Die stille Stube. Christiane Fuckert
ist dein Grinsen, was da gerade vorbeifliegt, stimmt's? Du bist gar nicht aufgebracht über meine Standpauke. Du bist derjenige, der diesem Umschlag den Weg zu mir gezeigt hat.“
Die Wolken wandeln ihre Form, wie Lydia ihnen entnimmt, zu einem breiten schlafenden Gesicht und sind im nächsten Moment in der rechten Fensterecke verschwunden.
„Wie du meinst, dann mach dich halt aus dem Staub. Dir sind solche Dinge ja egal, du willst nicht, dass ich dich damit noch belästige. Hast ja recht, mit alldem hast du nichts mehr zu tun. Aber ich, Gustav, ich bin noch hier, ich kann nicht einfach wegsehen und davonfliegen wie ein Luftballon.“
Lydias kurz erwachte Lebenslust zieht sich zurück, dahin, wo sie nicht bewusst abgerufen werden kann. Sie betrachtet ihre Bäuerinnenhände mit der pergamentdünnen Haut über dem hervortretenden Adergeflecht, beobachtet wie ein neutraler Zuschauer, wie diese Hände die Geldscheine sorgfältig einsammeln und sie gewissenhaft in der Zigarrenkiste im Kleiderschrank verstauen. Nur der symbolhafte Zwanziger verbleibt in der Küche, gut sichtbar eingeklemmt zwischen dem Schiebeglas ihrer Vitrine, durch die das Perlmuttservice ihrer Schwiegermutter schimmert.
Beim Anblick der zierlichen Mokka-Tässchen wird Lydia von einem Gedanken regelrecht geflutet, so spürbar klar, dass ihr Herz einen Satz macht und sie sich nichtmal mehr über die eigene sauber melodische Singstimme wundert, mit der sie ihren Fensterputz fortsetzt. Immer noch summend nimmt Lydia sich auch den Rest der Küche vor, hängt dabei fasziniert und zugleich schuldbewusst ihrer Idee nach.
Sie isst ihr Nachmittagsbrot, spült ihren Teller und das benutzte Messer ab, bürstet vor dem Haus Wotans Fell durch und kann sich endlich überwinden, die beiden kleinen Fressnäpfe von Marschall zu entsorgen. Hier neben der Bank haben sie nichts mehr zu suchen, es gibt keinen Kater mehr, genauso wenig, wie es auf diesem Hof noch einen Bauern gibt. Nur Marschalls Schlafkorb will sie aufbewahren – eine Erinnerung an ihren treuen Hofkater muss ihr verbleiben.
Die Arbeit hat Lydia nun fest im Griff, die resoluten Bewegungen tun ihr gut. Sie reinigt das Hühnergehege inmitten der gurrenden Schar des Federviehs. Und immer wieder reibt sie sich zwischendurch die Augen hinter den Brillengläsern und lässt ihren Blick über das Panorama aus türkisgrünen Tannenspitzen und sattem Himmelblau schweifen. Genau das ist es, denkt sie dann jedes Mal, genau das wird einen Teil meiner Seele heilen.
Es wird ein paar Tage brauchen, bis sie es sich erlaubt, die Tür am Ende des Wohntraktes zu öffnen, aber wer sonst, wenn nicht sie hat das Recht dazu? Und wann, wenn nicht jetzt sollte sie sich dieses Recht nehmen? Es wird Mut erfordern, das ist gewiss, aber wenn sie den erst gefasst hat, wird sie sich fragen, warum sie diesen Mut nicht schon vorher hatte, eben weil genau das schon so lange ihr Recht war …
Lydias Gedanken schlagen Purzelbäume, Rolle vorwärts, Rolle rückwärts, und dazwischen jedes Mal einen Salto der Zuversicht. So lange, bis sie spätabends in ihrem Bett liegt, todmüde von der Arbeit des Tages und immer noch überwältigt von ihrem Vorhaben. Doch immer, wenn sie glaubt, wohlig mit der Matratze zu verschmelzen, zieht ein Film wie ein giftiger Faden durch ihre Träume: die Bilder ihres verletzten, leblosen Katers, den sie an den Hinterbeinen vor sich hält, um ihn in seine kleine Erdgrube zu betten.
„Marschall, flieg zu Papa und lass dich trösten, er hat jetzt sehr viel Zeit für dich.“
Kapitel 9
Vom Weg wehen Geräusche zum Hof herüber, die wie Kinderlachen klingen.
Spaziergänger, mutmaßt Lydia, Fremde, die gleich hier auftauchen, weil die Linksabzweigung einladender aussieht als die Fortsetzung des Waldweges.
Sie sitzt auf der Bank neben der Haustür, hat schlecht geschlafen letzte Nacht. Marschall hatte nicht wie geraten den Weg zu Papa gesucht, sondern sich ununterbrochen mit seinem kläglichen Miauen an Lydia gewandt. Mehrmals war sie aufgestanden und hatte das Fußende des wuchtigen Ehebettes umrundet. Immer hin und her, in der Hoffnung, dieser Trott würde eine angenehme Müdigkeit über sie breiten. Stattdessen stellten sich die wirrsten Gedanken ein.
Vielleicht lag es aber am Vollmond, der durch die abgebrochene Latte des Fensterladens seinen silbrigweißen Schimmer gespenstisch in die Schlafstube warf und einen unnatürlich hellen Streifen auf Lydias Bettdecke zeichnete. Irgendwann hielt sie die Stille und die knarzenden Bodenbretter ihrer stummen Wanderung nicht mehr aus. Sie drückte eine Wolldecke von innen gegen den Lichtschacht über der Fensterbank und verkroch sich tief unter ihrer Bettdecke.
„Der Fensterladen müsste repariert werden, Gustav, am besten wäre ein neuer“, murmelt sie mit dumpfem Ton in ihre Armbeuge hinein. „Das Holz vom Laden ist angefault. Aber kein Wunder, bei all dem wilden Gestrüpp am Haus. Die ganze hintere Wand ist feucht. Das war sie aber schon lange, und das weißt du.“
Wie sie sich doch an ihre Monologe gewöhnt hat! Früher hätten Selbstgespräche am Brausehof für Irrsinn gestanden; niemand hätte es gewagt, in einem leeren Raum vor sich hin zu plappern. Mittlerweile ist Lydia zu der Erkenntnis gelangt, dass laut ausgesprochene Gedanken überlebenswichtig sind. Sie ist nicht stumm und auch nicht taub geboren, sie braucht den Klang der eigenen Stimme, damit die Welt um sie herum mit Leben gefüllt wird.
„Du merkst schon, dass ich dir immer noch böse bin. Eigentlich sollte ich bei all den schlimmen Umständen ja dankbar sein für deinen Leichtsinn und den Dickschädel. Wut tut gut. Denn sobald die Wut nachlässt, setzt die Trauer ein. Und ob ich mit der allein fertig würde, kann ich nicht beurteilen. Weil es nämlich gerade die Wut auf dich ist, die mich aufrecht hält. Wir haben noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen, Gustav, und mir kommt es vor, als hätte ich noch einen wichtigen Termin im Leben. Nicht mit dir, sondern wegen dir – für mich. Für meinen Ruf, den ich in der Welt hinterlasse. Aber ich will dir was verraten: Wenn es mich überkommt und ich dich zu arg vermisse, sage ich mir, dass bei jedem von uns längst der Augenblick feststeht, wann wir uns von der Welt verabschieden müssen. Und wenn man davon ausgeht, dass dir im letzten Herbst eh dein Stündlein geschlagen hatte, wäre ich jetzt sowieso allein, ob mit oder ohne dein Zutun. - Ein verqueres Denken ist das, Gustav, ich weiß, aber das musst du nicht verstehen, für dich sind solche Grübeleien nicht mehr von Belang. Es genügt, wenn ich selbst damit irgendwie zurechtkomme.“
Solch ausführliche Kopfarbeit führt meist dazu, dass sich eine erschöpfte Schläfrigkeit einstellt, anders, als nach körperlicher Anstrengung. Auch jetzt fühlt Lydia, wie alle Kräfte sie verlassen und sie nur noch abschalten will. Die Stimme ihres Mannes zieht sich wie im Protest durch ihre Gedankenfetzen und auch der Kater scheint unentwegt mitmischen zu wollen. Lydia öffnet die Augen, macht sich bewusst, dass sie alleine in ihrem Schlafzimmer liegt und reibt sich die Schläfen.
„Jetzt gib Ruhe, Gustav, und du auch, Marschall! Nicht nur ihr, auch ich brauch mal Schlaf.“
Wenn sie früher nachts unruhig war, kam es vor, dass ihr Mann das bemerkte. Dann zog sein Arm sie an sich, ohne dass er selbst dabei richtig aufwachte. Und sie drückte das Gesicht in seinen Nacken und lauschte seinen äußerst geräuschvollen Atemzügen, bis sie wieder eingeschlafen war.
Jetzt, da sie alleine in dem großen Bett liegt, packt sie stattdessen sein gerolltes Federkissen und schlingt ihren Arm darum, entlastet somit gleichzeitig ihre verkrampften Schultern, und sollte sie diese Haltung zufällig bis zum Morgen bewahren, erwacht sie ohne den üblichen Spannungskopfschmerz.
An diesem Morgen jedoch will das dumpfe Pochen nicht nachlassen. Es steigert sich, je länger ihr Blick über das wildwüchsige Gestrüpp zwischen den Pflastersteinen um sie herum gleitet. Es drückt dem gesamten Brausehof einen verwahrlosten Stempel auf. Wozu aber soll sie hier noch Ordnung schaffen, und vor allem: für wen? Bestimmt nicht für die Augen der fremden Spaziergänger, die sich soeben dem Hof nähern, wie Lydia entnimmt, allen voran eine plappernde Kinderschar.
Der Appenzeller hat sich längst breitbeinig und mit wachsamen Augen vor Lydias Bank aufgebaut. Doch eine zusätzliche körperliche Reaktion des Hundes lässt Lydia stutzen: Wotans Rute bewegt sich immer stärker hin und her. Ihr Hund wedelt eigentlich nur bei vertrauten Klängen und Gerüchen, es muss sich jemand nähern, der