte. Jetzt bist du platt, was? Nein, ich hab euren Hahnenkampf nicht mitgeführt, weil ich nämlich kein Hahn bin, sondern eine sensible Henne. Und deine Mutter, was glaubst du, wie sie gelitten hat, weil ihr Mann und ihr Junge verfeindet waren? Wie sehr hat sie sich nach Harmonie gesehnt. Ada und ich haben zwar nie darüber gesprochen, ich denke, weil wir wussten, dass es sinnlos war und dass es zwischen euch Holzköpfen nichts mehr zu kitten gab. Aber dein Vater hat dieses heimliche versöhnliche Spiel mitgespielt, mir zuliebe, vielleicht auch sich selbst zuliebe. Ich konnte nämlich seine Enttäuschung verstehen. Ein Bauer will einen Nachfolger haben. Einen Sohn und auch einen Enkel. Dass er diese Bemerkung damals fallen lassen musste, ist doch nur menschlich. Natürlich hätte er dir oder uns das unter vier Augen sagen sollen, und nicht an einem vollen Tisch. Aber ich glaube, das muss ich dir jetzt nicht mehr erklären. Jetzt wirst du alles begreifen. Dort oben, wo du bist, wird man wohl keine offenen Fragen mehr haben … Und erst recht keine Wut.“

      Lydia schluckt, ihre Stimme ist immer leiser geworden, doch sie spürt, wie selten gut ihr dieser Monolog getan hat. Sie tritt wieder an den Nachttisch und rückt die drei Fotos noch näher zueinander. Dann legt sie wie segnend ihre Hände darüber, fühlt sich ein wenig wie eine Pastorin: Was Gott zusammengefügt hat …

      Aber was weiß sie schon – vielleicht tanzen die Drei wirklich längst ihren engelhaften Reigen miteinander, ohne dass sie hier unten etwas ahnt.

      Noch einmal langt sie mit den Fingerspitzen nach dem mittleren Rahmen und holt ihn ganz nah zu sich heran. „All das musste längst mal gesagt werden“, flüstert sie und drückt einen Kuss auf das verstaubte Gesicht ihres Ehemannes.

      Nachdem sie Gustav wieder in der familiären Mitte platziert hat, geht sie hinüber zu dem kleinen Tisch an der linken Wand, gleich beim Fenster. Dort liegt ein nicht minder eingestaubtes Buch, das Lydia so oft in den Händen ihrer Schwiegermutter gesehen hatte; wenn sie recht überlegt, viele Jahre lang, und in den letzten zwei Jahren als Witwe hatte Ada sich fast nur noch damit beschäftigt. Ein Buchtitel, den Lydia im Grunde der stillen, nach innen gekehrten Frau recht gut zuordnen konnte: 'Über allem die Harmonie', von einer Schriftstellerin namens Edda Zirbel, und vorn auf dem Umschlag eine biedere Dame mittleren Alters mit reinweißer Bluse und langem schwarzen Rock, milde lächelnd in einem hohen Sessel sitzend. Ein recht dickes Buch, das sich von selbst aufschlägt, weil zwischen den Seiten ein fein gehäkeltes Lesezeichen klemmt. Wahllos tippt Lydia mit dem Zeigefinger auf eine Stelle im Text, um Adas Lesemoment nachzuempfinden: „...denn nichts ergibt sich genau so, wie man es erwartet hat. Was am Ende zählt, sind die Momente, in denen wir geliebt haben. Doch die Liebe setzt innere Harmonie voraus. So ist die Harmonie einer der erstrebenswertesten Zustände in Anbetracht all der Machtkämpfe und Zerwürfnisse unter den Menschen und Nationen ...“ Lydia schüttelt mit dem Kopf. „Wie sehr wirst du unter dem Zwist deiner beiden Männer gelitten haben, dass du dich mit solchen Buchtexten beschäftigt hast?“

      Ihre Schwiegermutter muss dieses Buch mehrmals gelesen haben, denn immer wieder bezeugen kleine Pfeile nach vorn oder hinten über gekräuselt markierten Textstellen, dass hier ausgiebige Kopfarbeit geleistet wurde.

      Lydia selbst hat nie viel gelesen. Die wenigen ruhigen Momente am Brausehof hat sie mit anderen Dingen gefüllt. Da war es schon mehr Gustav, der sich hier und da mit seinen kleinen Gedichtbänden befasst hat. Vielleicht hatte er diese Neigung von seiner Mutter geerbt?

      Was Ada auch mochte, war kleiner glänzender Zierrat, silber- und goldfarbene Kerzenhalter und Schalen, winzige Mokkatassen …

      Lydia fällt ein, dass genau die perlmuttfarbenen Tässchen in der Küchenvitrine es waren, die ihr erst gestern den Impuls beschert haben, die stille Stube am Ende des Ganges zu


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