Flügelschatten. Carolin Herrmann
Ich rappele mich auf und mache mich auf den Weg, um meine restliche Beute in Sicherheit zu bringen. Zielstrebig husche ich durch das Unterholz, überquere den Fluss und schleiche tiefer in den Wald hinein. Hier, wo die Bäume dichter zusammenstehen und nur vereinzelt Sonnenstrahlen durch das Dach dringen, habe ich mir mein Quartier errichtet. Es ist ein uralter Baum, knorrig, mit einem breiten Stamm und mächtiger Krone. Hoch oben habe ich vereinzelte Bretter quer über Äste gelegt und auf diese Weise eine Plattform errichtet. Blitzschnell klettere ich den Stamm empor, mit meinen Füßen finde ich genau die richtigen Vertiefungen in der Rinde, meine Hände halten sich schon fast von selbst an den Ästen fest und ich ziehe mich daran hoch.
In meinem Versteck, gut getarnt durch das undurchdringliche Geäst und die schützenden Blätter, angekommen, verstaue ich meine Beute sorgfältig. Hier oben habe ich einige Körbe aufgehängt, die mir als Vorratsbehälter dienen, Kräuter hängen zum Trocknen an Zweigen, ein leicht zerfetzter Umhang dient mir als Decke und ein luftiges Tuch verdeckt die kleine Holzkiste mit meinen größten Kostbarkeiten. Zufrieden lasse ich mich auf einem dicken Ast nieder und hole sie hervor, klappe vorsichtig den Deckel auf und betrachte meine wundersamen Funde. Einst war auch ein Spiegel darunter, den ich jedoch weggeworfen habe. Ich sehe mich nicht gern an. Dann denke ich nur wieder an den Albtraum, den ich vor langer Zeit hatte, der, in dem meine Augen sich dunkelrot verfärbten.
Als ich den Spiegel im Fluss versenkte, habe ich die flachen, abgerundeten Steine mit dem seltsamen Muster gefunden, die im Licht ein wenig schimmern. Sie liegen ganz unten in der Kiste, gleich neben den Glasprismen aus dem Dorf. Ich streiche über die Feder, die einem Vogel mal aus dem Nest gefallen ist, fahre über raue Tannenzapfen und nehme zum Schluss die hübsche Brosche in die Hand, die ich vor einiger Zeit habe mitgehen lassen. Sie war einfach zu schön, um sie einem dieser Menschen in die Hände fallen zu lassen. Ich glaube, sie soll eine Rose darstellen, deren Blätter vergoldet sind. Behutsam lege ich sie zurück und wickle die Kiste wieder in das Tuch ein. Sie hat ein verrostetes Schloss, leider besitze ich keinen passenden Schlüssel dazu. Dennoch macht allein das Wissen darum sie noch besonderer. Es gefällt mir, die Dinge zu verstecken und von Zeit zu Zeit verträumt zu betrachten und mir Geschichten zu ihnen auszudenken. Wie der Vogel gerade fliegen lernte, als er seine Feder verlor, oder dass die Steine Wünsche erfüllen können und eigentlich einmal Sterne waren, die vom Himmel gefallen sind.
Ich springe von meinem hohen Sitz und lande leichtfüßig im Gras, das meinen Aufprall dämpft. Dann laufe ich zum Wasser, um die Netze zu kontrollieren, die ich ausgeworfen habe, um damit Fische zu fangen.
Die Sonne geht schon als ein glühender Ball am Horizont unter, als ich mit einem reichen Fang zurückkehre. Diesmal ist nur ein Netz von der Strömung mitgerissen worden, das zweite ist zwischen den Steinen hängen geblieben, so wie ich es wollte, und hat mir tatsächlich drei Goldschwimmer beschert. Besser gelaunt mache ich mich auf den Rückweg, nage die Fische ab und vergrabe die Gräten. Satt und zufrieden mache ich es mir zum Schlafen gemütlich. Unruhig wälze ich mich jedoch hin und her. Ich kann es nicht genau erklären, dieses dumpfe Gefühl in meiner Magengegend, eine ungute Vorahnung. Etwas macht mir Angst.
Große Angst.
5
Laute Geräusche lassen mich aus dem Schlaf schrecken. Sofort bin ich hellwach und lausche angestrengt. Ein Rascheln, Zweige, die unter schweren Stiefeln krachend zerbrechen. Ich springe auf und zücke eines meiner geschärften Messer. Hastig klettere ich höher in den Baum, dorthin, wo die Äste dünner und fragiler sind, denn ich will so weit wie möglich von den Geräuschen entfernt sein. Was, wenn es der Händler ist? Wenn er mich wieder mit dem Seil fesseln will? Sorgenvoll klettere ich auf dem Ast weiter vor, damit ich besser in die Tiefe spähen und sehen kann, was dort unten vor sich geht. Gedanken rasen in meinem Kopf durcheinander und ich weiß nicht, was ich tun soll. Davonlaufen? Ihm entgegentreten? Mein Versteck verteidigen? Noch während ich die Möglichkeiten abwäge, durchbrechen schon Gestalten das Unterholz. Vor Schreck bewege ich mich zu hastig, zu schnell. Ich will zurückweichen, mich tiefer im Blattwerk verstecken, als der Ast unter mir bedrohlich knackt und im Bruchteil eines Augenblicks weiß ich, dass es zu spät ist. Er zerbricht unter meinem Gewicht und ich falle. Panisch rudere ich mit den Armen, hoffe, etwas zu packen zu bekommen, stürze jedoch zu Boden.
Meine Flügel!
Es ist keine Zeit, zu versuchen, sie zu benutzen, denn die Gestalten haben mich bereits bemerkt. Nicht bloß eine. Es sind ganze fünf hochgewachsene Männer, die sich auf mich zubewegen. An ihrer Spitze läuft der Händler von heute Morgen, der eine Lampe schwenkt. Ihr Schein erreicht mein Gesicht und blendet meine Augen. Entsetztes Keuchen und sogar ein Schrei zerreißen die Nacht. Ich weiß nicht, welches Geräusch von mir und welches von ihnen kommt.
Der Moment, in dem ich nachdenken könnte, verstreicht. Mein Körper handelt intuitiv. Ich klaube das Messer vom Boden auf und wirble herum, mein provisorischer Dolch findet sein Ziel: das Herz eines Angreifers. Erschrocken keuchen die anderen auf.
Einen Wimpernschlag lang hängt tödliche Stille über dem Wald. Ein Feuerrabe krächzt laut.
Dann schreit der vordere Mann entsetzt auf und deutet auf mich: »Das ist sie! Was habe ich gesagt?!«
Oh nein! Bitte nicht! Augenblicklich schärfen sich meine Sinne aufs Äußerste, mein Verstand läuft auf Hochtouren, jeder einzelne Muskel in mir spannt sich an. Angriffsbereit. Dann gleitet mein Blick zu den scharfen Waffen, die sie über ihren Schultern tragen. Es sind grobe Äxte und schwere Knüppel, die sie nun drohend schwenken.
Na und?! Ich kann mich wehren!
Mit bloßen Händen?
Mein Blick huscht über die Angreifer, ich analysiere sie blitzschnell. Ich glaube ihren pochenden Puls zu sehen, höre ihren Herzschlag und spüre das Blut in ihren Adern strömen. Ich bin mir ihrer Lebendigkeit so überdeutlich bewusst, dass alles andere verblasst, als würde der Wald die Luft anhalten, als würde alles innehalten und nur die klopfenden Herzen der Menschen dröhnen in meinen Ohren. Ich bekomme eine Gänsehaut. Jemand atmet langsam, hörbar aus.
Du kannst sie töten.
Wir starren einander an, entschlossen, fest. Wimpernschläge werden zu Ewigkeiten. Der Mann, den ich schon kenne, hat die Arme warnend ausgebreitet, um seine Leute zurückzuhalten.
Lebendig, so lebendig.
Ich versuche, nicht zu dem toten Mann zu sehen, dem ich meine Waffe ins Fleisch gerammt habe. Ich habe jemanden umgebracht! Es war ein Reflex, aber noch nie zuvor habe ich einen Menschen getötet. Glaube ich zumindest. Auf einmal bin ich mir da nicht mehr so sicher …
Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie einer der Männer sein Gewicht verlagert, und sofort weiche ich zurück. Wieder blicke ich zu ihren Waffen, eine Axt, Knüppel, Messer. Was soll das alles? Mein Blick huscht hin und her, ich versuche die Lage zu verstehen. Ich weiche vor ihnen zurück, während der Händler mich direkt anspricht:
»Ganz ruhig, Kleine. Wir machen dir keinen Ärger, wenn du mit uns kommst.«
Seine Worte erreichen mich nicht richtig, werden zu einem sinnlosen Rauschen in meinen Ohren, bedeutungslos. Ich sehe nur ihre Furcht einflößenden Gesichter, höre den Klang seiner dröhnenden Stimme und wie sie näher kommen. Mir ist es gleich, was er sagt, ihre Augen brüllen die Wahrheit in mein Gesicht, mein Verstand schreit dazu: Feind, Feind, Feind!
Ein kurzer Blick, ein Gedanke, dann drehe ich mich um und stürze davon, höre nicht auf ihre Rufe, achte nicht auf die Schritte, wie sie hinter mir hereilen. Ich rase wie von einer Flutwelle verfolgt weiter, fliege förmlich zwischen den Bäumen hindurch, springe über Wurzeln und Äste, schlage Haken, damit sie mich verlieren. Ich überlasse meinen Beinen die völlige Kontrolle, höre auf nachzudenken und stürme blindlings davon.
Ich schlage absichtlich andere Wege ein und versuche ihnen so zu entkommen. Doch sie geben nicht auf. Von allen Seiten kommen sie und ich lege noch ein