Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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ist nichts mehr zu machen, mein Guter“, sagt Lydia, indem sie den geknickten Flügel der erstarrten Amsel zwischen zwei Finger packt und damit ums Haus herum schlurft. An der Rückseite des Wohntraktes endet der Privatbereich des Brausehofes, zumindest vom Interesse her, wenngleich das Stück unbearbeitetes Land noch dazugehört. Hier hat man die Natur allezeit sich selbst überlassen. Farne und Gräser reichen meterhoch, und ein paar alte Tannen halten die sommerliche Glut der Südseite vom Haus entfernt.

      Lydia legt den toten Vogel ins Gras. Soll der Fuchs ihn holen – auch das regelt die Natur von selbst.

      Wieder nimmt Wotan intensive Witterung auf. Es ist jemand hier gewesen, folgert Lydia erneut, vielleicht bekommt sie gleich einen Schlag auf den Kopf, wer weiß ...

      Solche beklemmenden Situationen sind ihr nicht unbekannt. Wenn man alleine in der Wildnis lebt, weit abseits jeder menschlichen Siedlung, wird man irgendwann selbst zu einem Teil des Waldes. Wenn man dann noch dasselbe Pech hat wie die linke Tanne, die schräg auf dem Scheunendach liegt, ist man selbst auch ganz schnell ein gestürzter Baum, dem es die Lebenskraft mitsamt den Wurzeln ausreißt.

      „Siehst du, Gustav, dein Vater hatte recht: ‚Eines Tages werden uns die Tannen so nah beim Haus zum Verhängnis.’ Du hast dich durchgesetzt, hast erst letzten Sommer noch gesagt, das Ozonloch lässt mit den Jahren die natürlichen Schattenspender immer kostbarer werden ... Jetzt kannst du entscheiden, was kostbarer ist: der Baum oder unser Dach ... Aber was muss dich das noch kümmern ...“

      Der hohe Flurspiegel, den Gustav stets ‚Lügner’ nannte, weil er den Betrachter lang und unterernährt wiedergibt, bringt Lydia dazu, über sich selbst zu lachen. Bevor ihr draußen jemand etwas zuleide getan hätte, wäre er selbst geflüchtet. Sie sieht aus wie ein geschundener Geist. Das Nachthemd ist nass und schmutzig von den Waden bis hinauf zur Hüfte. Ihr offenes weißgraues Haar hängt in langen Strähnen auf ihren Schultern, die Brille ist befleckt und ihre Nasalfalten wirken in dem Zerrspiegel wie Narben von Axthieben.

      Ehe ihr herausrutschen will: „Gustav, dreh dich weg, sieh nicht hin!“, verschluckt sie diese Äußerung lieber. Am besten macht sie gar nicht erst auf sich aufmerksam, vielleicht beschäftigt er sich ja noch mit der umgestürzten Tanne hinterm Haus.

      Kapitel 4

      Das kurze Gespräch mit dem Förster hat Lydia seltsam aufgewühlt.

      Sie fragt sich, ob es daran liegt, dass sie so unverhofften Kontakt zu einem Menschen hatte oder ob es insbesondere dieser Mensch war, der ihr noch im Nachhinein zusetzt, weil er ein Freund ihres Mannes war.

      Nichts von alledem ist der Grund für diesen Gemütszustand, so findet sie selbst heraus, nein, es liegt daran, dass sie den Förster mit all ihren Antworten belogen hat, denn er hatte mit seinen Fragen das Wesentliche genau auf den Punkt gebracht:

      Ja, sie könnte Hilfe gebrauchen. Ja, es hat einen Schaden gegeben. Und ja, sie benötigt dringend bestimmte Dinge aus dem Ort.

      Wie einfach wäre es gewesen, sie hätte ihm eine Einkaufsliste mitgegeben. Wie wertvoll, wenn sie mit ihm gemeinsam das Loch im Scheunendach entdeckt hätte.

      Er hätte es sich nicht nehmen lassen, ihr mit der Reparatur und dem nassen Heu zu helfen, allein der Anstand hätte ihm das geboten. Vielleicht hätte er sogar gewusst, ob der Schaden ein Fall für die Versicherung ist, immerhin gehört solch ein Vorfall zu seinem Beruf.

      „Wotan, wir fahren runter ins Tal!"

      Der Appenzeller ist aufgesprungen und blickt zu Lydia empor. Kurz hält seine Rute inne, als warte er auf eine Erklärung, eine Übersetzung des aufscheuchenden Tonfalls mit zumindest einem hundeverständlichen Begriff.

      Lydia muss lachen. „Ja, du hörst richtig, wir fahren", wiederholt sie überdeutlich, „mit dem Bulldog!"

      Ob das knatternde Vehikel noch anspringt? Sie hat seit gewiss zwei Monaten den Anlasser nicht betätigt. Aber zuvor will Lydia Schränke, Vorratskammer, Kühlschrank und Tiefkühlfach inspizieren – und natürlich ihre Geldreserven in der Zigarrenkiste.

      Während sie murmelnd vor sich hin werkelt, bleibt sie nicht unbeobachtet. Und als sie schließlich die Haustür öffnet, jagt Wotan sogleich voraus zum Traktorschuppen. Die Verbindung muss er hergestellt haben, als sie ihr Portemonnaie in den großen Einkaufskorb gelegt hat. Und so selten das geschieht, ist es jetzt kaum verwunderlich, dass für ihn zu diesem Zubehör auch der Traktor zählt.

      „Du alter Schlaukopf, du wirst mir auch noch eine Verbindung zu der Zigarettenkippe auf dem Pflaster herstellen", sagt sie guter Dinge.

      Beim vierten Versuch springt der froschgrüne Lanz mit den gelben Felgen an.

      „Aus dem Weg, Wotan!" Lydia spürt uralten Empfindungen nach, als sie gekonnt den knatternden Traktor aus dem Schuppen bis vor das Wohnhaus steuert.

      So sah Gustav sie gern: hoch oben auf dem wippenden Sitz, seine 'Königin der Felder'. Niemand beherrschte dieses Gefährt angeblich so gut wie seine Lydia.

      „Ich wäre auch zu noch mehr lernfähig gewesen, Gustav, du hättest mir ebenso gut das Alleinleben beibringen können, die Selbstständigkeit. Diese Lektion haben wir leider übersprungen."

      Wieder bleibt ihre lautstarke Bemerkung nicht unbeantwortet. Wotan bellt fragend und ungeduldig.

      „Gewöhn dich mal daran, dass du nicht der einzige bist, mit dem ich mich noch unterhalte. Soll dein Herrchen dort oben ruhig ständig die Ohren spitzen, ich hab ihm immer noch jede Menge zu sagen." Am Anfang hatte Lydia sich schwer getan mit ihren einseitigen Gustav-Gesprächen und sich gefragt, ob sie wirklich bei ihm ankamen. Doch nach und nach gehörten sie zu ihrem Tag dazu, bis sie schließlich nichts Ungewöhnliches mehr darin sah und beschloss, sie so lange weiterzuführen, bis ihr jemand das Gegenteil beweisen konnte.

      Der Motor brummt sich aus und Lydia setzt ihre Füße zuerst bedacht auf das Trittbrett, bevor sie ganz absteigt. Früher ist sie einfach gesprungen, mit einem schwungvollen Satz aus der Sitzschale heraus gleich nach hinten auf den Erdboden. Damals gab es noch kein Steigbrett, das hat Gustav erst vor ein paar Jahren für ihrer beider alternde Gliedmaßen zwischen den Hinterrädern angebracht. Ein Auto wurde längst nicht mehr benötigt; die wenigen Fahrten hinunter ins Tal oder in nahegelegene Ortschaften waren gut mit dem Lanz zu bewältigen. Und die Kanister mit Diesel wurden stets aufgefüllt bereitgehalten.

      Gerade will Lydia das Haus betreten, um sich für diese seltene Ausfahrt umzuziehen, als sie beim Anblick ihres Hundes innehält. Wotan setzt da an, wo ihre Gedanken noch vor wenigen Minuten waren: Mit der Nase auf dem Boden nimmt er eine Spur auf, ausgehend vom Fundort der Zigarettenkippe. Bis zur Tür der Voliere.

      „Was gibt es da, Wotan?", fragt Lydia bange. Langsam nähert sie sich dem Außenkäfig. Es wird doch niemand ihrem Vogel etwas zuleide getan haben? Er war doch am Morgen noch quietschfidel ... Sie hat Mozart doch gefüttert, erst nachdem sie den Zigarettenstummel entdeckt hat ...

      Mozart sitzt hellwach auf seiner Lieblingsstange und hebt das Köpfchen, als sie am Gitter steht. Doch Wotan bellt weiter, bellt nach oben. Lydias Blick folgt seiner Schnauze.

      „Wie kommt das denn dahin?" Zögernd greift sie nach der kleinen Papierrolle zwischen den Gitterstäben. „Das war kein Tier, hier muss ein Mensch gewesen sein", folgert Lydia, und ihr fällt auf, dass ihre entsetzte Betonung mittlerweile die 'Menschen' gleichsetzt mit ungewöhnlichen Erscheinungen.

      Auseinandergefaltet erweist sich der Fund als ein kleiner Briefumschlag. Mit einem ganzen Stapel kompakt gefalteter Seiten darin, wie ihr Tastvermögen registriert.

      Keine Einzelperson hat ihr so viel zu schreiben. Hier wird sich der halbe Ort zusammengetan haben, um ihr die Meinung zu sagen.

      Mit aufgerichtetem Rücken und erstarrter Miene verharren ihre Finger auf dem geblümten Wachstuch. Wie von den verblichenen Streublumen im Muster der Tischdecke eingerahmt, liegt der zerknitterte Umschlag in sicherer Entfernung.

      Wäre es ein Päckchen,


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