Posttraumatische Belastungsstörungen. Mareike Augsburger

Posttraumatische Belastungsstörungen - Mareike Augsburger


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stehen bzw. als Trigger wirken können.

      • ICD-11: Das Vermeiden von Gedanken, Erinnerungen an das Ereignis muss erkennbar sein und/oder das Vermeiden von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die an das Ereignis erinnern.

      • Im DSM- 5 (C-Kriterium) kann Vermeidung durch zwei Formen sichtbar sein: (1) Vermeidung traumabezogener Gedanken oder Gefühle oder (2) Vermeidung von Erinnerungen an das traumatische Ereignis. Mindestens ein Kriterium (1 oder 2) muss erfüllt sein.

      Wahrnehmung einer gegenwärtigen Bedrohung (Übererregung)

      Wenn ein Mensch Stress erlebt, löst dies eine Kaskade physiologischer Reaktionen aus (z. B. Kampf- und Fluchtreaktion bei Bedrohung). Bei einer PTBS bleibt der Körper in diesem anhaltenden Alarmzustand gefangen – es findet keine Regulation auf Normallevel mehr statt. Diese Symptomgruppe nennt sich Übererregung oder Hyperarousal – der Körper kann jederzeit auf eine vermeintlich erneut auftretende bedrohliche Situation reagieren. Die Folge sind erhöhte Schreckhaftigkeit und eine übermäßige Schreckreaktion (z. B. Zusammenzucken bei kleinen Geräuschen) sowie Begleiterscheinungen wie Schlafstörungen oder Konzentrationsschwierigkeiten.

      • ICD-11: Diese Symptomgruppe wird Anhaltende Wahrnehmung einer erhöhten gegenwärtigen Bedrohung genannt, die sich durch Hypervigilanz oder eine überhöhte Schreckreaktion auf Stimuli zeigen kann (z. B. unerwartete Geräusche).

      • Im DSM- 5 wird dieses Symptommuster als Übererregung oder gesteigerte Reaktivität (Kriterium E) formuliert. Es müssen mindestens zwei der folgenden Kriterien entweder nach dem traumatischen Ereignis begonnen oder sich verschlechtert haben: (1) Irritierbarkeit oder Aggression, (2) risikohaftes oder zerstörerisches Verhalten, (3) Hypervigilanz, (4) erhöhte Schreckreaktion, (5) Konzentrationsschwierigkeiten, (6) Schlafstörungen.

      1.3 Zusätzliches D-Kriterium nach DSM-5

      Im DSM-5 müssen zusätzliche Kriterien erfüllt sein, die nach ICD-11 eher dem Bereich KPTBS zuzuschreiben sind. Es handelt sich hierbei um die Symptomgruppe D Veränderungen in Gedanken und Gefühlen. Die Symptomgruppe beschreibt das Vorhandensein stark negativer Gedanken oder Gefühle, die nach dem Erleben des traumatischen Ereignisses begonnen oder sich danach intensiviert haben. Dazu gehören (1) Unfähigkeit, Kernaspekte des traumatischen Ereignisses zu erinnern, (2) übermäßig negative Gedanken und Annahmen über das Selbst oder die Welt, (3) überzogene Schuldzuschreibungen hinsichtlich der Verursachung des traumatischen Ereignisses, gegenüber einem selbst oder anderen Personen, (4) negativer Affekt, (5) vermindertes Interesse an Aktivitäten, (6) Gefühle der Isoliertheit, (7) Schwierigkeiten positive Gefühle zu empfinden. Es müssen zwei der Untergruppen 1–7 für eine Diagnose nach DSM-5 zutreffen (APA 2015).

      1.4 Dauer der und Beeinträchtigung durch Symptome

      Um zu verhindern, dass eine (normal auftretende) Belastungsreaktion fälschlicherweise als PTBS diagnostiziert wird oder nur geringfügig ausgeprägte Symptome pathologisiert werden, gibt es Kriterien für Schweregrad und Dauer der Symptome. In beiden Klassifikationssystemen sind ähnliche Kriterien zu finden: Zur Dauer der Symptome erfordert die ICD-11 ein Vorhandensein über mehrere Wochen, im DSM-5 kann eine Diagnose erst nach mindestens einem Monat seit Beginn der Symptome gestellt werden. Nach ICD-11 muss weiterhin eine funktionale Beeinträchtigung vorliegen (z. B. in persönlichen, familiären, sozialen Bereichen, bezüglich der Ausbildung oder des Jobs oder in anderen wichtigen Funktionsbereichen). Ähnlich formuliert das DSM-5 (Kriterium G): Die Symptome müssen zu funktioneller Beeinträchtigung (z. B. sozial oder beruflich) führen oder Leid hervorrufen (vgl. APA 2013; WHO 2018).

      1.5 Unterformen der PTBS nach DSM-5

      Im DSM-5 kann zwischen zwei Typen der PTBS differenziert werden (APA 2015):

      Dissoziativer Subtyp

      Es wird unterschieden, ob ein dissoziativer Subtyp vorliegt. Dissoziation wird definiert, wenn eines der folgenden Kriterien als Reaktion auf traumabezogene Stimuli auftritt:

      • Depersonalisation: Empfindung, sich außerhalb des oder losgelöst vom eigenen Körper zu befinden (z. B. Gefühle, sich wie in einem Traum zu befinden oder dass dies nicht einem selbst passiert).

      • Derealisation: Empfindungen von Unwirklichkeit, Distanz oder Verzerrung (z. B. Dinge sind nicht real).

      Verzögerter Beginn

      Abschließend wird im DSM-5 klassifiziert, ob der Beginn der Symptomatik verzögert war, d. h. die Kriterien für eine Diagnose traten mindestens sechs Monate nach Erleben des traumatischen Ereignisses auf. Dies gilt für das vollständige Kriterienset; einzelne Symptome können vorher bestanden haben.

      Fallbeispiel

      Ein 45-jähriger Patient ist mit 21 Jahren in der ehemaligen DDR aus politischen Gründen inhaftiert worden und war 6 Jahre lang im Gefängnis. Er berichtet:

      »Ich bin nicht mehr so, ich bin anders geworden. Ich versuche, vieles nicht mehr an mich herankommen zu lassen. […]. Aber wenn was rankommt, überreagiere ich, aggressiv z.T. und intoleranter dadurch. […]. Ich habe Probleme mit allem, was so irgendwie an Zwangsmechanismen erinnert. Entweder erstarrt man davor und wagt nicht, sich zu rühren oder man begehrt dagegen auf und nimmt das absolut nicht ernst. Die Zwischenform, das, was angemessen wäre, das fehlt bei mir. Und das wirkt sich natürlich am Arbeitsplatz aus. Ich bin mehr arbeitslos, als dass ich einen Job habe, weil ich die Hierarchien nicht verinnerlichen kann. Da schaffe ich es irgendwie nicht, die angemessene Reaktion zu finden … Und wenn ich dann wieder sehe, dass die [ehemaligen Täter] es gut haben, das verursacht bei mir so ein massives Bauchgrimmen, dann bin ich 2, 3 Tage nicht ansprechbar, weil ich den Eindruck habe, die haben plötzlich wieder den Sieg. […]. Man muss doch die Leute auch mal ein bisschen foltern … So lange, wie ich lebe, werde ich alles hassen, was mit denen zu tun hat. […]. Meiner Frau gegenüber bin ich im Nichtverstehen manchmal sehr böse gekommen, sehr sehr böse […]. Man hatte die Opfermentalität, man hat einfach von der Umwelt erwartet, dass man verstanden wird. Aber das war ja nicht vorhanden, da gab es so eine Mauer des Schweigens, eine Mitschuld des Schweigens. Da hat man sich weiter eingeigelt […].«

      (Fallbeispiel aus Hecker und Maercker 2015, S. 553)

      2.1 Entstehung und klinisches Bild

      Anfang der 1990er Jahre schlug die amerikanische Psychiaterin Herman erstmalig die Diagnose der komplexen PTBS vor. Sie hatte festgestellt, dass Betroffene von sich wiederholenden oder langanhaltenden von Menschen verursachten Traumata (z. B. jahrelanger Missbrauch in der Kindheit, allgemein Typ-II-Traumata) ein viel komplexeres Muster an Problemen aufwiesen, die durch die Diagnose der klassischen PTBS nicht hinreichend erklärt werden konnten (Herman 1992). Nach Hermans Vorschlag wurde die KPTBS als Diagnose in der Fachliteratur kontrovers diskutiert. Im aktuell gültigen DSM-5 entschied man sich gegen die Aufnahme einer eigenständigen Diagnose. In der ICD-10 gab es bereits eine Vorgängerdiagnose (F62.0 Anhaltende Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastungen), die aber keine PTBS-Symptomatik erforderte. In der klinischen Praxis wurde sie aufgrund ihrer Zuordnung zu den Persönlichkeitsstörungen häufig als wenig nützlich wahrgenommen und in der ICD-11 entsprechend angepasst.

      Betroffene mit komplexer Symptomatik zeigen Probleme in der Emotionsregulation, gesteigerte Impulsivität und Stimmungsschwankungen (z. B. Hoffnungslosigkeit und starke Verzweiflung). Auch die Selbstwahrnehmung verändert sich (z. B. tiefer Selbsthass, selbstverletzendes Verhalten, mangelnde Selbstfürsorge, Suizidalität) «, ebenso wie die Beziehungsfähigkeit zu anderen (dysfunktionale Beziehungsmuster, starkes Misstrauen, häufige Beziehungsbrüche). Häufig haben Betroffene eine verzerrte Wahrnehmung des Täters oder der Täterin, die in einer paradoxen Idealisierung, aber auch in starken Rachegefühlen münden kann. Zusätzlich treten Störungen des Bewusstseins auf


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