Flügelschatten. Carolin Herrmann

Flügelschatten - Carolin Herrmann


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      Sie sind aus Stein und Holz gefertigt, mit strohgedeckten Dächern und Fenstern, durch die man hineinblicken kann, und sie sehen groß und massiv aus. Bunte Punkte bewegen sich zwischen ihnen hin und her, ein kreisrunder Platz in ihrer Mitte muss wohl etwas wie das Zentrum zu sein, nach dem sich alles richtet. Er fällt mir sofort auf, ein freier Fleck inmitten des Häusermeeres, und dorthin strömen alle Gestalten. Auch die, denen ich bis hierher gefolgt bin.

      Vorsichtig schleiche ich näher und beginne, den Abhang hinunter­zuklettern. Was mag das wohl sein?

      Der seltsame Ort ist auf allen Seiten vom Wald umgeben, der im Norden und Osten längst nicht mehr so dicht und wild ist, wie ich es gewohnt bin. Er scheint in unmittelbarer Entfernung ein Ende zu nehmen. Das verunsichert mich. Ich habe den Wald noch nie verlassen …

      Deshalb fühle ich mich auch seltsam nackt, als ich mich den Gebäuden nähere. Wo kann ich mich verstecken?

      Im Schutze eines Hauses wage ich mich weiter heran, drücke mich eng an die Wand hinter mir. Meine Blicke huschen wachsam hin und her, so viele Geräusche umgeben mich, so viele neue Sinnesein­drücke, dass ich scharf Luft holen muss. Gedanken rasen mit einer fast schon schmerzhaften Geschwindigkeit durch meinen Kopf, alles ist mir ein wenig zu laut, ein wenig zu grell. Farben brennen in meinen Augen, merkwürdige Stimmen und Laute, die ich nie zuvor gehört habe, erfüllen die Luft.

      Mein Herz setzt für einen Moment aus, als ich die Wesen, die über die gepflasterten Straßen wandeln und sich dabei fröhlich unterhalten, entgeistert anstarre. Sie sehen ja aus wie … ich!

      Sie haben Beine und zwei Arme und einen Kopf mit langen Haaren. Und diese seidige, schrecklich dünne Haut, die auch mich umgibt. Mir klappt der Mund auf. Andererseits bewegen sie sich ganz anders! Ihr Rücken ist durchgedrückt, sie gehen kerzengerade und aufrecht. Vor allem scheint sich keiner von ihnen durch irgendetwas bedroht zu fühlen, dabei sind es so viele. So viele auf einem Haufen. Wie können sie sich nicht einmal umsehen, wie können sie derartig sorglos dahinschreiten?

      Ich drücke meinen Rücken durch und nehme die Schultern zurück, versuche mich ihrer steifen Art anzupassen, falle jedoch schnell wieder in die alte Haltung. Irgendwie fühle ich mich auf diese Weise sicherer.

      Der Wald ist groß, unendlich. Es kam mir vor, als wäre er alles, was es auf dieser Welt gibt. Nichts anderes außer grüne Wiesen, Bäume und moosbedeckte Lichtungen. Offensichtlich habe ich mich gewaltig getäuscht.

       Geh lieber wieder weg! Das ist nichts für dich! Das sind Menschen!

      Menschen. Ich probiere das Wort in meinen Gedanken aus und es kommt mir flüchtig bekannt vor. Bin ich auch ein Mensch? Denn auch wenn sie mir auf den ersten Blick ähneln, entdecke ich beim näheren Hinsehen zahlreiche Unterschiede. Ihre Augen sind anders. Sie leuchten nicht kräftig und dunkel wie meine und auf keinen Fall sind sie violett. Die Menschen reden die ganze Zeit, ihr Gewirr aus Stimmen ist fast schon zu laut für meine sensiblen Ohren und ich nehme Gesprächs­fetzen auf, denen ich keinen rechten Sinn entlocken kann.

      »… müssen sicherlich ein Vermögen wert sein!«

      »Um Himmels willen, bist du sicher? Ich wusste nicht …«

      »Hast du schon gehört, dass die Tochter von …«

      »Oh, guten Tag, ich hatte nicht mit Ihnen gerechnet! Wollen Sie …«

      Ich schaffe es kaum, mich auf eine Sache zu konzentrieren, schon ist da etwas Neues, das mich ablenkt. Das Leben der Menschen ist bunt und hektisch, sie eilen gehetzt über das Pflaster, haben kaum Zeit. Alle sind in Aufruhr, alle sind in Bewegung.

      Gleichzeitig faszinieren sie mich. Sie sind so … anders.

      Ich schleiche um das Haus herum und finde mich auf einer belebten Straße wieder. Lachend laufen Kinder an mir vorbei, aus den Fenstern blicken Gesichter, an Leinen, die von Dachfirst zu Dachfirst gespannt sind, hängen bunte Kleidungsstücke. Karren werden an mir vorbeigerollt, laute Stimmen rufen einander etwas zu, die Menschen winken. Ich drehe mich im Kreis, versuche alles in mir aufzunehmen, all die neuen Dinge.

      Ein Netz aus staubigen Straßen windet sich durch das Dorf, die kleinen Häuser aus Sandstein mit den hohen Schornsteinen und grünen Fensterläden stehen dicht gedrängt aneinander, Blumen blühen vor den Fenstern, ein verführerischer Duft dringt aus dem Inneren.

      Für den Großteil der Dinge habe ich nicht einmal einen Namen! Das Dorf ist chaotisch und unruhig und das löst einerseits eine unglaubliche Furcht in mir aus, weil alle durcheinander rufen, gleichzeitig macht dies es mir leichter, mich am Rande im Schatten der Häuser unbemerkt weiter vorzuwagen.

      Es fühlt sich an, als könnte ich für den Rest des Tages nichts anderes tun, als die merkwürdigen Wesen zu beobachten. Die Menschen sind alle verschieden, ihre Haare gibt es in den unterschiedlichsten Farben und Längen, ebenso ihre Haut und Augen. Aber sie entmutigen mich auch. Denn trotzdem entdecke ich niemanden, der so aussieht wie ich oder der sich auch nur annähernd so leise, flink und angriffsbereit bewegt.

       Weil du nicht wie sie bist.

       Warum nicht? Was bin ich dann?

      Kaum gedacht, verwerfe ich den Gedanken gleich wieder, denn die Gebäude um mich herum verändern sich. Verschnörkelte Buchstaben in bunter Schrift, abblätternde Farbe auf Schildern, kunstvoll verzierte Zeichen über den Türen. Ich wundere mich selbst, warum ich es lesen kann, denn es fällt mir nicht allzu schwer, die seltsamen Symbole zu entschlüsseln und zu Worten zu formen. Ich gelange auf einen großen Platz mit einer mächtigen, imposanten Statue in der Mitte. Sie zeigt einen grimmig blickenden Mann mit gekreuzten Schwertern, zu dessen Füßen Wasser in einem Becken plätschert. Ein Junge spritzt ein Mädchen nass, das kreischend und kichernd vor ihm davonläuft. Überall sind Stände mit bunten Markisen aufgebaut, Händler rufen mit lauten Stimmen und preisen die Waren an. Neugierig nähere ich mich ihnen. Bunte Glasprismen an einer Schnur aufgereiht, wozu soll das gut sein? Interessiert nehme ich einen dieser Gegenstände in die Hand, betrachte ihn und lege ihn dann auf meinen Kopf. Dazu vielleicht? Unmöglich. Das Licht spiegelt sich auf wundersame Weise in den Steinen, es malt einen zarten Regenbogen auf meine Hand und ich drehe sie begeistert hin und her.

      Ein entsetzter Aufschrei lässt mich zusammenfahren. Die Frau mir gegenüber starrt mich mit schreckgeweiteten Augen an, presst sich eine Hand auf den Mund. Mein Herz verkrampft sich. Hat sie Angst vor mir?!

      »Krupferl, frischer Krupferl!«

      Ich fahre zusammen und wirbele herum. Ein Mann am Stand gegenüber wirbt mit lauter Stimme die Leute an und entblößt eine breite Reihe von Zähnen, als sich zwei junge Mädchen mit Körben voller Blumen am Arm nähern.

      »Krupferl für die jungen Damen?«

      Ich wende mich ab und stolpere zurück.

      »Halt! Die Kette!«, ruft die Frau mir nach, ich kann nicht auf sie hören. Das Dorf wird mit der Zeit beängstigender! Die Häuser sind groß und es ist, als wollten sie mich unter sich begraben, als erdrückten sie mich. Die ganzen Menschen machen mir Angst, ihre Masse bedrängt mich und jetzt, wo ich mich zwischen sie gewagt habe, werden rasch mehr und mehr von ihnen auf mich aufmerksam.

      »Bleib gefälligst stehen!«

      Ich springe verschreckt zur Seite, als die Händlerin mir nachkommt, und rempele dabei eine füllige Frau mit zwei kleinen Kindern am Rocksaum an. Besorgt klappe ich die riesigen Schwingen eng an meinen Körper, damit sie nicht im Weg sind oder schlimmstenfalls weiter einreißen können. Die Geräusche schwellen mehr und mehr zu einem einzigen, undurchdringlichen Summen und Brummen an, die Stimmen sind schrilles Kreischen in meinen Ohren und meine Knie beginnen zu zittern. Panisch wirbele ich herum.

       Du gehörst nicht hierher. Sie sehen, dass du anders bist.

      Ja, sie müssen es sehen! Ich merke, dass die Frau mich noch immer im Blick hat, sie deutet auf mich und die Leute drehen sich nach mir um, reißen entsetzt die Augen auf.

      Töte sie. Wie den Fuchs. Wie wäre es, wenn du ihre Kehle aufreißt?


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