Das vernetzte Kaiserreich. Jens Jäger
Binnenraum, der das Handeln der Bevölkerung rahmte und bestimmte. All dies signalisierte den Zeitgenossen die Eigenständigkeiten nationaler Entwicklungen und lud zu ständigen Vergleichen mit den Nachbarn ein. Bestimmend war der Blick durch die »nationale« Brille; ein Blick, der lange Zeit und teils bis in die Gegenwart auch die Geschichtswissenschaft bestimmte. Deutsche Geschichte zu schreiben bedeutete, eine Innenperspektive einzunehmen, und das hieß auch, dass man alle Entwicklungen, ob politisch, ökonomisch, sozial, wissenschaftlich oder kulturell, vornehmlich aus dieser Perspektive betrachtete. Einflüsse von »außen« nahm man zwar wahr, beschrieb sie aber kaum je als treibende oder entscheidende Faktoren. Das hatte durchaus seine Berechtigung, weil der Staat die Rahmenbedingungen setzte und sich die Bevölkerung innerhalb dieses Rahmens bewegte und handelte. Impulse von »außen« wurden von inländischen Akteuren verarbeitet und in Debatten eingespeist; nur auf diese Weise schlugen sie sich in den Quellen nieder. Diese scheinbar klare Trennung zwischen »innen« und »außen« ist bei näherer Betrachtung alles andere als zwingend, da vielfältige offene und unterschwellige, kurz- und langfristige Prozesse unauflöslich miteinander vermengt sind. Gerade unter der Bedingung zunehmend vernetzter Kommunikation sind durchgängig und ausschließlich lokale Lösungen von Problemen eher die Ausnahme als die Regel.
In den vergangenen Jahrzehnten sind transnationale und globale Perspektiven entstanden, die dieses Phänomen in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts zu Deutschland verdeutlichen. Verflechtungen sind nicht dadurch weniger relevant, dass sie über Staatsgrenzen hinausreichen. Wenn es um Ideen- oder Ideologiegeschichte geht, war das auch immer offensichtlich: Liberalismus, Konservatismus und Marxismus beispielsweise sind niemals rein nationale Phänomene gewesen, wenngleich sie unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen jeweils spezifische Ausprägungen und Konsequenzen hatten. Politische Bewegungen entfalten sich immer in einem internationalen Austausch.
Ebenso sind wirtschaftliche Verflechtungen unter den Bedingungen der Globalisierung überaus weitreichend – Weltmarktpreise für Agrarprodukte wirken auf exportorientierte Landwirte ebenso ein wie auf Kleinbauern und haben für alle Konsumenten Konsequenzen, selbst beim Einkauf auf dem örtlichen Wochenmarkt. Der Vorwärts rechnete z. B. 1900 vor: »Die Entwicklung der Preise [für Getreide] hängt auch in Deutschland von der Lage des Weltmarkts ab« und kritisierte nach längeren statistischen Betrachtungen zu Durchschnittspreisen auf wichtigen deutschen Getreidemärkten, dass die deutschen Getreidezölle (die es ab 1879 gab) »dem deutschen Brotverbraucher« stets unnötig hohe Preise bescheren würden.7
Das Deutsche Kaiserreich von 1871 ist dadurch gekennzeichnet, dass es durch den immensen Ausbau der Infrastruktur und die zunehmende Verfügbarkeit von Medien, kurz: die immer stärkere Vernetzung der Gesellschaft, immer weniger »autonom« blieb. D. h., es wurde von mehr oder weniger entfernten Prozessen abhängig, selbst wenn die Zeitgenossen das so nicht wahrnahmen. Das weitverbreitete nationale Konkurrenzdenken im Hinblick auf Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur unterstreicht das nur – denn Konkurrenz setzt ja voraus, dass man etwas über jene erfährt, mit denen man sich im Wettbewerb wähnt.
Bereits bestehende Verknüpfungen wurden ausgebaut; neue Möglichkeiten kamen hinzu. Netzwerke konnten tendenziell räumlich immer weitläufiger und in sich immer enger werden, so dass persönliche Kontakte intensiver gepflegt werden. Nicht zu unterschätzen sind jene Verbindungen, die sich aus den Medien ergaben. Mit der stetigen Ausweitung des Pressewesens und Buchhandels gelangten immer mehr Informationen aus der Ferne zum lesenden Publikum, das zugleich ein schauendes Publikum war, weil die Verbreitung von Bildern aller Art ebenfalls stetig zunahm. Darin liegt der Kern des 1983 von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson geprägten Begriffs der »vorgestellten Gemeinschaft« (imagined community). Eine solche kann nur existieren, weil Medien die ihr zugrunde liegenden Vorstellungen verbreiten. Anders ausgedrückt: Je weiter sich Medien verbreiten und je umfangreicher ihr Angebot wird, desto größere Gruppen können solche Vorstellungen teilen und mitgestalten. Allerdings entwerteten neue »vorgestellte Gemeinschaften« keineswegs die bestehenden, ebenso wenig verhinderten sie, dass parallel andere Gemeinschaften entstanden.
Konkret für das Deutsche Kaiserreich bedeutet dies, dass der neu entstandene Staat eben nicht die bestehenden Gemeinschaften ersetzte, sondern eine zusätzliche schuf – freilich eine, die besondere Loyalität forderte und die bestehenden überwölbte. Der Akt der Staatsgründung war erst der Beginn einer Entwicklung, die weder sofort noch konfliktfrei erfolgte. Auch war ja der neue Staat ausdrücklich als ein Bund souveräner Einzelstaaten nach dem Muster des Norddeutschen Bundes von 1867 und dessen Erweiterung 1870 gegründet worden. Wie damals blieben auch 1871 die jeweiligen Staatsangehörigkeiten erhalten, wenngleich diese von allen anderen Ländern des Kaiserreichs als gleichwertig zur eigenen Staatsangehörigkeit zu betrachten waren (Art. 3 der Verfassung). So war beispielsweise ein Hamburger Bürger einem preußischen Bürger gleichgestellt, blieb aber Hamburger Bürger, sofern er sich nicht entschloss, die preußische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Deren Erwerb war unter der Voraussetzung, dass er für sich selber sorgen konnte, allerdings relativ problemlos möglich. Im Übrigen galt das formal gesehen auch für Nicht-Deutsche; die Kenntnis deutscher Sprache und Kultur wurde von Einwanderern nicht gefordert, lediglich die Fähigkeit zur Selbstversorgung und Unbescholtenheit. Das schloss freilich Diskriminierungen aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen nicht aus. Eine reichsunmittelbare Staatsangehörigkeit, die nicht unmittelbar an einen Wohnsitz in einem der Bundesstaaten geknüpft war, wurde erst mit der Novellierung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes 1913 eingeführt. Staatsangehörigkeiten stellen einen besonderen Fall von Vernetzung dar und sind zunächst ›nur‹ eine Einbindung in einen übergeordneten rechtlichen Raum, der einerseits durch international anerkannte Staatsgrenzen und andererseits durch Zugehörigkeit definiert ist.
Da Menschen immer nur begrenzte Ressourcen haben, müssen sie wählen, welche der zur Verfügung stehenden Vernetzungsmöglichkeiten sie nutzen. Manche sind allerdings unvermeidlich, da sie keiner Zustimmung des Einzelnen bedürfen: Unter der Voraussetzung, dass die Person vor Ort bleibt, wird ihr die Einbeziehung in den neuen Staat, der Anschluss an Infrastruktur und Kommunikationsnetze, der Zugang zu Ver- und Entsorgung (Gas, Wasser, Müll) usw. automatisch zuteil. Andere Netzwerke werden bewusst – teils auch unter sozialem Druck – gewählt, etwa Vereine, Parteien oder Gewerkschaften. Andere Vernetzungsmöglichkeiten sind womöglich aufgrund mangelnder Geld- und Zeitmittel nicht wählbar.
Angesichts der großen Vereinsfreudigkeit der Zeit waren zahllose Mitgliedschaften einer einzelnen Person keine Seltenheit. Auch im Arbeitermilieu finden sich solche multiplen Mitgliedschaften. So konnte ein Arbeiter natürlich Mitglied der SPD, einer Gewerkschaft, eines Arbeiter-Bildungsvereins, eines Arbeiter-Rudervereins und eines Arbeiter-Gesangsvereins sein. Das dürfte neben Arbeit und Familie seine Freizeit weitgehend ausgefüllt haben. Das Beispiel verdeutlicht gleichzeitig ein weniger auffälliges Phänomen: Zunehmende Vernetzung bedeutet mitunter eine tiefere Verankerung in einem bestimmten Milieu, sie bringt somit auch eine Abschottung nach außen mit sich. Da ferner viele der verfügbaren Medien auf einzelne politische und soziale Milieus zugeschnitten waren, konnten sich gesellschaftliche Blasen bilden, innerhalb derer bestimmte Überzeugungen, Lebens- und Denkweisen verabsolutiert wurden. Der Umstand, dass sich die Milieus oft sozial voneinander abgrenzten, erklärt, weshalb sich immer radikalere Interessenvertretungen und eine Intoleranz gegenüber anderen Vorstellungs- und Lebenswelten herausbilden konnten. Das hat die einschlägige historische Forschung gerade für die Zeit ab den 1880/90er Jahren immer wieder festgestellt. Da dies sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Globalisierung gerade der Medien vollzog, waren viele davon überzeugt, sie verdankten ihre eigene Sichtweise umfassenden Kenntnissen der Welt. Mit anderen Worten: Vermehrte Vernetzung kann eine Homogenisierung nach innen und eine Abgrenzung nach außen fördern.
In diesem Buch will ich jedoch keine neue Geschichte des Kaiserreichs vorstellen, sondern exemplarisch dessen zunehmende Vernetzung betrachten. Dazu ist es häufig notwendig, auf Statistiken zurückzugreifen und mit Zahlen zu jonglieren, die massenweise von den Zeitgenossen erhoben wurden. Wie bei allen statistischen Angaben gilt es, die teils erheblichen Fehlerquoten stets zu berücksichtigen und sich darüber im Klaren zu sein, dass Durchschnitts- oder Globalwerte immer große Differenzen verschleiern, die sich lokal, regional und auch individuell dahinter verbergen. Aber eine rein qualitative Darstellung der Vernetzungen über