Die stille Stube. Christiane Fuckert
ich brauche einen Fürsprecher, das ist ja alles kaum mehr auszuhalten“, klagt Lydia laut vor sich hin, und ihre Hände scheinen für einen Moment zu schwach, das Lenkrad zu umfassen. Selbst das Aufblitzen der Sonne zwischen den Wolken scheint sie warnen zu wollen. Sie sehnt sich zurück auf ihren Hügel. Doch dort wartet auf dem Küchentisch noch immer dieser bedrohliche Umschlag …
Mit einem Mal hat Lydia das Gefühl, ihre Nahrung vom Morgen von sich geben zu müssen. Sie gelangt gerade noch aus dem Ort heraus, um anzuhalten, vom Traktor zu klettern und sich über den Seitengraben zu beugen.
Es ist merkwürdig ruhig, nachdem Lydia den Schlüssel aus dem Zündschloss gezogen hat. Sie parkt genau vor ihrer Haustür. Wotan passt sich ihrer Reglosigkeit an. Selbst Mozart sitzt auf seiner Stange wie ausgestopft. Ob wieder jemand hier war? Jemand hier ist?
Sie verspürt nur noch das Bedürfnis, sich auf dem Sofa auszustrecken und ihre Gedanken zu sammeln. Doch bis dahin gilt es, alle Kräfte zu bündeln. Sie steigt ab und späht um sich. Rasch befreit sie den Hund von den Gurten des Trittbretts.
„Such, Wotan, such!“ Wer immer sich momentan in der Nähe aufhält, wird sich nun reflexartig bemerkbar machen, mutmaßt sie und trägt auf wackligen Beinen ihre Einkäufe in die Küche.
Der Brief liegt mitten auf dem Tisch – mit den Knitterfalten sieht er aus wie ein grinsendes Maul. Im nächsten Moment hat Lydia den Umschlag vom Tischtuch gefegt. Sie weiß nicht einmal, wo er gelandet ist.
„Ich bin alles so leid, Gustav! Worauf soll ich denn noch hinleben?“, keucht sie, während sie den schweren Einkaufskorb auf einen Stuhl wuchtet, damit sie sich beim Ausräumen nicht bücken muss.
Gemeinsam mit ihrem Mann waren die Einkaufsfahrten wie Ausflüge. Mittlerweile ist jeder Einkauf ein einziges Spießrutenlaufen, allein und völlig ungeschützt.
„Gustav, du sorgst dafür, dass ich von jedem Verdacht reingewaschen werde! Hast du gehört? Das ist ein Befehl. Der erste, den ich dir in unserer gesamten Ehe erteile. Und lass mich umgehend wissen, wie ich deinen Grabstein finanzieren soll! Das Geld vom Sparbuch lasse ich aufs Konto überschreiben, damit was da ist für all die Rechnungen für Haus und Grund, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe. Die lassen sich ständig etwas einfallen, um mich zu schröpfen, wer weiß, ob das alles seine Richtigkeit hat. Der elektrische Strom ist teurer geworden, aber den zahl ich gerne, bin ja froh, dass die Leitungen über unsern Berg führen.“
Die Mittagssonne hat ihren Weg in die Küche gefunden. Die Fensterscheiben sind beinahe blind, einzig die Schlieren ihrer Finger aus der Stunde nach dem Unwetter unterbrechen die Trübung des Glases. Wotan, als Silhouette im Gegenlicht, steht wedelnd vor ihrem Stuhl und scheucht Staubfahnen durch die Luft.
Lydia muss niesen. „Wir ersticken im Mief“, sagt sie weinerlich zu dem Hund. Ihr Blick wandert hinüber zur Eckbank, zu Gustavs leerem Platz, gewiss zum tausendsten Mal seit dem letzten Herbst, und die Verzweiflung saugt ihr die Kraft aus dem Leib. Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. „Entweder meiden wir künftig die Küche oder wir verscheuchen die Erinnerung und räumen um!“
Die Konsequenz in ihrer Stimme lässt den Appenzeller innehalten und die Ohren aufstellen. So zumindest deutet Lydia einstweilen Wotans Haltung. Als ihr das Tier jedoch im nächsten Moment die Kehrseite zuwendet und knurrend hinausläuft, weiß sie, dass Gefahr im Verzug ist. Augenblicklich scheint sie zu versteinern, unfähig zur geringsten Bewegung. Nur ihr Gehör nimmt noch Anteil an dem, was sich vor dem Haus abspielt.
Sie wohnt lange genug in diesem Gebäude, um die Geräusche im und ums Haus herum entschlüsseln zu können. Das stumpfe Schaben auf dem Pflaster rührt von Schuhen, von kurzen, zielstrebigen Schritten. Dann ein Rascheln, ein leises Poltern, das darauffolgende Winseln ihres Hundes, ein weiterer Polterschlag, und dann Totenstille. Wenn soeben jemand ihren Hund ausgeschaltet hat, kann sie froh sein, ihr eigenes Leben zu behalten. Aber ein Leben ohne Wotan, hier oben ganz allein?
Das nächste Geräusch, das zu ihr in die Küche dringt, ein Laut von quietschenden Eisenfedern, bringt Leben in ihre erstarrten Gliedmaßen. Sie stößt sich vom Tisch ab, rappelt sich auf die Beine und schleicht wie ein Einbrecher durch den Hausflur. Langsam schiebt sie den Kopf am Türrahmen vorbei, ihre Augen fliegen über den Vorhof. Wenn man ihr den Lanz stehlen will, bitte sehr! Auf ihn kann sie verzichten. Nur sollte ein Dieb sie selbst nicht unbedingt zu Gesicht bekommen.
Ruckartig zieht sie den Kopf zurück, mit der bangen Frage im Hinterkopf, wo in dem Fall dann aber ihr Hund abgeblieben ist …
Erneut reckt sie den Hals, so weit, dass ihr Blickwinkel die großen Hinterräder des Traktors erfasst. Umgehend atmet sie durch, tief und befreit. Das Bild, das sich ihr bietet, ist an Einklang nicht zu übertreffen: Der Appenzeller liegt auf dem Trittbrett des Traktors und gleich über ihm thront in der Fahrerschale der Junge. Auf beiden Mienen liegt ein Ausdruck des Triumphs: Der Junge hat, was er will, und ihr Hund glaubt, es gehe wieder auf große Fahrt. In der Tiefe ihres Herzens ist sie erleichtert und gönnt beiden den Genuss des Augenblicks. Doch solche Gefühle sind ihr nicht mehr erlaubt, wenn sie klare Verhältnisse bewahren will. Der Kloß in Lydias Hals fliegt zugleich mit ihrer schrillen Stimme über die gesamte Umgebung.
„Was fällt dir denn ein?! Mich so zu erschrecken! Runter da, sofort!“ Sie betont jede Silbe, denn sie hat kaum mehr die Kraft, sich zu wiederholen. In Strümpfen steht sie auf dem kalten Steinboden und wartet darauf, dass das Zittern ihrer Knie nachlässt.
„Das ist ein toller Traktor!“, entgegnet der Junge, als hätte es Lydias Befehl nie gegeben. „Fahren wir denn jetzt mal ein Stück und ich darf lenken?“
Diese Kinderstimme klingt etwas zu tief, denkt Lydia, und die Vorderzähne sind zu groß. Seine Haare wirken ungepflegt und der bunt geringelte Pullover mit den Goldknöpfen am Ausschnitt wurde dem Jungen offenbar von einem Mädchen vererbt.
Dass sie plötzlich nachgibt, mag an dieser vernachlässigten Aufmachung liegen oder an der Gewissheit, dass hier nichts Schlimmes im Gange ist.
Vielleicht spielt aber auch ein eigennütziger Gedanke mit, als sie sagt: „Na gut, dann verhalt dich ruhig, ich zieh mir die Schuhe an.“ Sie wirft einen letzten tadelnden Blick auf den Jungen, der nun mit speckigen angespannten Fäusten erwartungsvoll nickt. Auch Wotan erhält ein stummes Kopfschütteln von ihr, bevor sie sich im Hausflur ihren Arbeitsschuhen zuwendet.
Während ihr Gehirn in gebeugter Haltung gut durchblutet wird, nistet sich unter einem Lächeln eine befreiende Idee ein, die ihr auf der Stelle neue Kraft verleiht.
Kapitel 6
Die Wangen des Jungen sind tiefrot, der Stolz springt ihm aus jeder Pore.
Lydia kennt nun seinen Geruch nach Schmutz und Knabenschweiß. Er hat keine Ruhe gegeben, bis er den Traktor von ihrem Schoß aus über den Hof in den Flachdachschuppen gleich neben der Scheune lenken durfte.
Das war eindeutig zu viel Nähe. Ein fremdes Kind, so eng an ihren Körper gedrückt, so etwas braucht sie nicht. Doch nun ist sie dem Jungen entgegengekommen, dafür wird auch er ihr bei einigen Dingen behilflich sein.
Wie viel Zeit seit ihrer Rückkehr vergangen ist, kann sie nur schätzen – es dürften noch keine zwanzig Minuten vergangen sein. Dieser Bengel ist gut zu Fuß, er hat den Weg zu ihr hinauf mit seinen kurzen Beinen erstaunlich schnell zurückgelegt.
Im Traktorschuppen wendet er sich erst von dem alten Lanz ab, nachdem er ihn mehrmals umrundet und genau begutachtet hat.
„Was ist hinter der Gardine?“, will er jetzt wissen.
Lydia seufzt. Sie hat sich den Übergang von den Interessen des Kindes hin zu ihren eigenen zügiger vorgestellt. Ihr Blick folgt dem kurzen, pummeligen Zeigefinger. Die Gardine, auf die er zeigt, ist der Sackvorhang zum Geräteschuppen. Nun, warum nicht? Sie selbst hat diesen abgetrennten Bereich des Schuppens seit Gustavs Tod nur noch selten betreten. Zu viele Erinnerungen an bessere Zeiten. In Begleitung dieses wissbegierigen Jungen aber könnte es ihr leichter fallen, den Kontakt zur Vergangenheit wieder