Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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die zwei staubigen Säcke auseinander und ist dahinter verschwunden, noch bevor Lydia es ihm erlauben kann.

      „Ich seh nicht viel. Machst du das Licht an?“, vernimmt sie die leicht heisere, tiefe Kinderstimme von der anderen Seite.

      Wie selbstverständlich doch heute der Knopfdruck für die Jugend ist, denkt sie ein wenig schadenfroh. „Es gibt kein Licht. Wenn du mehr sehen willst, musst du das Stroh aus dem Loch in der Wand herausholen.“

      Das hatte sie schon lange vor, warum nicht auch hier die kindliche Neugier nutzen?Sie verlässt den Schuppen, um zufrieden festzustellen, wie nach und nach das zugestopfte Fenster von innen her freigezupft wird. Selbst ihr Hund, der dem Jungen bisweilen an den Fersen geklebt hat, meidet den staubigen Schuppen und liegt stattdessen lieber draußen auf dem Pflaster. Sobald sich die Geräteecke mit Sauerstoff gefüllt hat, wird sie mit Wotan nachkommen und alle leidlichen Fragen beantworten. Vielleicht wird ihr eine Unterhaltung mit einem so unbedarften Gesprächspartner sogar guttun.

      „Du kannst reinkommen, ich bin fertig!“, ruft der Junge. Es ist die günstigste Tageszeit für die Lichtverhältnisse in diesem Teil des Schuppens. Durch das Loch in der Außenwand fließt ein breiter Sonnenstrahl ins Innere, genau auf die lange Wand mit dem Haltegestell und den unzähligen Aufhängern. Schon Gustavs Vater hatte es als junger Bauer dort angebracht, um die Geräte für den landwirtschaftlichen Bedarf übersichtlich aufzubewahren.

      In der linken Ecke hängt das Milchgeschirr, verbeulte Eimer, die sie als junge Frau so gern auf Hochglanz brachte, damit sie gefüllt und auf der zweirädrigen Karre, angehängt an Gustavs Moped, ins Dorf hinunter gebracht werden konnten.

      „Ist das ein Schirmständer?“, unterbricht der Junge ihre Gedanken.

      „Nein, ein Käsefass. Darin wurde Quark geknetet. Und das hier ist eine Käsepresse.“

      Es geht ganz schnell, stellt Lydia erstaunt fest, die Bilder der Erinnerung formen sich hier drinnen wie von selbst. Sie sieht ihre Schwiegermutter mit blaugestreifter Schürze stampfen und kneten, die Haare unter einem streng geknoteten Kopftuch verborgen, auf der Stirn feine Schweißperlen, die in die milchige Masse tropfen …

      „Und das Ding da? Es hat nur ein Rad, fehlt da eins?“

      „Nein, das ist eine handgesteuerte Sähmaschine. Schau, so wurde sie gehalten.“ Der schmale gerundete Griff fühlt sich in Lydias Hand wie Spielzeug an. Es muss Jahrzehnte her sein, dass sie dieses Teil geführt hat.

      „Ist das hier ein Dosenöffner?“

      „Gib mal her. Das ist eine Tätowierzange für Schweineohren. Und mit dieser kleinen Säge hat der Bauer den Kühen die Hörner gestutzt.“

      Der Junge nagt aufgeregt an seinem Daumennagel und tritt von einem Fuß auf den anderen. „Darf ich das alles mal anfassen? Ich will nämlich auch Bauer werden.“

      Er schaut Lydia mit hochgezogenen Brauen und gekräuselter Stirn an, als würde er sich bereits auf die verneinde Antwort einstellen. Doch Lydia nickt. Was soll er schon kaputt machen? Indes hat sie die Gelegenheit, sich ungestört auf die Bilder einzulassen, die in ihren Gedanken aufziehen wie Filme aus vergangenen Zeiten.

      Der gelbschwarze Schlauch in der rechten Ecke, immer noch ordentlich um die Führung geschlungen, sie wird ihn ausrollen und zum Auffüllen des fahrbaren Wassertanks für die Kühe benutzen. Warum ist sie darauf nicht früher gekommen? Jeden Tag unzählige Male hin und her laufen mit gefüllten Eimern – ihr Verstand scheint immer noch nicht richtig mitzuarbeiten.

      Ihr kommt ihr erster Morgen als frischgebackene Ehefrau in den Sinn – mit solch einem Schlauch hatten sie und Gustav die Hinterteile der Kühe abgespritzt. Ihr Mann hatte ihr zugezwinkert, als er mit Schalk in der Stimme verkündete: „Und jetzt schminken wir sie!“, und er rieb die Euter mit farbiger Vaseline ein. „So zeugen sie für beste Gesundheit“, hatte er erklärt und mit ernster Miene hinzugefügt: „Nur an euch Frauen mag ich keine Schminke, im Gegensatz zu Kühen seht ihr damit krank aus. Scharlachlippen, Fieberbäckchen und Prügelaugen.“ So lange Lydia zurückdenken kann, hat sie nie einen Lippenstift aufgetragen oder sich Wangen und Augen angemalt.

      „Nie! Dir zuliebe. Und was machst du? Bringst dich mit deinem Leichtsinn selbst ins Grab!“

      Der Junge gleich neben ihr lässt erschrocken die Rübenzange fallen, die er gerade untersucht hat.

      „Du bist nicht gemeint“, gibt Lydia kühl zu verstehen. Sie weiß, wie hölzern sie mit diesem fremden Kind umgeht, und sie weiß ebenso, dass sie es nicht besser kann. Er ist einer von denen da unten, und die sind allesamt nicht auf ihrer Seite, sonst hätte sich längst jemand bei ihr blicken lassen und sie um Verzeihung gebeten.

      „Wen hast du denn dann gemeint? Hier ist doch keiner“, hakt der Junge nach.

      „Ich meine den, der das Ding dort aufgehängt hat.“ Ihre Augen schweifen hinüber zum Joch an der Wand neben dem Fensterloch, bleiben haften an den Ausstülpungen und den schweren Ketten und glaubt, dieses Joch auf den eigenen Schultern zu spüren.

      Dem Jungen ist anzusehen, dass er mit ihrer Bemerkung nichts anfangen kann, doch mit solchen Situationen geht er auf seine Weise um. „Wie nennt man das Ding?“

      „Joch.“

      „Ja, gut, dann halt Joch. Und das hier?“ Er scheint einen Hauch von Feingespür zu besitzen, denn er handelt dieses Thema damit ab und nimmt den langen Jaucheschöpfer ins Visier. Doch für Lydia ist das Maß an Erinnerungen gefüllt bis zum Rand der Erträglichkeit. „Die Museumsstunde ist beendet. Machen wir, dass wir aus dem stickigen Schuppen rauskommen. Ich koche Kakao für uns.“

      Wie fremd solch ein Satz in ihren Ohren klingt … Wann hat sie das letzte Mal für jemanden Kakao gekocht? Sie fegt diese Überlegung beiseite, das Kind hat gesehen, was es wollte, jetzt ist sie an der Reihe! Sie sollte es auch nicht mehr lange hinauszögern, der Junge muss schleunigst ins Tal zurück.

      Als sie nebeneinander den Hof überqueren, stellt sie fest, dass das Kind ihr bis zum Kinn reicht. „Wie alt bist du?“, fragt sie ohne ehrliches Interesse.

      „Zehn.“

      Wie groß ist man mit zehn?, fragt sich Lydia. Ist er groß für sein Alter? Sie selbst war immer eine relativ große Person im Vergleich zu anderen Frauen; sie muss aber auch bedenken, dass sie in den letzten Jahren kleiner geworden ist. Ihre Rückenwirbel scheinen ein wenig eingefallen zu sein, der immer wiederkehrende Schmerz im Rückgrat könnte der Beweis dafür sein.

      „Wie heißt du eigentlich?“ Eigentlich ist das richtige Wort, denn eigentlich will sie seinen Namen gar nicht wissen – im Hinblick auf die gesamte Talbevölkerung will sie den Jungen überhaupt nicht anzureden wissen. Zudem wird es keine Gelegenheiten mehr geben, Namen in den Mund zu nehmen. Es genügt, dass so manch einer nicht mehr aus dem Kopf zu kriegen ist, den sie zu gerne löschen würde.

      „Olav mit Vogel-F“, sagt der Junge, und sie ist erleichtert, dass er nur seinen Vornamen genannt hat und sie ihn somit nicht zuzuordnen weiß, denn das könnte sich negativ auf einen unbeschwerten Umgang auswirken.

      „Ah ja, mit Vogel-F“, wiederholt Lydia bedächtig. Immerhin, er scheint schreiben zu können. Natürlich kann er das, wahrscheinlich besser als sie, denn was hat sie in letzter Zeit schon anderes zu Papier gebracht als Einkaufslisten …

      „Wo ist dein Bauer?“

      Lydia schluckt. „Der Bauer ist ...“ Was geht das dieses Kind an? Der heutige kurze Kontakt braucht keine persönliche Ebene zu erlangen. Ihr Gegenüber ist ein dummer kleiner Junge. Er wird seinen Kakao bekommen und ihr in einem unumgänglichen Moment an der Seite sein.

      „Setz dich dort auf die Eckbank“, weist sie ihn in der Küche an.

      Der Junge gehorcht und schaut sich von seinem Sitzplatz aus in der Küche um.

      „Ach, noch was, Olav, kriech doch mal unter den Tisch, mir ist da heute ein Brief runtergefallen.“

      Auch


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