Das vernetzte Kaiserreich. Jens Jäger
als auch was die Verflechtung über Staatsgrenzen hinweg betrifft.
Das Buch ist auch kein Versuch, einen netzwerkanalytischen Zugriff auf die Epoche von 1871 bis 1914 vorzustellen. Mein Blick richtet sich auf die Voraussetzungen des Netzwerks, d. h. die massive Veränderung der Infrastruktur und der Kommunikationsmittel. Sie bestand nicht allein im Ausbau – wie anhand der Eisenbahn (deren Streckennetz zwischen 1871 und 1914 von knapp 20 000 auf über 62 000 Kilometer wuchs) schon oft beschrieben wurde –, sondern auch in der Verbilligung, Verdichtung und Beschleunigung vorhandener Verbindungsmöglichkeiten. Das Gleiche gilt für die immer effektivere Post, die 1881 insgesamt 1,4 Milliarden, 1913 aber schon über 10 Milliarden Sendungen statistisch erfasste. Pro Kopf und Jahr ist das eine Steigerung von 30 auf über 150 Sendungen. Der immens zunehmende Briefverkehr verweist zudem darauf, wie viele Menschen im Kaiserreich lesen und schreiben konnten. Der Alphabetisierungsgrad hatte schon 1870 nahe 90 Prozent gelegen und rückte bis 1914 dicht an die 100 Prozent heran. Überhaupt sind Lesefähigkeit und Bildung wichtige Voraussetzungen dafür, sich in einer vernetzten Gesellschaft zurechtzufinden und deren Möglichkeiten auch aktiv auszuschöpfen.
Das Kaiserreich erlebte eine Reihe bedeutsamer Harmonisierungsprozesse, die teils nach innen gerichtet waren, teils aber auch auf internationale Vereinbarungen zurückgingen. Viele dieser Standardisierungen betrafen technische Maßeinheiten: Das metrische System war vom Norddeutschen Bund 1868 eingeführt worden und wurde mit der Reichsverfassung von 1871 auf den gesamten neuen Staat ausgedehnt. Meter, Kilogramm und Liter – deren Ursprung in der Französischen Revolution liegt – wurden nun verbindliche Messgrößen, die für Wissenschaft, Technik und Handel wichtig waren und es bis heute sind. Um die Vergleichbarkeit und Sicherheit von Maßangaben zu gewähren, mussten Messinstrumente geeicht werden, wofür im Kaiserreich staatliche Stellen zuständig waren. Regionale Gewichtseinheiten blieben zwar noch im Alltagsgebrauch gängig, wurden jedoch auch in metrischen Äquivalenten ausdrückbar; damit konnte man wesentlich einfacher überregionale Vergleiche anstellen.
Nationale Regelungen, wie die Vereinheitlichung von Maßen, waren maßgeblich durch internationale Übereinkommen angestoßen worden. Und staatenübergreifend wurden sie auch fortentwickelt, wie etwa auf der Internationalen Meterkonvention (Convention internationale du mètre) 1875 in Paris. Alternative Systeme blieben zwar bestehen, wie das englische und das russische, verloren aber global an Boden.
Eine weitere Standardisierung betraf die Zeit. Wenngleich Sekunde, Minute und Stunde schon lange die global vorherrschende Zeiteinteilung waren (jedenfalls dort, wo Europäer und Amerikaner großen Einfluss besaßen), waren die Zeitrechnungen der einzelnen Regionen noch nicht aufeinander abgestimmt. Für die Fahrpläne von Fernzügen war allerdings eine einheitliche Bestimmung der Zeit vonnöten. Solche einheitlichen Zeiten wurden oft als »Eisenbahnzeit« eingeführt und wichen von der Ortszeit teils noch erheblich ab. Während die Ortszeiten sich anhand des Sonnenumlaufs bestimmten, setzte die Eisenbahnzeit (später die »Einheitszeit«) für ein Staatsgebiet bzw. größere geographische Region eine mittlere Zeit fest, die dann überall gleichermaßen galt.
Die Grundlage bildete eine Vereinbarung, die auf einen Vorstoß der nordamerikanischen Eisenbahngesellschaften zurückgeführt werden kann. Auf einer internationalen Konferenz 1884 in Washington wurde eine geographische Einteilung des Globus in 24 Zeitzonen in Ausdehnung von je 15 Längengraden vorgeschlagen. Dabei sollte der Längengrad von Greenwich bei London als Anfangslinie dienen, wie es in der Schifffahrt schon länger üblich war. Je 7 ½ Grad westlich wie östlich davon sollte eine einheitliche Zeit gelten.
Diese Vereinbarung wurde im Kaiserreich mit Inkrafttreten des Gesetzes betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung am 1. April 1893 verbindlich und schloss auch jene Gebiete innerhalb der Staatsgrenzen mit ein, die eigentlich außerhalb der Zeitzone zwischen 7°30' und 22°30' östlicher Länge lagen – das betraf eine Reihe von Städten im Westen, unter anderem Aachen, Köln und Straßburg. Nun galt zwischen Aachen und Memel die gleiche Uhrzeit, die Mitteleuropäische Zeit (MEZ).
Maße, Gewichte, Währung, Zeit wurden vereinheitlicht und harmonisiert. Zeit und Währung waren zwar primär innerhalb des Kaiserreichs homogenisiert, fügten sich aber doch in eine europäische und tendenziell globale Ordnung ein. Maßeinheiten wie Meter und Kilogramm sowie die davon abgeleiteten Größen – wie später auch andere physikalische und chemische Einheiten – entsprangen hingegen transnational ausgehandelten Regelungen, die freilich europäisch-amerikanisch dominiert waren. Sie vereinfachten den wirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Austausch, erleichterten Vergleiche und sind sowohl Ausdruck als auch Antrieb der Vernetzung.
Diese Wirkung blieb nicht nur auf Expertengruppen beschränkt, sondern griff auch stark in den Alltag aller Menschen ein. Zwischen 1871 und 1875 musste sich die Bevölkerung des Kaiserreichs auf Mark und Pfennig als alleinige Geldeinheiten umstellen. Vertrauten Maßangaben wie Pfund (500 Gramm), Scheffel (50 Liter), Kanne (1 Liter), Schoppen (0,5 Liter) oder Zentner (50 Kilogramm) wurden metrische Definitionen ›untergeschoben‹, so dass der Sprachgebrauch zwar unverändert bleiben konnte, die Angabe aber eine überall gleiche Größe bezeichnete. 1893 schließlich mussten auch die Uhren umgestellt werden.
Diese Veränderungen erfolgten oft recht reibungsarm und hatten den Vorteil, dass sich das Kilo Kartoffeln nun überall gleich bemaß, zwei Meter Stoff überall die gleiche Länge hatten, der Preis sich in leicht vergleichbaren Mark und Pfennig ausdrückte und es 12 Uhr Mittag eben in Aachen und Memel zur gleichen Zeit schlug. All diese Vereinheitlichungen ließen den Nationalstaat enger zusammenwachsen, banden ihn aber auch in eine transnationale Ordnung ein.
Gleichzeitig nahm die Verfügbarkeit von Medien nicht nur zu, sondern diese umfassten bald auch weit mehr als nur gedruckte Schriften. In den 1910er Jahren hatte die Bevölkerung Zugang zu allen möglichen Bildformen, Tonaufzeichnungen und Filmen. Die Medien übermittelten ein unübersehbares Angebot an Information und Unterhaltung; oder anders ausgedrückt: Von kostbaren lateinischen Bibeldrucken bis hin zu pornographischen Postkarten gab es nun alles. Ob Politik, Vereine, Lobbyorganisationen oder Unternehmen – sie erreichten mittels Medien ihre »Zielgruppen«, wie man es heute ausdrücken würde. Nur so konnten sich Menschen effektiv, dauerhaft und auch über große Entfernungen hinweg organisieren.
In den folgenden Kapiteln möchte ich zunächst die räumlichen Grundlagen darstellen, da das Kaiserreich als zentraler mitteleuropäischer Staat über sehr viele Nachbarstaaten verfügte. Das bedeutete auch, dass es breite »Kontaktzonen« mit den Nachbarn gab. Die vergleichsweise sehr offenen Grenzen erlaubten einen intensiven Austausch. Daraufhin befasse ich mich mit dem Ausbau der Infrastruktur, dem Verkehrs- und Kommunikationswesen, sowohl im Hinblick auf transnationale Verbindungen als auch auf die nationale Verdichtung. Den Medien, die eine so wichtige Rolle in allen Vernetzungsprozessen spielen, gehört das anschließende Kapitel. Das Augenmerk liegt dabei vor allem auf den technisch basierten Massenmedien, vom Buchdruck bis hin zu Tonaufzeichnung und Film.
Der politische Wille war für die Grenzziehung des Kaiserreichs verantwortlich gewesen, aber damit gab es noch lange kein Bewusstsein für dieses neue Deutschland, welches ja letztlich ohne historisches Beispiel war. Gleichzeitig mit der Integration im Inneren erfolgte aber auch eine Internationalisierung, die zunächst langsam in Gang kam, dann aber nach 1880 zunehmend dynamisch wurde. Die Nationalbewegung in Deutschland, die 1871 bereits mehrere Generationen alt war, musste und wollte sich der politischen Realität anpassen. Was aber geschah mit den alten regionalen Identitäten? Überhaupt stellte sich die Frage, wo der Einzelne im großen Gefüge stand. Daher werde ich neben der Nationalbewegung die gleichzeitig florierende Heimatbewegung betrachten. Beide kamen – kaum überraschend – ohne moderne Medien nicht aus, um sich zu organisieren und ihre Ideenwelt zu verbreiten. Das fünfte Kapitel betrifft den Kolonialismus und die imperialen Ansprüche des Kaiserreichs, die beide zwar dazu dienen sollten, die nationale Souveränität auf überseeische Territorien auszudehnen, damit aber keinen erweiterten Nationalstaat schufen. Vielmehr wurden auf allzu oft gewalttätige Weise Gebiete in das europäisch dominierte System von Handel und Politik gezwungen, die sich ihm wohl kaum freiwillig und zu diesen Bedingungen und diesem Zeitpunkt angeschlossen hätten.
Anschließend möchte ich anhand zweier Beispiele die Vernetzung von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie deren Effekte