Super reich. Polly Horvath

Super reich - Polly  Horvath


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Sie einen halb aufgegessenen Taco?», fragte er einen der beiden Polizisten übertrieben gastfreundlich und kramte in der Tüte mit Möhrengrün und fast leeren Chipstüten. «Er muss hier irgendwo sein. Ist noch fast das ganze Fleisch drin.»

      «Nein, danke.» Der andere Mann hob die Hand. «Ich habe gerade gegessen.»

      «Ein Stückchen Twinkie-Cremeküchlein?»

      «Nein, echt nicht.»

      «Ich hätte noch eine Flasche Blaubeersirup. Den hat wohl einer probiert und ihm hat’s nicht geschmeckt», sagte Mr Brown.

      «Darauf schwimmt schon Schimmel», sagte der Polizist.

      Mr Brown schraubte die Flasche auf und trank einen Schluck. «Bisschen herb!»

      «Zu ihren Söhnen, Mr Brown.» Der Polizist startete einen neuen Versuch.

      Als Mrs Brown die beiden Polizisten vernichtend ansah, tauschten sie einen Blick. Sie nahmen ihre Umgebung genau wahr: die abgewetzten Möbel, die schmutzigen Kinder in ihren verdreckten Lumpen, die Eiseskälte im Haus, Elises und Ruperts verängstigte Mienen – die anderen Kinder waren nacheinander die Treppe hochgeschlichen, nur fort von der Polizei und dem Zorn ihrer Mutter.

      «Wir möchten uns kurz mit ihnen unterhalten, Mrs Brown», sagte der eine Polizist. «So geht’s nicht weiter. Jeder weiß, dass Ihre Söhne Katzen entführen. Wir sollen durchgreifen, fordern die Leute.»

      «Klar. Wetten, dass all diese Leute ihre Katzen zurückbekommen haben?», sagte Mrs Brown. «Die Leute lassen ihre Katzen durch die Stadt streunen, wo sie in anderer Leute Hinterhöfe schleichen, aber deswegen werden weder die Katzenhalter noch die Katzen verhaftet. Wenn man seine Katze auf die Straße lässt, muss man sich nicht wundern, wenn sie hin und wieder verschwindet, würde ich sagen. Ihr piesackt immer die Armen, ihr taucht hier auf und brandmarkt meine Söhne als Diebe, obwohl ihr es nie beweisen könnt, stimmt’s? Wieso nutzt ihr eure Zeit nicht dafür, echte Truthähne für die Weihnachtsgeschenkkörbe ranzuschaffen statt unschuldige Bürger zu belästigen? Das wäre wirklich sinnvoll, das wäre Dienst an der Bevölkerung. Jedes Jahr das Gleiche: Wir bekommen einen Korb, der sich Weihnachtstruthahnkorb schimpft. Aber wo bleibt der Truthahn, frage ich mich. Es handelt sich ja wohl eher um ein Hühnchen, nicht mal um ein Brathähnchen.»

      «Ma’am, sie heißen einfach Weihnachtstruthahnkörbe, weil … also, weil man sie schon immer so genannt hat. In einigen Körben sind Truthähne, in anderen Hühnchen. Es kommt auf die Spenden an. So, und wo sind jetzt Ihre Söhne?»

      «Woher soll ich das wissen?», fragte Mrs Brown.

      «Sie sollen sich vorsehen, richten Sie ihnen das aus», erwiderte der Polizist. Er zuckte sichtlich resigniert die Schultern. «Wenn Mrs Fraser die Katze zurückbekommt, drücken wir diesmal noch ein Auge zu. Beim nächsten Mal nehmen wir Ihre Söhne mit.»

      «Mache ich, kein Problem», sagte Mrs Brown. «Wenn Sie Beweise hätten, säßen sie längst im Bau. Ich bin doch nicht von vorgestern.» Mit diesen Worten schlug sie den Polizisten die Tür vor der Nase zu.

      Nachdem sie abgefahren waren, flüsterte Elise: «Wie geht’s der Katze?»

      «Sie hinkt», antwortete Rupert ebenso leise, ohne nachzudenken.

      «Sie hinkt!», rief Elise entsetzt.

      «Wer hinkt?», bellte Mrs Brown und sah sie mit einer wahrhaft fürchterlichen Miene an.

      «Die Katze», flüsterte Rupert.

      «Wo?»

      «Im Werkzeugschuppen», wisperte er und wich an die Wand zurück.

      «Dann sieh zu, dass du sie los wirst!», kreischte Mrs Brown.

      «Eure Mutter ist hart wie ein Stein», sagte Mr Brown und prustete vor unterdrückter Freude über seinen eigenen Scherz. «Kennt ihr ihr Geheimnis? Sie hat keine Gefühle! HAR HAR HAR!» Er krümmte sich vor Lachen.

      «Sie hat ihre Wut gut im Griff», murmelte Dirk, der mit John durch die Hintertür zurückkam.

      Mrs Brown warf den beiden einen derart vernichtenden Blick zu, dass Mr Brown sein schallendes Gelächter hinunterschluckte und den Fernseher einschaltete. Als John und Dirk sich zu ihm auf das schäbige Sofa setzten, schlichen auch die anderen Kinder langsam wieder die Treppe herunter.

      Mrs Brown machte sich auf den Weg zur Küche, um die mitgebrachten Abfälle zu begutachten. Als sie an Elise vorbeikam, die wegen der verletzten Katze und dem Besuch der Polizisten leise weinte, fauchte sie: «Aufhören!»

      Elise steckte den Daumen in den Mund. Obwohl sie zu alt zum Daumenlutschen war, landete er manchmal dort, wenn ihre Mutter in der Nähe war.

      Rupert ging nach draußen und fand die Katze im Werkzeugschuppen vor, wo sie ihre Vorderpfote ableckte. Er nahm sie auf den Arm und ging zum Haus der Frasers, das zehn Blocks entfernt lag. Der Weg erschien ihm grauenvoll, weil er jeden Moment damit rechnete, dass der Polizeiwagen um die Ecke bog. Wenn die Polizisten ihn sahen, würden sie glatt ihn des Diebstahls beschuldigen. Rupert hatte solche Angst davor, dass er zweimal beinahe umgekehrt wäre, doch letztendlich fürchtete er sich noch mehr vor seiner Mutter. Zum Glück begegnete er niemandem außer einem Mann, der aus dem Bus stieg und mit dem Heimweg beschäftigt war, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was ein Kind der Browns mit einer Katze machte.

      Vor dem Haus der Frasers setzte Rupert die Katze behutsam ab und wollte sie so lange beobachten, bis sie sicher zur Tür gehumpelt war. Doch die Katze löste zwar nicht unbedingt eins ihrer neun Leben, aber doch wenigstens eine ihrer neun wundersamen Genesungen ein, denn sie hinkte nun überhaupt nicht mehr, sondern rannte von Rupert fort, so schnell ihre Pfoten sie trugen.

      Rupert fand das beruhigend, befürchtete jedoch gleichzeitig, die Katze könnte sich bis in alle Ewigkeit vor den Menschen fürchten. Möglicherweise hatte seine Familie ein Ungeheuer aus ihr gemacht, das jeden kratzte oder anfauchte, der ihr zu nahe kam. Sorgenvoll machte er sich auf den Heimweg.

      «Hast du die Katze zurückgebracht?», fragte Elise, die an der Haustür auf ihn wartete.

      «Ja, es geht ihr gut, sie hinkt nicht mehr. Geh», drängte er leise, denn seine Mutter kam gerade vom Spülen aus der Küche und ließ den Blick schweifen, ob es nicht jemanden gab, den sie zusammenstauchen konnte.

      Elise lief nach oben zu ihrem Bett.

      «Wieso hat das so lange gedauert?», fragte seine Mutter. «Wir haben schon gegessen.»

      Es gab nie genug für alle. Wenn das Essen fertig war, schlangen sie es umstandslos hinunter. Die ganze Familie war ständig hungrig, doch da er jetzt auch noch das Abendessen verpasst hatte, fühlte Rupert sich, als sei er kurz vorm Verhungern. Wie lange konnte man auf diese Weise hungern, überlegte er, während er sich zum Bett schleppte, bevor der Körper seine eigenen Knochen fraß? Nach dem Einschlafen träumte er die ganze Nacht davon, knochenlos über den Boden zu huschen.

      Am nächsten Morgen wartete Rupert vor der Schule auf Elise, die später loslief als Rupert, der gerne zu früh da war. Als sie näherkam, sagte er: «Sollen wir es doch noch mal versuchen und uns beim Gratis-Frühstück anstellen?»

      «Ich habe zu viel Angst», antwortete Elise.

      «Ja, ich auch», sagte Rupert und lehnte am Eingang, bis es schellte. Elise rannte zu ihrem Unterrichtsraum, der in einem anderen Flügel lag,

      Hungernde Kinder konnten ein Gratis-Frühstück bekommen, doch er nahm an dieser Maßnahme nicht teil, weil die Frau an der Essensausgabe die Browns ebenfalls nicht leiden konnte. John und Dirk hatten ihre Katze gestohlen und sie erst nach drei Tagen zurückgegeben. Das verzieh sie ihnen nie. Ihrer Meinung nach waren alle Browns vom gleichen diebischen Schlag. Als Rupert es tatsächlich einmal gewagt hatte, sich für ein kostenloses Frühstück anzustellen, hatte sie ihm einen bösen Blick zugeworfen, der ihn bis ins Mark erschütterte. Er hatte es seitdem nie mehr versucht, und seine Brüder und Schwestern auch nicht.

      Da Rupert so dünn war, hätte er vor Gesundheit geradezu


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