Die stille Stube. Christiane Fuckert

Die stille Stube - Christiane Fuckert


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„wer weiß, was der noch alles draufhat.“

      Doch danach folgten nur noch Eigenkompositionen, kein einziges Mal mehr die ‚Zauberflöte’, so oft Mozart auch in der Stube neben dem Plattenteller saß. Bis er nach einer Weile kaum mehr einen Ton von sich gab.

      „Er braucht Gesellschaft“, hatte Lydia kritisiert. „Du redest auch nicht, wenn du alleine im Zimmer bist.“

      „Im Gegensatz zu dir“, hatte ihr Mann erwidert, doch umgehend bekam Mozart sein Nymphenweibchen ‚Constanze’, grau und schmucklos, aber heiß geliebt. Das Pärchen sang seine Duette und Soli, völlig unbekannte Werke, doch das Glück der beiden war perfekt. Und als der nächste Sommer bevorstand, bekamen sie die Voliere im Halbschatten, unter freiem Himmel.

      Ob Mozart ihren Mann vermisst? Darüber hat Lydia noch nie nachgedacht. Sein Weibchen Constanze, ja, das vermisst der Vogel schmerzlich. Er wirkt einsam seit jenem schwarzen Tag im letzten Frühling: Mozart hockte auf der Stange, der kleine Kopf mit dem gebogenen Federsträußchen zuckte von rechts nach links, die Perlaugen schossen ratlos hin und her, gleich unter ihm lag seine geliebte graue Federkugel auf dem Boden, die dürren Füßchen gen Himmel gestreckt.

      Nicht jetzt an so was denken ...

      Plötzlich durchfließen wellenartige Zuckungen den Vogelleib und der zarte Bauchflaum zittert. Für ein paar Sekunden ist es totenstill auf dem Berg. Kein Blatt scheint sich zu bewegen, kein Vogel singt mehr.

      Dann fährt der erste Windstoß durch Lydias Haar, brüllend laut und so heftig, dass sie ins Wanken gerät. Doch sie reagiert blitzschnell, greift zu und umfängt mit beiden Händen den erstarrten Mozart. Noch während sie über die Haustürschwelle eilt, schlägt hinter ihr die Tür der Voliere mehrmals auf und zu. Hektisch setzt sie den Vogel im Hauskäfig ab und verriegelt die kleine Gitterpforte.

      Was nun? Die Wäsche?

      Wie für ihr Erscheinen programmiert, zuckt ein Blitz hernieder, als Lydia das Haus verlassen will. Einundzwanzig ... zweiundzwanzig ... dreiundzwanzig … Den folgenden Donnerschlag spürt sie in den Fußsohlen. Das war genau überm Ort. Noch einen Kilometer, dann hat es mich!, denkt Lydia mit erneutem Herzklopfen.

      „Wotan! Wo bist du? – Gib Laut!“

      Sie weiß, wie der Hund reagieren kann, wenn er erschrickt: Er rennt los, sucht das Weite, weil der Ort des Erschreckens die Gefahr für ihn birgt.

      Nicht auch noch ihn verlieren! Ihn braucht sie am meisten, seit sie alleine hier leben muss. „Wotan!“

      Der klägliche Laut kommt von drinnen. Donnergott Wotan hat sich ins Haus verflüchtigt, folgert Lydia erleichtert. Zum Glück hat er so reagiert, wie es gut für ihn ist.

      Jetzt setzt ein immer stärker werdendes Rascheln ein. Der Regen kriecht den Berg hinauf. - Die Hühner!

      Sie eilt um den Wohntrakt herum zum Gehege, weiß schon jetzt, was sie erwartet: Alle Hühner mitsamt Hahn werden sich in den Stall verzogen haben, bis auf das eine orientierungslose. Es wird in seiner Panik immerzu gegen die Wand fliegen, bis es sich den Kopf eingerannt hat ...

      Als Lydia um die Ecke biegt, das nächste Donnerkrachen im Rücken, bestätigt sich ihre Vermutung.

      „Dummes Tier, mach es doch den andern nach!“ Während sie am Riegel zerrt, um in das Gehege zu gelangen, bläht sich ihr Flanellhemd und verfängt sich an einem Nagel neben dem Gatter. Die ersten dicken Tropfen klatschen seitlich gegen ihr Gesicht. Sie reißt an ihrem Hemd, ruckelt gleichzeitig am Tor, dabei ist der Sturm ihr steter Gegenspieler. Im Gehege streift das ängstlich flatternde Federvieh ihre Hüfte. Lydia greift blindlings zu und packt die stricknadeldürren Beine des Tieres. Mit einer Hand stützt sie sich an der Wand neben der Stallluke ab und schleudert das Huhn ins Innere zu den anderen.

      Die hölzerne Verschlussklappe wird vom Wind so fest gegen die äußere Stallwand gepresst, dass sie mehrmals Lydias Hand entgleitet und zurückschlägt.

      Im nächsten Moment hat die Regenfront sie erreicht. Das Hemd saugt sich an ihrem Rücken fest. Den folgenden Blitz nimmt sie nur aus den Augenwinkeln wahr, grell, zackig und scharf, zugleich den Donnerschlag, der sie für ein paar Sekunden lähmt.

      „Es hat mich gewiss erwischt ... Verdammt, Gustav! Wie konntest du nur?! Du wusstest, was du riskierst, jetzt häng ich hier alleine!“

      Der Wind verzerrt ihr Wutgeschrei. Sämtliche Kraft weicht aus ihrem Körper. Mit resignierten Bewegungen drückt sie die Klappe des Hühnerstalls zu, klemmt den Hebel in das Verschlusseisen und sackt auf dem lehmigen Boden in sich zusammen. Zitternd umschlingen ihre Arme den eigenen Körper, ihre Knie versinken im feuchten Hühnermist.

      Ob es Wassertropfen oder Tränen sind, die über ihre Wangen laufen, weiß sie nicht. Ihre Zähne schlagen gegeneinander, sie verliert die Kontrolle über ihre Kiefermuskeln. Vornüber gebeugt verharrt sie so, bis die Wut ihr neue Kraft verleiht.

      „Glaub ja nicht, dass ich mich aufgebe“, flüstert sie in ihre Armbeuge hinein, „dass ich die Tiere im Stich lasse, wie du mich!“ Mit steifen Fingern zieht sie sich am Gitter auf die Füße. Die Regenwand ist so dicht, dass sie von hier aus das Wohnhaus kaum mehr erkennen kann. Langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen, schleppt sich gebeugt bis zum Haus hinüber.

      „Wenigstens trag ich Gummistiefel“, sagt sie mit halbwegs fester Stimme und einem aufgesetzt zynischen Grinsen.

      Fest gegen die zugefallene Haustür gedrückt wartet der steifbeinige, zahnlose Kater. Das struppige Fell, in dessen Grau man die Rotspuren vergangener Zeiten nur noch erahnen kann, ist so durchweicht, dass es tropft. Auch ihn hat es eiskalt erwischt, denkt Lydia, der es bei diesem Anblick gelingt, ihre Mimik zu entspannen, bis nur noch Mitleid für das Tier und für sich selbst übrig bleibt.

      „Alles alt und marode bei uns, was? – Du, ich, der Hof ...“

      Im nächsten Augenblick stürzt das Wasser vom Dach, überspringt die Regenrinne und klatscht auf Lydias Nacken. Resigniert hebt sie den Blick zum Himmel. „Das war deine Antwort auf meinen Vorwurf, Gustav, nicht wahr? Wieder mal ein Volltreffer.“

      Trotz des Regenwassers in ihrem Mund schmeckt Lydia die Bitterkeit auf ihrer Zunge. Doch sie weiß schon jetzt, dass ihre Wut schwindet, sobald sie dem vertrauten ausgebeulten Hut im Garderobennetz begegnet.

      Kapitel 2

      Lydia sitzt unter dem Dachüberstand, der ihr vor noch einer Stunde die unfreiwillige Dusche beschert hat. Mittlerweile ist die rustikale Bank neben der Haustür angetrocknet und eine alte Decke liegt auf der Sitzfläche.

      An der rechten Hausseite ächzen die Giebelbalken. Überall tropft es. Wie ein flüsterndes Glockenspiel, denkt Lydia. Selbst die feuchten Perlen, die ihr rhythmisch auf die Schultern und ins Haar springen, empfindet sie als wohltuend – sie sind letzte Beweise dafür, dass sie das Unwetter gut überstanden hat.

      Die Läden am Haus sind wieder geöffnet, ebenso die Fenster von Küche und Schlafzimmer. Diese gereinigte Luft ist eine wertvolle Entschädigung für Angst und Mühsal.

      Auf allem, was Lydia umgibt, sitzen Wassertröpfchen, in denen sich die Sonne spiegelt. Was sie eben noch als einen Racheakt Gustavs auslegte, zeugt jetzt für die Schönheit der Schöpfung.

      Ihr Blick schweift über die nahe Umgebung. Die Hühner staksen leise gurrend im aufgeweichten Gehege umher. In der Voliere hüpft Mozart munter von einem Ast zum nächsten. Sogar der alte Kater nutzt die auflebende Wärme für ein wohliges Räkelmanöver, gleich neben Lydias Bank.

      „Marschall, wie alt bist du jetzt eigentlich?“ Lydia denkt an den Tag, an dem ihr Schwiegervater das fuchsrote Knäuel mitten auf dem Küchentisch absetzte:

      „Darf ich vorstellen: unser neuer Marschall im Kuhstall. Er wird jeden Eindringling vertreiben, seht euch nur seine Krallen an.“

      Somit hatte der Kater seinen Namen. Marschall nahm seine Aufgabe sehr ernst, knurrte nach seinem ersten Lebensjahr selbst die


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