Flügelschatten. Carolin Herrmann
von dem ich nicht glauben kann, dass es mein eigener ist. Er sieht seltsam aus und ist mir fremd.
Müsste ich mich nicht an diese Beine erinnern, schlank und dennoch kräftig? An die nackten Füße oder die einfache Hose, die ich trage? Soll das tatsächlich zu mir gehören?
Unsicher ziehe ich die Schultern hoch, wodurch ich einen Schatten am Rande meines Bewusstseins wahrnehme. Als ich meinen Kopf ein Stück herumdrehe, erkenne ich zwei riesige dunkle Schwingen, die aus meinem Rücken hervorragen. Gezackt sind sie und laufen am oberen Ende spitz zu, derart scharf, dass ich, als ich mit dem Finger über sie fahre, ein scharfes Brennen verspüre und einen feinen Schnitt in meiner Haut entdecke, der sich schnell schließt wie die anderen Wunden.
Die Flügel sind dunkel und knöchern, ich spüre die feinen Muskeln, die sie durchziehen und die ich auch bewegen kann, so wie ich meine Finger bewege, dennoch hebe ich nicht vom Boden ab, als ich mit ihnen vorsichtig flattere. Die dünne Haut zwischen den Gelenken ist zart und an einer Stelle weit eingerissen, sodass ich erschrocken aufhöre, mit ihnen zu schlagen, aus Angst, die Haut könnte weiter einreißen. Sie fühlen sich seltsam unwirklich an und ich kann nicht glauben, dass sie echt sind. Es kommt mir vor, als wäre ich gerade eben geboren worden, als hätte es nur Dunkelheit gegeben, aus der ich aufgetaucht bin. Als hätte ich sie mit einem Blinzeln vertrieben und in dieses brennende Licht verwandelt. Da war nichts vorher, dessen bin ich mir sicher. Ein dunkler See, aus dem ich entstanden bin.
All das um mich herum … Ich weiß nicht genau, was ich zuerst ansehen, was ich zuerst berühren soll. Die vielen Namen dazu … nur wenn ich etwas genauer ansehe, fallen sie mir ein. Wie ein Wort, das ich zwar kenne, aber von dem ich nicht weiß, was es bedeutet. Ich muss es zuerst zu seinem Gegenstand bringen. Wie ein Puzzle, das auf die richtigen Teile wartet. Es fällt mir schwer, sie zusammenzufügen.
Knack.
Jegliches Denken setzt aus. Mein Körper verkrampft sich, ich wirbele herum und springe auf, angriffsbereit, wachsam. Ein Knurren dringt aus meiner Kehle.
Am Rande der Bäume reckt ein Hase seine zitternde Nase in die Luft und hoppelt auf meine Reaktion hin erschrocken davon. Ich verharre einige Augenblicke in dieser Haltung, jeden einzelnen Muskel angespannt, bereit … bereit wofür?
Angreifen oder weglaufen.
Wieder zucke ich zusammen. Da war diese Stimme in meinem Kopf. Sie spricht zu mir. Nervös sehe ich dem Tier hinterher. Es ist nicht wie ich. Wer bin ich?
Kein Hase, ein … ich bin … Sosehr ich mich auch anstrenge, mir fällt nichts ein. Nur meine Lippe platzt auf, weil ich heftig auf ihr herumbeiße.
Ein wütender Schrei entfährt mir, gellend und laut, und ein Schwarm Vögel flattert aufgeschreckt aus den Bäumen in die Höhe. Es sind so viele, wieso bin ich allein?
Erst jetzt löse ich meine verspannte Haltung. Es geschah alles so plötzlich, der Körper handelte wie von selbst. Der Körper. Mein Körper. Es fühlt sich an, als würde ich haltlos durch diese Ansammlung an Gliedmaßen taumeln. Als wären diese Gedanken aus dem Nichts aufgetaucht und man hätte sie in einen beliebigen Körper gepflanzt. Ich fühle mich ausgestoßen, nicht richtig.
Seufzend vergrabe das Gesicht in den Händen. Ein seltsames Kratzen im Hals lässt mich stocken. Mein Bauch gibt ein merkwürdiges Grummeln von sich. Erschrocken presse ich die Hand darauf, aber es lässt nicht nach.
Hunger. Du hast Hunger und Durst.
Zum Glück weiß ich, was das ist und was ich jetzt tun muss: etwas zu essen suchen und einen Fluss, aus dem ich trinken kann.
Vielleicht fällt mir gleich auch alles andere wieder ein! Da gibt es noch andere Dinge, oder? Mit neuem Mut rappele ich mich auf.
Schnell lässt das Zittern meiner Knie nach. Ja, diese Beine sind außerordentlich flink, sie lassen sich leicht bewegen und es fühlt sich gut an. Und sie sind schnell. Ich beschleunige, versuche sie rascher voreinander zu setzen und dann fährt mir der Wind durch das Gesicht und die Haare, presst die Luft aus meiner Lunge. Ein Stechen taucht in meiner Seite auf, als ich die Beine weiter ansporne, schneller, schneller. Es ist wie ein Rausch. Ich fliege dahin, die Bäume verblassen an meinen Seiten zu einem grünlichen Farbwirbel und der keuchende Atem in meinen Ohren ist alles, was ich hören kann.
Langsam ziehen sich meine Mundwinkel nach oben. Lächeln, ich lächele. Es gefällt mir. Ich fühle mich unglaublich, wie ich über die Wurzeln springe und dahinjage, unaufhaltsam, frei.
Übermütig springe ich einen Abhang hinab, breite die Flügel aus und hoffe, dass ich mich mit ihnen in die Luft schwingen kann, doch der Wind hebt mich nicht empor, sondern lacht mich aus und ich krache hart auf den Waldboden. Sofort sehe ich nach dem Riss im linken Flügel, besorgt, dass ich ihn schlimmer gemacht habe. Lang und breit ist er, er hat beinahe die Hälfte der Haut zerrissen, tiefer ist er offenbar nicht geworden – von selbst heilt er nicht und ich schaffe es kaum, mich weit genug zu verrenken, um ihn zu berühren und zu untersuchen. Frustriert wende ich mich ab und ignoriere die nutzlosen Dinger. Was bringen sie mir denn, wenn ich damit gar nicht durch die Lüfte gleiten kann? So ein Irrsinn!
Ich kann genauso gut laufen!
Kurze Zeit später jedoch weiß ich nicht mehr wohin mit mir. Ziellos irre ich umher, wobei das Kratzen in meiner Kehle unerträglich wird, und ständig greife ich mit der Hand an meinen Hals, in der Hoffnung, die Schmerzen zu lindern.
Trotzdem treibe ich meine Beine dazu an, weiterzugehen. Immer weiter. Irgendwann muss ich etwas finden … Jedes Mal, wenn nur das leiseste Knacken im Unterholz ertönt, kauere ich mich verschreckt hinter einen Baumstamm. Es geschieht ganz von selbst. Es fühlt sich richtig an, sicher. Unruhig schleiche ich weiter, geduckt und aufmerksam. Bald schon bin ich froh über die Geräusche, denn dann kann ich wenigstens für einen Moment innehalten. Die Erde unter meinen Füßen bewegt sich, alles verschwimmt irgendwie, der ganze Wald zittert vor meinen Augen und ich kann ihn nur schemenhaft wie durch einen Schleier aus Nebel wahrnehmen.
Als ich schon das Gefühl habe, vor Schmerzen umzukommen, vernehme ich endlich ein leises Plätschern. Nur noch von reiner Willenskraft angetrieben, schleppe ich mich vorwärts, bis ich das kühle Flussbett erreiche, wo ich erleichtert auf die Knie sinke und zum Rand krieche. Gierig strecke ich die Hände in das klare Wasser und spüre die Energie, die dadurch strömt. Es rinnt mir beinahe zwischen den Fingern hindurch, als ich etwas unbeholfen davon schöpfe und in großen Schlucken trinke. Schon bald lässt der Schmerz nach und ich seufze erleichtert. Wenngleich das Kratzen langsam verschwindet, fühlt sich mein Hals weiterhin rau an. Ich fühle mich nicht … gesättigt.
Als ich erneut die Finger in den Fluss tauche, starrt mich ein seltsames Gesicht an.
Verschreckt zucke ich zurück und ein Knurren dringt aus meiner Kehle. Panisch lege ich die Hand an den Hals und versuche, mich zu beruhigen. Dennoch muss ich schwer schlucken, bevor ich mich langsam wieder vorbeuge. Unsicher sehe ich mir das Gesicht genauer an. Mein Gesicht.
Ich strecke die Hand aus und berühre den ruhigen Wasserspiegel. Das Bild verschwimmt. Feine Ringe breiten sich von dem Punkt aus, wo ich es berührt habe, und das Gesicht zerfließt, um kurz darauf wiederaufzutauchen.
Zögernd betaste ich die makellose, fast schon farblose Haut, die mich umgibt, betrachte die aufgesprungenen dunkelroten Lippen, die geschwungenen Augenbrauen und die kantigen Kieferknochen. Doch all diese Dinge sind eigentlich nur nebensächlich. Trotzdem versuche ich krampfhaft meinen Blick auf sie zu lenken, um nicht auf das andere zu achten, was mir noch in meinem Gesicht auffällt.
Die Augen.
Groß und von solch einem kräftigen tiefvioletten Ton, dass es mir Angst macht, wenn ich sie ansehe. Wie kann man sich vor seinen eigenen Augen fürchten? Auch wenn ich mich an nichts erinnern kann, habe ich das Gefühl, dass diese Augen alles andere als gewöhnlich sind.
Ich wende den Blick ab und betrachte den restlichen Körper ein wenig genauer: Die Haut ist bleich, fast weiß, zumindest dort, wo sie nicht von Erde und Gras verdreckt ist. Nur unter dem Schulterblatt zeichnet sich eine dünne silbrige Linie ab, die nicht