Das vernetzte Kaiserreich. Jens Jäger

Das vernetzte Kaiserreich - Jens Jäger


Скачать книгу
damit veranschaulichen, dass ein staatlicher Apparat, der wie kaum ein anderer (mit Ausnahme des Militärs) als allein innenpolitisch bestimmt erscheint, ebenso nach »außen« vernetzt war wie eine soziale und politische Emanzipationsbewegung, die ohnehin sehr starke Impulse durch ihre grundsätzlich internationale Ausrichtung erhielt.

      Wenngleich die Tatsache massiv zunehmender Vernetzung (und Verdichtung) sich sowohl innerhalb der Grenzen des Staates zeigte, ja, ihn als Nationalstaat erst »erlebbar« machte, als auch transnational bis global niederschlug, dürfen wir das Phänomen nicht einseitig betrachten. Vernetzung erfolgte keineswegs immer allgemein und transnational mit Tendenz zur Globalisierung; sie konnte auch dazu dienen, dass man sich explizit von einem wie auch immer definierten »Außen« abschloss. Gleichermaßen konnte sie den Bürgern Sorgen machen, indem sie den Einzelnen noch unscheinbarer und unsouveräner erscheinen ließ, als er oder sie sich gegenüber dem letztlich anonymen Staat ohnehin fühlte.

      Das Fremde rückte durch die Vernetzung dichter heran, ohne dass das übermittelte Wissen seine Fremdheit abzumildern vermochte oder automatisch mehr Toleranz nahelegte. Das Gegenteil konnte die Folge sein – das ließ sich auch im Kaiserreich beobachten. Radikaler Nationalismus sowie Rassismus grassierten gerade ab den 1890er Jahren, und das lag wohl auch und gerade an der gewachsenen Verflechtung des Kaiserreichs mit der Welt. Hinzu kam die Vorstellung, dass sich Nationen und Völker in einer scharfen und tendenziell gewaltsamen Konkurrenz miteinander befänden. Angesichts dessen hatten es Vorstellungen eines friedlichen Wettbewerbs, dessen Ergebnisse letztlich allen zugutekämen, wesentlich schwerer. Dementsprechend blieb auch die Friedensbewegung, die an sich immer international gewesen war, eine Minderheitenangelegenheit im Kaiserreich und anderswo.

      1 Wer und was gehörte zum Kaiserreich?

      Ein Blick auf die Landkarte

      Geschichte findet immer in geographischen Räumen statt, sie sind ein wichtiger Faktor für das Ausmaß und die Verdichtung von Netzwerken sowohl physischer als auch virtueller Art. Die räumliche Ordnung gibt Hinweise auf Möglichkeiten ökonomischer Verflechtungen, bildet aber auch den Rahmen für die Bewegung der Bevölkerung. Diese einfachen Tatsachen dürfen nicht übersehen werden. Das 1871 gegründete Kaiserreich umfasste etwa 540 000 Quadratkilometer. Es reichte vom nördlichen Rheinufer bei Basel im Südwesten bis zur Königsau (heute: Kongeå) in Jütland. Im Westen berührte es den 6. Grad östlicher Länge (bei Aachen, Malmedy und westlich von Thionville in Lothringen), und im Nordosten reichte es bis Eydtkuhnen (heute: Tschernyschewskoje) in Ostpreußen, ein gutes Stück jenseits des 22. Grades östlicher Länge.

      Grundsätzlich war und ist die geographische Lage des Kaiserreichs und seine Grenzziehung aufgrund der komplexen Form schwer in Worten zu beschreiben. Erst Landkarten erzeugen eine bildliche Vorstellung von einem Staat. Kein allgemeines Lexikon kommt ohne Landkarten aus, so auch die im Kaiserreich verbreitetsten Enzyklopädien von Brockhaus8 und Meyer9. Beide entstanden vor Gründung des Kaiserreichs 1871 und erlebten zahlreiche überarbeitete Neuauflagen. Der Brockhaus kam zwischen 1875 und 1879 in der 12. Auflage heraus; dies ist also die erste, die vollständig im Kaiserreich konzipiert und gedruckt worden war. Beim Meyer war dies die 3. Auflage von 1873–78. Naturgemäß enthielten beide Lexika umfangreiche Artikel über Deutschland sowie für einen Überblick zur geographischen Lage auch Landkarten. Letztere können für die Zeit hohe Autorität beanspruchen und spiegeln das aktuelle gesicherte Wissen jener Zeit wider. Die »Physikalische Karte von Deutschland« der 14. Auflage des Brockhaus (1893–1897) – die also etwa in der Mitte des Zeitraums von 1871 bis 1914 entstand – soll die nun folgenden Überlegungen leiten.

      Physikalische Karte von Deutschland, Brockhaus 1893–97. Die Karte verdeutlicht die geographische Lage des Kaiserreichs in Mitteleuropa und die Abwesenheit klarer ›natürlicher‹ Grenzen.

      Physikalische Karten stehen selten im Verdacht, politischen Zwecken zu dienen. Dennoch erstaunt es ein wenig, dass die Karte im Westen bis jenseits von Paris reicht und Teile Englands einschließt. Im Osten zeigt sie nicht unerhebliche Teile Österreich-Ungarns. Im Süden sehen wir die Adria und im Norden Dänemark samt Südschweden. Freilich kann das praktische Gründe haben, da die politische Grenze des Kaiserreichs sehr weit im Nordosten lag. Dies machte eine besonders weit nach Osten reichende Darstellung notwendig, die dann bei der üblichen rechteckigen Kartenform den restlichen darzustellenden Raum festlegte. Keinesfalls durch solche Notwendigkeiten zu rechtfertigen ist aber der Umstand, dass die Karte sich nach Süden und Westen so weit ausdehnt. Vielleicht lag dem Pragmatismus zugrunde, falls beispielsweise eine physikalische Karte von Mitteleuropa bereits vorlag, die dann einfach mit den neuen Grenzen des Kaiserreichs überschrieben wurde (doch ein Stichwort »Mitteleuropa« gibt es im betreffenden Brockhaus nicht).

      So wird die Karte ungewollt zum Beleg für die gleichsam naturgegebene Vernetzung Deutschlands im Herzen Europas. Im Westen öffnet sich das Kaiserreich zum Pariser Becken, im Osten setzt sich die Tiefebene über die russische Grenze fort; Böhmerwald, Erz- und Riesengebirge gehören sowohl zum Kaiserreich als auch zu Österreich-Ungarn. Etwas klarer sieht es im Norden aus; dort liegen die Nord- und Ostsee, aber Jütland teilen sich das Deutsche Reich und Dänemark. Im Süden bilden die Alpen, die auf der Karte in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, einen natürlichen Sperrriegel, der freilich selbst von Staatsgrenzen durchzogen ist. Die Vielfalt der Landschaft und ihrer Beschaffenheit ist augenfällig (wenngleich das für die meisten großen Flächenstaaten nichts Besonderes ist). Doch ohne politische Dimension ist die Karte keineswegs – immerhin enthält sie Ortsnamen, die eine Orientierung ermöglichen, und auch die Grenze ist für das mit der Lupe bewaffnete Auge schwach gestrichelt eingezeichnet.

      Dennoch lässt sich der »Physikalischen Karte von Deutschland« etwas mehr entnehmen als lediglich eine zeitgenössische geographische Verortung des Landes in Europa. Deutlich wird nämlich, dass bestenfalls Nord- und Ostsee eindeutigere geographische Grenzen darstellten. Größere Flüsse spielten für die Staatsgrenzen des Kaiserreichs keine Rolle. Denn die Staatsgrenzen (das Kaiserreich besaß über 5400 Kilometer an Landgrenzen) waren aufgrund historischer Entwicklungen entstanden – einige blieben jahrhundertelang recht stabil, etwa die im Westen zu den Niederlanden oder jene im Südwesten zur Schweiz. Andere waren 1871 frisch gezogen worden, vor allem die Grenze zu Frankreich. Die wenigen geographischen Hindernisse, die es gab, also Meere, Gebirge, Flüsse, trennten wiederum die Menschen nicht nur voneinander, sondern waren immer auch Kontaktzonen. Meere ließen sich mit Schiffen (motorisierten zumal) leicht überwinden, Flüsse sind von jeher auch Verkehrswege – sie waren bezüglich der Kapazität dem damaligen Straßenverkehr sogar überlegen. Gebirge schließlich sind von Straßen und Pässen durchzogen.

      Diese leicht überwindbaren Barrieren hatten auch Folgen für die Sprachgrenzen, denn wo die Geographie wenige klare Trennungen nahelegt, sind diese notorisch schwer zu ziehen und zudem lebensfremd, da in Grenzzonen stets zwei Sprachräume ineinander übergehen. Deutschsprachige oder einen deutschen Dialekt sprechende Menschen lebten außerdem 1871 auch außerhalb des Kaiserreichs. In der Schweiz und Österreich-Ungarn fanden sich die größten Gruppen. Innerhalb der Grenzen von 1871 gab es zudem dänische, französische, polnische Muttersprachler, um auch diesbezüglich nur die zahlenmäßig wichtigsten Gruppen aufzuzählen. Innerhalb der politischen Grenzen des Kaiserreichs lebten also weder alle »Deutschen« (wie auch immer man diese trennscharf definieren mochte), noch lebten innerhalb des Kaiserreichs nur Deutsche. Die Staatsgrenze definierte zwar einen rechtlichen und politischen Binnenraum, doch war die Grenze durchlässig; die Gebiete diesseits und jenseits davon hatten oft sprachlich, kulturell und ökonomisch viel gemeinsam.

      Das Kaiserreich besaß Landgrenzen zu Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, der Schweiz, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden und Dänemark. Jenseits der Nordsee lagen im Norden Norwegen (bis 1905 Teil Schwedens) und im Westen Großbritannien. Direkte nördliche Nachbarn über die Ostsee hinweg waren Schweden sowie das Zarenreich (seine finnischen Teile). Mit acht direkten Anrainerstaaten hatte das Kaiserreich die meisten Nachbarn in Europa. Daran änderte sich zwischen 1871 und 1914 nichts.

      Veränderungen auf der politischen Landkarte Europas ergaben sich allerdings aus der relativen Schwäche des Osmanischen Reichs


Скачать книгу