Flügelschatten. Carolin Herrmann
helfen ihm jetzt nichts mehr, das weiß er. Sie zum Kampf herauszufordern wäre töricht, dumm. Was hat er für eine Wahl? Kalter Schweiß tritt auf seine Stirn und er kann überdeutlich spüren, wie er über seine Wange läuft. Sie ist gekommen.
Er wusste, dass sie kommen würde.
Zwei in dunkle Umhänge gehüllte Gestalten betreten den beeindruckenden Thronsaal. Ihre Gesichter sind unter den Kapuzen verborgen, trotzdem glaubt er zu spüren, wie ihn silbrige Augen höhnisch anfunkeln, hasserfüllt, machtgierig. Die ganzen letzten Wochen schon hatte er kaum eine Nacht schlafen können, hatte sich unruhig in seinem Bett hin und her gewälzt und sich schließlich in seinem Thronsaal verborgen. Dieser Raum in seiner Festung war besser geschützt als jeder andere, trotzdem hatte er weitere Wachen vor der Tür positionieren lassen, hatte die Verteidigungslinien verstärkt und die schweren Eisentüren verriegeln lassen. Und dennoch wachte er weiterhin schweißgebadet aus seinen Träumen auf, klammerte sich an seinen Thron und versuchte krampfhaft, seinen rasselnden Atem zu beruhigen.
Nur ein Traum. Ihm kann nichts geschehen. Sie kann ihn nicht überlisten. Er hat sich so gut geschützt wie nur möglich.
Diesmal ist es kein Traum. Die vordere Gestalt durchquert den Raum zügigen Schritts, selbstbewusst, energisch. Die zweite verbirgt sich halb hinter ihr, sie ist kleiner und er hat schon von ihr gehört.
Schwer schluckt er, seine Kehle ist wie ausgetrocknet. Lange hat er standgehalten. Sehr lange. Doch dann tauchte etwas Neues auf. Eine neue Waffe, mit der er nicht gerechnet hat.
Ein paar wenige Schritte von dem prunkvollen Thron entfernt bleiben beide Gestalten stehen. Der König richtet sich auf und versucht, sein Gesicht hart werden zu lassen, aber seine Stimme zittert.
»Calypso.«
Der Klang des Namens ist eiskalt und fährt wie ein Messer durch den Raum. Sofort fällt die Temperatur weiter und ein frischer Wind bauscht die schweren Vorhänge vor den Fenstern auf. Die vordere Gestalt schlägt die Kapuze zurück. Haare wie aus flüssigem Silber, streng geflochten, kommen zum Vorschein. Auf ihnen sitzt eine Krone, gefertigt aus weißen Kristallen. Sie leuchtet kalt und doch wunderschön wie eine frisch geschliffene Klinge. Wie die Augen der Frau, die ihm gegenübersteht. Silbrig wie der Mond draußen am nachtschwarzen Himmel.
Sie lächelt frostig.
»Erraten.«
Dann dreht sie sich zu der Gestalt hinter sich um. Der König muss scharf die Luft einziehen, als deren Gesicht entblößt wird. Er hat es nicht glauben wollen: Es ist noch so jung, vielleicht neun Jahre alt, mit einem Blick, derart unheimlich, dass ihn ein Schauer überläuft. Er ist voller Gier und Vorfreude. Vorfreude auf das Töten.
Mit der Zunge fährt sich das Kind über die Zähne und grinst mordlustig. Die angriffslustige Art passt entsetzlich wenig zu dem Mädchen, das es noch ist.
Ein unruhiges Feuer flackert in ihren Augen auf und ihr Blick huscht herüber zu der stolzen Frau.
»Darf ich, Herrin?«
Diese dreht sich zu dem König um, legt den Kopf ein wenig schräg. Er hat das Gefühl, etwas sagen zu müssen, nach seinen Wachen rufen zu müssen, doch er weiß, dass das keinen Zweck hat. Calypso wäre nicht hier, wenn noch ein einziger seiner Männer dort draußen leben würde.
Das hier ist eine Sache zwischen ihm und ihr. Darauf lief es die ganze Zeit hinaus. Nun muss er sich ihr stellen. Das wissen sie beide.
Calypsos eisiges Grinsen wird breiter und lächelnd nickt sie dem Mädchen zu.
1
Ich schlage die Augen auf. Es ist, als würden alle Sinne gleichzeitig zurückkehren und mit solch einer Heftigkeit auf mich niederprasseln, dass mir schwindelig wird.
Es ist hell. So hell, dass ich blinzeln muss und mir Tränen in die Augen schießen. Wirbelnde Farben vermischen sich zu einem einzigen Strudel und sind kaum noch voneinander zu unterscheiden. Sie brennen sich in meine Lider und ich schaffe es kaum, einen Namen für sie alle zu finden.
Ein Summen und Piepen in meinen Ohren, das von einem Rauschen abgelöst wird – der Wind? Alle Geräusche sind entsetzlich laut und drücken auf mein Trommelfell, sodass ich das Gefühl habe, es müsse gleich zerreißen. Ein schwerer Geruch steigt mir in die Nase, kitzelt sie. Ich brauche eine Weile, bis ich ihn zuordnen kann … Es muss der Geruch von Erde und Tau sein … Jetzt spüre ich die angenehme Wärme auf der Haut, die von den gleißenden Sonnenstrahlen kommen muss. Sie löst ein leichtes Kribbeln in mir aus, das sich von meinen Fingerspitzen über meine Arme bis in meine Brust ausbreitet. Ich fühle, wie das Herz darin pocht. Rasch. Nervös.
Das Kribbeln wandert auch über meinen Rücken zu meinen Beinen und bis zu den Zehen, bis ich mir meines ganzen Körpers bewusst bin. Diese unglaubliche Fülle an Eindrücken überwältigt mich.
Wieder ein Blinzeln. Panisch huschen meine Blicke hin und her. Über mir breitet sich der Himmel aus, endlos und weit. Wolken sind dort oben verstreut, sie bewegen sich langsam über mich hinweg. Nervös drehe ich den Kopf ein Stück nach links. Grashalme stechen hervor, nehmen alles ein.
Ich spüre, wie mein Atem schneller geht. Das sanfte Kribbeln verschwindet. Angst. Kalte Finger, die nach mir greifen, und eine Gänsehaut, die mich am ganzen Körper überkommt.
Zögernd hebe ich eine Hand und halte sie in mein Blickfeld. Zarte, blasse Haut, fast durchsichtig, und feingliedrige Finger. Ich fasse nach meinen Haaren, wickle eine Strähne auf und betrachte auch sie. Sie ist … weiß. Weiß ist das Wort. Vorsichtig richte ich mich auf und erstarre. Blicke mich unsicher um.
Ich liege auf einer grünen Wiese und um mich herum blühen kleine blaue Blümchen. Sie recken ihre Köpfchen dem Sonnenlicht entgegen, das funkelnde Kreise auf das Gras malt. Rings um mich herum stehen Bäume, dicht zusammengedrängt bieten sie Schutz. Sie sind hoch und mächtig und an ihren Zweigen hängen saftig grüne Blätter. Das Gras unter meinen Händen ist warm und weich und ich fahre stockend darüber.
Es sieht schön aus. Ruhig. Die Geräusche klingen langsam ab, werden leiser, treten in den Hintergrund. Die Farben leuchten nicht mehr dermaßen entsetzlich, sodass ich sie endlich ansehen kann.
Und doch …
Ich habe das Gefühl, ich sollte mich wundern. Die eisige Angst sitzt in meinem Nacken und will nicht lockerlassen. Was will sie? Warum lässt sie mich nicht los?
Dieser Ort … oh. Mir fällt ein, warum ich erschrocken bin. Warum ich es sein muss. Denn ich kenne diesen Ort nicht. Die Farben, das Gras, die Bäume, diese Namen kommen mir in den Sinn. Ich habe sie schon einmal gesehen, nur nicht hier. Hier war ich noch nicht.
Krampfhaft versuche ich mich daran zu erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Ich schließe die Augen, bemerke kaum, wie ich dabei die Finger ins Gras kralle und wie sich mein gesamter Körper anspannt. Wie macht man das? Sich erinnern … Fieberhaft durchforste ich mein Gehirn, ohne etwas zu finden. Alles ist schwarz, tiefe, undurchdringliche Schwärze. Sollte man nicht wissen, was man gemacht hat? Ich weiß es nicht … In meinem Kopf ist keine Erinnerung, kein schwaches Leuchten, ja nicht einmal ein Funken.
Ich reiße die Augen wieder auf und blicke mich erneut um. Bäume, Bäume, Bäume. Nichts sonst. Ein Wald. Warum bin ich hier? Auf wackligen Beinen richte ich mich auf, langsam, unsicher. Sie fühlen sich schrecklich zittrig an, die Knie beben und ich taumle einige hölzerne Schritte vorwärts, wobei meine Muskeln einstimmig protestieren und sich verkrampfen. Meine Beine geben unter mir nach und ich falle zu Boden.
Erschrocken stelle ich fest, dass meine Arme mit rötlichen Striemen versehen sind, die sich hinaufwinden wie das Geflecht einer Kletterpflanze. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, denn ich weiß nicht, woher die Wunden kommen. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich deshalb Schmerzen empfinden sollte und da beginnen sie auch zu brennen, die Kratzer. Jedoch nicht lange. Bald kann ich sehen, wie das Blut gerinnt und die Haut sich wieder schließt,