Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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aus Buchstaben, denen Anklage und Verachtung aus allen Windungen springen.

      Soll sie sich das antun, noch vor ihrer Fahrt ins Tal? Denn hinunter muss sie auf jeden Fall, ihre Vorräte sind auf ein Überlebensminimum geschrumpft. Oder soll sie besser Gustavs Regel folgen: Was ich nicht weiß, macht mich nicht ...

      Moment, die Herplatte ist noch eingeschaltet! Das nächste Feuer auf dem Brausehof wäre vorprogrammiert, wenn sie jetzt einfach das Haus verließe.

      Doch sie hat sich getäuscht. Natürlich hat sie den Herd ausgeschaltet, nachdem das Frühstücksei gekocht war. Es ist die Angst vor dem Feuer, die sich bei den geringsten Anlässen breitmacht.

      Wieder sitzt Lydia am Tisch und ringt mit ihrer Neugierde auf den Briefinhalt. Und wieder sind es bange Gefühle, die sie zögern lassen. Warum eigentlich hat der Absender nicht den Briefkasten vorn an der Abzweigung zum Brausehof benutzt? Sollte dieser Brief möglichst rasch gefunden werden? War es ein Bote, beauftragt, die Post sozusagen vor ihrer Nase zu platzieren, damit keine Zeit verloren geht?

      Was, wenn sich gerade hieraus etwas Wichtiges erschließt, das sie wissen sollte, bevor sie sich hinunter in den Ort begibt? Doch wie sollte jemand ahnen, dass sie sich gerade heute dazu entschließen würde? Sie stellt fest, dass sie in ungeordneten Zusammenhängen denkt. Dies ist kein guter Moment, einen, wie es scheint, anonymen Brief zu öffnen. Vielleicht ist das Ganze auch nur ein dummer Jungenstreich; alleinlebende Leute werden gern zu Scherzobjekten: „Jagen wir der Alten mal so richtig Angst ein und beobachten sie dabei aus der Deckung heraus ..."

      „Na wartet!" Wie elektrisiert eilt Lydia aus dem Haus, schaut sich nach allen Richtungen um. Mit frechen Bürschlein wird sie noch fertig werden, da genügt die Drohung, sie bei der Polizei anzuschwärzen. Ihr Herz rast, mehr vor Ärger als aus Furcht.

      Was ist jetzt?, fragen Wotans dunkle Augen, die zwischen Lydia und dem bereitstehenden Einkaufskorb hin und her fliegen.

      „Hast recht, Guter, ein Schritt nach dem anderen. Je unbekümmerter das Opfer auftritt, umso mehr vergeht dem Täter die Lust am üblen Spiel, hat dein Herrchen mal gesagt. Außerdem hättest du es längst bemerkt, wenn sich hier oben jemand versteckt halten würde. Lassen wir den Umschlag einfach zu. Vielleicht soll er uns einschüchtern und enthält am Ende noch eine ... Talsperre. Dann aber jetzt nichts wie runter!"

      Sie lacht ihrer Bemerkung hinterher, nicht ohne festzustellen, wie belegt ihre Stimmbänder sind.

      Ausnahmsweise in eigene Garderobe gekleidet, startet Lydia erneut den Motor. Gustavs große Hemden würden ihr zwar gerade im Tal ein Stück weit mehr an Selbstsicherheit schenken, doch diesen Anblick gönnt sie all den Lästermäulern nicht.

      So trägt sie ihre rotbraun gestreifte Strickjacke und einen wadenlangen braunen Rock mit abstehenden großen Seitentaschen. Ihre Füße stecken in hochgezogenen Socken und Arbeitsschuhen. Sie hat nie anderes besessen als zweckmäßige Kleidung und gesteht sich ein, dass es sie im Grunde gar nicht mehr interessiert, wie die Hüllen aussehen, in die sie ihren Körper verpackt. Zum Glück sah Gustav das genauso. „Zeitverschwendung, sich mit so unwichtigen Dingen zu beschäftigen", lautete seine Meinung zur Mode. „Protzige Gewänder sind nur da zum Ablenken. Sieh den Leuten in die Augen, da erfährst du, was du wissen willst."

      Natürlich hat sie einmal anders darüber gedacht, sie war auch immer an erster Stelle eine Frau. Es mag eine besondere Fähigkeit ihres Mannes gewesen sein, seine Ansichten nach und nach auch zu den ihren zu machen. Dass dies nicht unbedingt zu ihrem Vorteil ist, wird ihr nun von Tag zu Tag mehr bewusst.

      Längst kennt Wotan seinen Platz auf dem Traktor. Angegurtet liegt er vollkommen ruhig auf dem Trittbrett hinter dem Fahrersitz. Sein massiger Leib passt genau auf die hölzerne Fläche.

      Gleich bei ihrer ersten Alleinfahrt ins Tal hinunter hatte sie dem Hund erklärt: „Du kommst mit, mein Freund, ohne dich setze ich keinen Fuß auf den Boden dort drunten. Allein bin ich niemand mehr, weißt du?"

      Auch heute wird Lydia von Gedanken dieser Art belagert. Allein stellt sie lediglich eine Angriffsfläche dar, mit ganz dünner Haut, und seien es nur feindselige oder anklagende Blicke, die sie durch das verbliebene Häutchen des Eigenschutzes verwunden könnten. Die da unten sind nicht auf ihrer Seite, das spürt sie seit Gustavs Beisetzung bis herauf auf ihren Berg.

      Selbst an der Seite ihres Mannes hatte sie sich in Gegenwart der Talbewohner meist wie ein Mitbringsel gefühlt, ein exotisches Tierchen, das man amüsiert beäugte und nicht weiter ernst nahm. Und er hatte nie versucht, das zu ändern. Vielleicht weil er wusste, wie wenig ihr an der Dorfbevölkerung lag. Oder lag womöglich ihm etwas daran, seine Frau abzuschirmen, aus schutzbedingten, aus egoistischen oder gar aus Gründen der Peinlichkeit heraus? Erst seit seinem Tod kommen solche Fragen in Lydia hoch. Davor empfand sie ihre Lebensumstände als normal und selbstverständlich. Aber damals gab es ja auch noch ihn, der diesen Zustand aufrecht erhielt, und sie entbehrte nichts, war nicht auf fremde Sympathien und Hilfe angewiesen – und erhielt auch keine rätselhaften Briefe. Alles, was jetzt eintrifft, fordert ausschließlich sie selbst.

      An der Abzweigung des Brausehofes, an dem der breite Waldweg recht steil ins Tal hinabführt, hält Lydia den Traktor an. Sie steigt ab und öffnet die Klappe des blechernen Briefkastens, der leicht schief an einem Pfahl befestigt ist. Das Fach ist leer. Richtige Briefe gab es ohnehin kaum, und auch jetzt gibt höchstens noch die bürokratische Post, die sie über alle Maßen verabscheut. Selbst die Werbeblättchen mit den Sonderangeboten bringt schon lange niemand mehr herauf.

      Trotz der Plexiglas-Überdachung der Führerkabine fährt ein leichter Wind durch ihre Haare, als sie bergab fährt, und sie spürt, dass sich eine lange Strähne ihres zurückgesteckten Haares befreit hat. Aber was soll sie das bekümmern, es wird sie niemand genauer anschauen. In ihrer Sitzschale wippt sie über den unebenen Weg wie zu alten Zeiten über die Furchen der Felder.

      Dass sie singt, wird ihr erst bewusst, als ihre eigene Stimme sie erschrickt. Ein altes Lied, ihr Unterbewusstsein muss es anhand ihrer momentanen seelischen Verfassung ausgekramt haben, denn sie hat es seit vielen Jahren nicht mehr gesungen: „Im Tal, da liegt der Nebel, auf den Höhen, da ist's klar, und was die Leute von uns reden, ist alles gar nicht wahr ..."

      Ob sie so laut gesungen hat, dass jemand sie hören konnte? Als hätte es diesen Gesang gar nicht gegeben, wechselt Lydia beschämt von der Singstimme in einen Befehl für ihren Hund: „Dass du mir ja ruhig liegen bleibst, Wotan!"

      Beklommen stellt sie fest, dass es ihr keinesfalls gleichgültig ist, wie man hier unten über sie denkt. Sie wird hart an sich arbeiten müssen, bis sie wieder gesellschaftstauglich ist. Vermutlich wird man ihr diese Chance aber gar nicht mehr geben. Nach jenem dummen, unbedachten Vorfall damals aller Öffentlichkeit ...

      Die Erinnerung lässt sie wie jedes Mal erschaudern, doch schon im nächsten Moment wird dieser Gedanke abgelöst, denn zu ihrer Linken taucht die langgezogene Hainbuchenhecke auf, hinter deren Schutz all die Verstorbenen unter ihren Kreuzen und Steinen zur letzten Ruhe gebettet liegen. Den Friedhof hat sie seit Gustavs Beisetzung nicht mehr aufgesucht.

      Lydia bremst den Traktor ab und tuckert im ersten Gang weiter. Und jetzt ist es ihr egal, ob sie vielleicht bei ihrem Selbstgespräch beobachtet wird: „Hallo Gustav! Ich komm nicht zu dir rein, dafür hab ich noch zu viel Wut im Bauch. Aber stell mal kurz die Ohren auf: Wenn du den Eindruck hast, dass der Motor von unserem alten Lanz irgendwelche Mucken macht, dann gib mir ein Zeichen, damit ich früh genug danach schauen lasse."

      Lydia wartet. Kein Zeichen, wie sie die unveränderte Atmosphäre interpretiert. Mit Elan tritt sie jetzt das Gaspedal durch, schaltet einen Gang hoch und wieder zurück, vollzieht dieses Testspiel bis zum Ende der Hecke und murmelt vor sich hin: „Gut, das war´s für dich. Was ich gleich im Ort erlebe, erzähl ich dir nachher daheim. Angenehm wird's mit Sicherheit nicht!"

      Lydia gibt Vollgas. Die Abgase ihres gen Himmel gerichteten Auspuffs scheinen sie für einen Moment wie zur Unterstützung zu umhüllen. Sie braucht eine härtere Schale, eine Ausstrahlung, die dem entspricht, was man hier unten ohnehin über sie denkt.

      Dann


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