Flügelschatten. Carolin Herrmann

Flügelschatten - Carolin Herrmann


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eigene Achse, schneller und schneller. Überall sind Menschen, drängen sich dichter an mich, die wogende Masse spült mich davon, weiter auf den Brunnen zu, ich kann mich aus dem Strom nicht befreien. In meinen Ohren fiepst es und meine Augen brennen.

       Es ist leicht. Du bist schnell, sie sind unaufmerksam. Sie könnten sich nicht wehren.

      Mir ist schlecht, das ist alles zu viel. Ihr Lachen, es ist so laut, so breit, so beängstigend. Ihre Bewegungen, ausladend, wirr. Ihre Schritte unbeholfen und schwer, ihre Kleidung raschelt, sie riechen, die Gerüche brennen in meiner Nase. Stechendes Parfüm, viel zu süß. Gebäck, schwer und fettig. Schweiß, durchdringend und ätzend.

       Sie starren dich an.

      Bitte nicht! Sie sollen mich nicht sehen, sollen mich in Ruhe lassen! Weg, weg von mir! Meine anfängliche Begeisterung schlägt in wilde Panik um. Die Eindrücke, die ich vorhin aus sicherer Entfernung aufnehmen und verarbeiten konnte, brechen nun wie ein Sturzbach auf mich ein und mehr und mehr Wesen scharen sich auf dem Platz um mich, mustern mich, schrecken zurück. Schreie werden laut. Ich fühle mich, als hätte ich eben noch am Ufer gestanden und das rauschende Wasser betrachtet, doch ein falscher Schritt, ein übermütiger Satz und ich stürze in die reißenden Fluten, in denen ich zu ertrinken drohe. Wie soll ich hier wieder herauskommen?! Verzweifelt sehe ich mich um.

      Die Statue! Erleichtert eile ich auf sie zu, weiche den Entgegenkommenden aus, schlage Haken und husche zwischen Ständen hindurch. Endlich habe ich sie erreicht. Sie ist aus hellem Sandstein gehauen und durch die Konturen des Mannes, den sie darstellen soll, gibt es genügend Vertiefungen, an denen ich mich emporziehen kann. Ich springe auf den Rand des Beckens und setze einen Fuß auf den viel größeren steinernen der Statue.

      »Nicht! Bist du wahnsinnig? Jemand muss sie aufhalten!«, kreischt man hinter mir, ich halte nicht inne. Flink klettere ich hinauf, meine Füße finden rasch Halt, mit den Armen ziehe ich mich nach oben. Schon bald habe ich den großen Kopf erreicht und richte mich triumphierend auf. Auf diese Weise kann ich alles überblicken und für einen Moment das Menschenmeer unter mir lassen, der erdrückenden Enge entfliehen.

      In Windeseile fahre ich mit meinen Blicken die Wege entlang, präge mir das Muster der Straßen ein und versuche, mir inmitten der gleich aussehenden Häuser Orientierung zu verschaffen.

      Da, der rettende Waldrand. Er ist nicht so weit entfernt, wie ich dachte. Einige verwinkelte Gassen. Eine Querstraße. Um zwei Ecken. Mein rasender Gedankenstrom normalisiert sich ein wenig.

      Ich kann das schaffen.

      »Komm sofort zurück! Holt sie da runter!« Die Stimme der Händlerin erreicht mich und ich blicke unwillkürlich nach unten. Erstarre. Ein ganzes Knäuel aus Menschen hat sich um den Brunnen geschart und starrt zu mir empor. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie entgeistert oder wütend sein sollen.

      »Mama! Guck das mal an!«

      Ein kleines Mädchen mit langen kastanienbraunen Haaren zupft am Rock seiner Mutter und deutet aufgeregt zu mir herauf. Ich unterdrücke einen Schrei, hier oben kann ich mich jedoch nirgends verstecken. Die Mutter starrt mich verwundert an.

      »Allmächtiger! Oh nein, geh da weg!« Sie zieht ihre Tochter zurück, die neugierig zum Springbrunnen gelaufen ist und mit großen Augen zu mir aufsieht. Kalte Angst kriecht mir den Rücken hinab – ich sitze in der Falle! Die Menschen bleiben verwundert stehen, tuscheln aufgeregt.

      »Sieh mal, diese Augen!«

      »Wo kommt sie her?«

      »Wie ist sie da raufgekommen?!«

      Panisch beginne ich wieder nach unten zu klettern – wenn diese verflixten Flügel nur funktionieren würden! Dann könnte ich sie ausbreiten, davonfliegen und all die Menschen unter mir zurücklassen. Doch sie sind nicht zu gebrauchen, ich muss mich auf meine Beine verlassen. Sobald ich den sicheren Waldrand erreicht habe, können sie mir nichts mehr tun.

      Das ist mein Gebiet.

      Kurz bevor ich das Wasser im Brunnen erreiche, springe ich von der Statue hinunter, presse mich auf die Erde, sehe mich um und versuche, einen Fluchtweg zu finden.

       Weg! Lauf weg!

      Ein großer Mann mit Hut nähert sich mir. Besorgt ziehen Mütter ihre Kinder zurück, die mich anfassen wollen.

      »Wer bist du denn?! Weißt du nicht, dass man nicht auf einer Statue herumklettern darf?« Er macht noch einen Schritt auf mich zu. Will er mich angreifen?! Seine Stimme ist streng und barsch, seine Augen blitzen alles andere als freundlich. Panisch stolpere ich zurück. Ich muss flüchten, sofort!

       Sie sehen alle her! Sie schauen dich an! Du bist anders.

      »Verstehst du, was ich sage? Hallo?!«

      Mein Blick huscht hin und her, plötzlich packt mich der Mann an der Schulter und ich springe auf, aus meiner Kehle dringt unerwartet ein wütendes Knurren. Überrascht sieht er mich an und ich reiße mich los, drehe mich unter ihm weg und stürze davon. Die Menschen machen mir Platz und ich erklimme einen Baum, springe auf ein nahe gelegenes Dach, was Kreischen und Schreien hervorruft.

      »Halt! Komm sofort zurück!«, brüllt der Mann.

      Auf keinen Fall! Nichts und niemand kann mich aufhalten, um keinen Preis der Welt bleibe ich auch nur einen Wimpernschlag länger an diesem schrecklichen Ort!

      Ich spüre, dass sie mir folgen, aber sie können mich nicht einholen, denn ich bin schnell. Viel schneller als sie. Ich tauche in das Gewirr der Straßen ein und verschwinde ungesehen im Wald, wo ich nicht eher anhalte, bis ich nichts mehr höre außer dem Wind. Dann lehne ich mich keuchend und vor Angst zitternd gegen einen Baum.

      Ich spüre etwas Schweres in meiner Tasche und greife danach. Die Glasprismen! In der Aufregung habe ich ganz vergessen, sie zurückzulegen, und sie achtlos in meine Tasche gestopft. Verschreckt schleudere ich sie von mir.

      Dann besinne ich mich jedoch und laufe zurück, um sie im Gras zu suchen. Wenngleich sie den Menschen gehören, sind sie wunderschön und ich will sie behalten, um mich daran zu erinnern, dass sie zwar aussehen wie ich, doch trotzdem anders sind. Sie sind gefährlich und das darf ich niemals vergessen. Ich wende dem Dorf den Rücken zu und laufe wieder tiefer in den Wald hinein, wo die Dunkelheit mich verschluckt und ich vor ihren entsetzten Blicken sicher bin.

      4

      Tief atme ich die frische Luft ein. Der Wind streicht mir in einer sanften Brise um die Nase, das Gras kitzelt an meinen Füßen und ich höre einige Vögel entfernt in den hohen Baumwipfeln zwitschern. Es ist einer dieser Tage, wie ich sie liebe. Ein wenig kühl, etwas frisch, trotzdem nicht kalt. Er sprüht nur so vor Leben. Das weiche Gras duftet leicht und ich seufze wohlig. Viel Zeit ist seit dem Tag vergangen, an dem ich orientierungslos hier aufgewacht bin, wie viel, das weiß ich gar nicht genau. Die Tage verschwimmen ineinander und ich kann sie nicht mehr voneinander unterscheiden, versinke in der Wildnis des Waldes.

      Was ich weiß, ist, dass ich bisher meine Erinnerungen noch nicht wiedergefunden habe. Da ist diese gähnende Leere in meinem Kopf, tiefste Finsternis, die sich endlos weit erstreckt, und ich weiß nicht, ob ich in sie abgetaucht bin und alles, was vor ihr war, verloren habe, oder ob ich aus ihr entstanden bin und es vorher nichts gab.

      Wie ich es auch drehe und wende, der Wald ist alles, was ich habe.

      Ich krieche zu dem Abhang. Verdeckt von den hohen Gräsern kauere ich da und sehe hinunter auf die Häuser, die ich seither meide, auch wenn sie von hier ungefährlich wirken. Ich fühle mich sicherer, wenn ich sie beobachte, wenn ich sie im Auge behalte und nicht etwa überraschend von den Menschen angegriffen werden kann.

      Von hier oben sind sie bloß kleine Punkte, die geschäftig hin und her eilen. Ich schüttle den Kopf und robbe wieder zurück. Menschen werde ich nie verstehen. Wenngleich ich mir geschworen habe, mich von ihnen fernzuhalten,


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