Flügelschatten. Carolin Herrmann
nichts sagen.
Frustriert wende ich mich von dem Fluss und mir selbst ab. All das erinnert mich nur daran, dass ich mich an sonst nichts erinnere. Ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Bauch lässt mich aufjaulen.
Hunger! Such dir etwas zu essen!
Noch eine dieser merkwürdigen Anweisungen, die ich nicht ganz verstehe, die ich jedoch befolge, weil sie mir offenbar das Leben retten. Zumindest weiß diese Stimme besser als ich, was in mir vorgeht und was ich zu tun habe. Außerdem klingt sie so gebieterisch, dass ich gar nicht anders kann, als mich aufzurichten und mich den Bäumen auf der anderen Seite zuzuwenden.
Dann blicke ich wieder zurück, dorthin, wo ich hergekommen bin. Soll ich dahin zurück? Warum? Mit einem Mal fühle ich mich schrecklich hilflos und verlassen, weil ich überhaupt nicht weiß, was ich eigentlich tun soll.
Hunger!
Erleichtert über die Stimme in meinem Kopf verdränge ich diese Gedanken. Sie gibt mir einen Auftrag, etwas, was ich tun kann, anstatt zu grübeln. Nur, was kann ich essen? Auch diesmal rettet mich der Instinkt.
Such dir Kräuter und Wurzeln im Boden.
Erleichtert grabe ich mit den Händen im schlammigen Untergrund des Flussufers und befördere kleine Wurzeln von Wasserpflanzen zutage. Sie sind braun und knorrig, aber ich beschließe, mich darum nicht zu sorgen und mich gänzlich auf die Anweisungen zu verlassen. Zögernd betrachte ich sie und stecke mir dann mit zusammengekniffenen Augen blitzschnell eine in den Mund. Mit der Zunge fahre ich darüber. Schmeckt … nicht schlecht. Schon nach wenigen Bissen fühle ich mich viel besser, der dumpfe Schmerz lässt nach. Doch da ist noch immer ein gewisses Verlangen in mir, wie ich unzufrieden feststelle. Ein Teil meines Verstandes sagt mir, dass das genug gewesen ist, um den Hunger und den Durst zu stillen. Ein anderer Teil möchte mehr. Keine Wurzeln, kein Wasser. Ich weiß nicht was, nur dass ich nicht vollends gesättigt bin. Wütend schlage ich mit der Faust auf das Wasser und es spritzt zu allen Seiten auf, sodass ich einen Satz zurück mache. Es macht mich alles so zornig! Jeder Gedanke fühlt sich schwerfällig und träge an, als wäre er fast fertig geformt, doch dann fehlt ein letztes Wort, ein letztes Teil, um ihn zu vervollständigen und gänzlich zu denken.
Was nun? Die Sonne, inzwischen ein leuchtend roter Ball, taucht alles in ein unwirkliches oranges Licht, bevor sie langsam hinter den hohen Baumkronen verschwindet. Es wird kühler und ich schlinge fröstelnd die Arme um meinen Körper, um die Wärme zu speichern. Ruhelos huscht mein Blick hin und her.
Such dir einen Schlafplatz, er muss sicher sein.
Nachdenklich betrachte ich die leichte Strömung und überlege, ob ich den Fluss durchqueren soll. Andererseits muss er wohl recht tief sein und ich bin mir nicht sicher, ob ich schwimmen kann. Beim Anblick des plätschernden Wassers, das über die kleinen Felsen hüpft, fühle ich mich irgendwie unwohl …
Um eine andere Lösung bemüht, entdecke ich mehrere flache Felsen, an denen sich das Wasser bricht und schäumend weiterrauscht. Ermutigt laufe ich zu der Stelle und beginne, flink von Fels zu Fels zu hüpfen. Es ist viel einfacher, als ich dachte, mein Körper bewegt sich mit einer wunderbaren Leichtigkeit und schnell habe ich das andere Ufer erreicht, wo ich mich für einen hohen Baum entscheide. Ohne weiter darüber nachzudenken, strecke ich die Hände nach den unteren Ästen aus. Flink klettere ich an ihnen empor und mache es mir auf einem der oberen Äste bequem. Aus einem unbestimmten Grund weiß ich, dass ich im Schlaf nicht herunterfallen werde. Mit einem tiefen Seufzer strecke ich mich aus, aber meine Muskeln wollen sich einfach nicht entspannen, meine Sinne sind auf höchste Alarmbereitschaft gestellt und ich finde keine Ruhe. Warum kann ich mich an nichts erinnern? Warum bin ich hier? Fragen über Fragen und die allergrößte: Was soll ich nur machen? Warten? Worauf?! Ich fühle mich schrecklich allein, wie das einzige Wesen hier zwischen den hohen Wipfeln, so …
Einsam, informiert mich mein Gehirn über das ungewohnte Gefühl. Einsam. Einsam, einsam, einsam. Ich denke es so lange, bis das Wort seine Bedeutung verliert und nur noch eine seltsame Aneinanderreihung von Buchstaben ist, die keinen Sinn ergeben. Traurig schlinge ich die Arme um mich und schließe die Augen.
Vielleicht ist das alles nur ein unwirklicher Traum, vielleicht muss ich mich nur wieder in diese dunkle Schwärze fallen lassen, und wenn ich die Augen aufschlage, bin ich wieder an einem völlig anderen Ort und weiß alles wieder.
Ich versuche, das unangenehme Gefühl in mir drin zu ignorieren, das Verlangen nach etwas anderem, was ich noch nicht gefunden habe. Stattdessen bemühe ich mich, in den Schlaf hinüberzugleiten, wenngleich meine Sinne kaum zur Ruhe kommen, meine Ohren nehmen jedes noch so kleine Geräusch wahr und die Gerüche der Nacht kitzeln meine Nase.
Warum?
2
Der nächste Tag ist anstrengend. Nach einem spärlichen Frühstück mache ich mich daran, meine Umgebung zu erkunden, denn mein Instinkt sagt mir, dass es wichtig ist, alle Winkel genau zu kennen, jeden Pfad und jeden Weg, um sich bei Gefahr augenblicklich in Sicherheit bringen zu können. Also streife ich umher, husche leise und flink durchs Unterholz, springe über Wurzeln und Gräben. Anfangs macht es mir Spaß, überall hinzulaufen, beinahe schwerelos durch den Wald zu rennen, verträumt auf einer Lichtung zu liegen … mit der Zeit macht es mich nur noch traurig. Alles ist irgendwie ohne rechten Sinn, ich streune lustlos durch die Gegend, esse etwas, wenn ich Hunger habe, trinke, wenn ich Durst habe, schlafe, wenn ich müde bin. Sie langweilen mich rasch, diese gleichen Tage. Wie lange wird das wohl noch so weitergehen?
Im Wald habe ich viele Tiere gesehen – keines ist wie ich. Ich habe versucht, wie sie zu laufen, trotzdem passe ich nicht in den Bau eines Fuchses, die Hasen verliere ich irgendwann im Unterholz und größer als einer dieser Vögel bin ich ohnehin. Es stimmt mich wehmütig, wie sie ihre Flügel ausbreiten und einfach davonfliegen, wenn ich sie von ihren Zweigen aufschrecke. Eine ganze Schar von ihnen steigt dann in den Himmel auf und verschwindet.
Wie gern würde ich ihnen folgen, von dort oben auf den Wald mit seinen hohen Baumwipfeln hinabblicken, um mich nicht darum sorgen zu müssen, was unten auf der Erde geschieht.
Traurig blicke ich auf meine Flügel zurück, die ich nun nicht mehr zu bewegen wage. Ich werde all das hier wohl zu Fuß erkunden müssen.
Schon bald finde ich mich viel besser im Wald zurecht, weiß, wo ich die schmackhaftesten Beeren finden kann und wie der Fluss das Gebiet durchzieht. Obwohl ich diese Stellen häufig aufsuche, lässt mich ein dumpfes Ziehen in meiner Magengegend nicht in Frieden. Ruhelos streife ich zwischen den dicht stehenden Bäumen umher, meine Schritte sind auf dem weichen Waldboden nicht zu vernehmen, der Wind streicht mir um die Nase und ich lasse mich von meinem Geruchssinn leiten.
Jeder noch so kleine Luftzug trägt die verschiedensten Gerüche zu mir und ich kenne sie alle.
Mit einem Mal versteift sich mein Körper. Die Muskeln verkrampfen sich und ich nehme einen neuen Duft wahr, so verführerisch, dass es mich vollkommen überrascht. Ich atme tief ein. Er ist neu und doch uralt. Er kommt mir bekannt vor. Mein Körper übernimmt die Kontrolle, noch ehe ich weiß, dass ich sie ihm überlassen habe.
Ich will zu diesem Geruch. Ich muss.
Was kann es nur sein, das so unglaublich gut riecht? Ich beginne zu zittern, überwältigt von diesem Eindruck. Ungewollt blecke ich die Zähne und verenge meine Augen. Das Kratzen in meiner Kehle ist plötzlich und überdeutlich wieder da, wenngleich es an den letzten Tagen nur ein störendes raues Gefühl im Hals war. Meinen Beinen muss ich nicht befehlen, was zu tun ist. Ich renne bereits durch den Wald, pfeilschnell rase ich zwischen den Bäumen hindurch, springe geschickt über Wurzeln, dem Duft nach, der meine Sinne gleichzeitig vernebelt und auf das Äußerste schärft. Es fühlt sich an, als würde ich mich in ein neues Wesen verwandeln, schneller, konzentrierter, zielstrebiger.
Der Geruch wird stärker und ich bemerke, wie Speichel in meinem Mund zusammenläuft, ignoriere