Super reich. Polly Horvath

Super reich - Polly  Horvath


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soll ich damit machen?», flüsterte er Turgid zu, obwohl er gar nicht hätte flüstern müssen, da ja nun alle aßen, sich unterhielten und Wein (die Erwachsenen) oder Shirley Temples tranken (die Kinder). Das Esszimmer war von fröhlichem Festtagslärm erfüllt.

      «Keine Ahnung», murmelte Turgid.

      «Was machst du denn mit deinem Partygeschenk? Was ist es überhaupt?»

      «Hmmm, sieht wie ein Schlüsselanhänger aus», antwortete Turgid. «Wir legen sie normalerweise zu dem anderen Weihnachtskram und was dann damit passiert, weiß ich nicht. Vermutlich werden sie weggeworfen. Eigentlich kann mit dem Zeug aus den Knallbonbons keiner etwas anfangen. Jedes Jahr der gleiche langweilige Quatsch. Aber so ist das eben, es gehört zu Weihnachten dazu. Gibt es in deiner Familie keine Knallbonbons?»

      Rupert hätte beinahe gesagt, bei ihnen gebe es nicht einmal etwas zu essen, was allerdings wegen des Weihnachtstruthahnkorbs auch nicht ganz stimmte. Obwohl das Hähnchen nie für alle reichte, bekam jeder etwas aus dem Korb. Die übrigen Lebensmittel im Korb kamen von der Tafel und stammten größtenteils aus den Küchenschränken der Spender, die beim Kauf daneben gegriffen hatten und die Sachen deshalb abgaben. Häufig gab es etwas in der Art von geräuchertem Tintenfisch oder Chipotle-Kichererbsen, was den Browns weiß Gott nichts ausmachte. Sie hatten rein gar nichts dagegen, die Fehlkäufe von Steelville aufzuessen.

      «Nein, Knallbonbons hat es bei uns noch nie gegeben», sagte Rupert.

      Wenn Turgid sich nicht zusammenreimen konnte, dass jemand, der sich keine Winterstiefel oder einen Mantel leisten konnte, wahrscheinlich auch kein Geld für Weihnachts-Knallbonbons hatte, wollte Rupert nicht so unfreundlich sein, ihn darauf hinzuweisen. Rupert war nicht einmal sicher, ob Turgid bemerkt hatte, dass er keine Stiefel und keinen Mantel trug. Als er das kleine Kartenspiel unter seinem Brotteller verbergen wollte, fiel ihm auf, dass darauf ein Brötchen lag. Er aß es und entdeckte dann das Butterstückchen, das er ganz in den Mund steckte. Ein erstaunliches Geschmackswunder, das auf seiner Zunge schmolz. Butter hatte er noch nie gegessen. Das einzige Fett, das die Browns je zu Gesicht bekamen, war Schmalz. Er mochte Schmalz, aber Butter kam einfach aus einer anderen Welt. Außerdem dachte er die ganze Zeit, dass es wohl in Ordnung sein würde, wenn er sein Partygeschenk behielt, da die Rivers ihre wegwerfen würden. Möglicherweise konnte er sogar auch die anderen mitnehmen, bevor sie im Müll landeten. Er hatte noch nie ein Spielzeug besessen, genauso wenig wie seine Brüder und Schwestern. Deshalb legte er still die Hand auf das Kartenspiel, ließ sie an die Tischkante und weiter über sein Bein gleiten. Dann steckte er die Karten in Turgids Jogginghose, von wo er sie später in seine eigene befördern wollte.

      Als er nach seiner heimlichen Tat aufschaute, merkte er, dass Onkel Henry ihn nachdenklich beobachtete. Rupert wurde so rot, dass er glaubte, die Farbe einer Aubergine anzunehmen. Er wurde rot, bis er zu explodieren glaubte. Rasch senkte er den Blick auf seinen Teller und als er schließlich den Kopf hob, hatte Onkel Henry eine andere Miene aufgesetzt. Er zwinkerte Rupert zu und unterhielt sich weiter mit Sippy.

      Es war schrecklich, dass er ihn auf frischer Tat ertappt hatte. Rupert war davon überzeugt, gerade genau das getan zu haben, was sie von einem Jungen erwarteten, der auf der falschen Seite der Stadt wohnte. Es war ihm peinlich und er bereute es zutiefst, doch als nun die übrigen Suppenteller abgeräumt wurden und Mrs Cook eine Vielfalt von Terrinen und Platten servierte, wich seine Verlegenheit neuer Aufregung. Schon für jemanden, der gutes Essen gewohnt war, wäre dies ein außergewöhnliches Mahl gewesen, aber als jemand, der von dünnem Haferbrei und Küchenabfällen lebte, traute er seinen Augen nicht. Es gab Braten, Kartoffelpüree, Röstkartoffeln und Yorkshire-Pudding, dazu salzige Küchlein mit Bratensoße, Möhren und Mais, Bohnen und Füllung. Es gab Cranberry-Soße, Multbeerengelee, gemischtes Essiggemüse, Teufelsgurken und Schokoladengurken. Es gab Käsesoufflé und Spinatsoufflé und Löffelbrot. Bergeweise Essen, die unterschiedlichsten Speisen, die nun in Windeseile herumgereicht wurden. Und ehe Rupert es sich versah, häufte es sich auf seinem Teller.

      Während des restlichen Abendessens aß er stumm und sehr konzentriert immer weiter. Er fühlte sich wie ein Bär vor dem Winterschlaf, der sich das gesamte Gewicht für den Winter anfressen musste. Das ist für Januar, dachte er und nahm Kartoffeln nach. Das ist für Februar, dachte er und lud sich noch mehr Braten auf den Teller, den er mit weiterer Soße beträufelte.

      Mittlerweile war ihm fast ein bisschen schlecht, aber kaum hatte er den letzten Bissen verspeist, wurde auch bereits der Teller abgeräumt und Kuchen aufgetischt, Mince Pie und Torten mit Äpfeln und Kürbis, Kirsche, Schokolade und Banane. Dazu gab es Plätzchen und Vanillesoße, Liebesknochen und Törtchen. Es gab Pudding. Es gab Obst. Es gab Käse.

      Leider war Rupert zu seiner tiefen Enttäuschung bewusst, dass er keinen Bissen mehr essen konnte. Er war bis oben voll und spürte buchstäblich, wie das Essen auf seine Speiseröhre drückte und drohte, ihm wieder hochzukommen. Da war kein Platz mehr, beim besten Willen nicht.

      «Oh, aber du musst ein bisschen Nachtisch essen, Rupert», sagte Mrs Rivers, als sie nach einer Weile merkte, dass er sich im Gegensatz zu der Familie nicht an den frei verfügbaren Süßigkeiten bediente.

      «Ich kann nicht mehr», sagte Rupert.

      «Du hättest dich vorher nicht so vollfressen dürfen», sagte Melanie, die den Mund voll Kuchen hatte. «Ich habe dich gesehen.»

      «Halt die Klappe», sagte Turgid.

      «Ich meine ja nur», sagte Melanie.

      «Rupert kann seinen Nachtisch nach den Spielen essen, wenn die anderen zum zweiten oder dritten Mal zugreifen», sagte Mrs Rivers. «Ich habe auch keinen Hunger mehr. Billingston, räumen Sie ab.»

      Auf ihren Befehl hin befreite Billingston den Tisch von den Tellern mit Resten von Kuchen, Plätzchen und Pudding. Auch die Bonbonpapiere, Witze und Partygeschenke verschwanden. Billingston sammelte sogar die Papierkronen ein. Rupert gab seine nur ungern her, weil er sie für Elise aufbewahrt hatte. Sie landete mit den anderen im Kamin. Schließlich standen nur noch die Gläser auf dem Tisch.

      Erst jetzt merkte Rupert, dass er sein Shirley-Temple-Getränk nicht angerührt hatte. Obwohl er großen Durst hatte, war nur für ein kleines Schlückchen Platz. Es schmeckte köstlich. Das sprudelige Getränk war rot und mit einer Maraschinokirsche verziert. Wie alles, was er heute verzehrt hatte, war es auch das Beste, was er je getrunken hatte, die erstaunlichste Ausgabe eines Getränks, die ihm je untergekommen war. Er war so entzückt, dass ihm nach Weinen zumute war. Doch dafür war keine Zeit, denn Billingston trug einen Haufen eingepackter Gewinne herbei, die er auf dem Tisch ausbreitete.

      Dann kam Mrs Cook ins Esszimmer, um sich zu verabschieden. Sie war in Mantel, Hut und Handschuhe gekleidet, auf dem Sprung, um mit ihrer eigenen Familie Weihnachten zu feiern.

      «Oh, Mrs Cook», sagte Mrs Rivers. «Ihre Geschenke liegen auf der Anrichte.»

      «Danke», erwiderte Mrs Cook unterkühlt. Wie in jedem Jahr fand sie, dass die Rivers zu lange getafelt hatten. Sie war sicher, dass sie es nur taten, um sie zu ärgern. Sie hatte bereits eine große Tragetasche und zwei Müllsäcke in den Händen, die sie öffnete, um die Geschenke der Familie Rivers hereinzuschaufeln.

      «Hoffentlich haben wir Ihren Geschmack getroffen», sagte Mrs Rivers, wandte sich an Rupert und flüsterte: «Ihr gefällt eigentlich nie etwas davon. Tja.»

      Rupert fiel keine Entgegnung ein. Mrs Rivers schien ihn zu mögen und allein das war in seinen Augen bereits außergewöhnlich. Es war nicht so, dass die Leute ihn persönlich nicht leiden konnten. Die einen mochten ihn wegen seiner Lebenssituation nicht, weil er so heruntergekommen aussah und, wie er befürchtete, nicht gut roch – obwohl er so oft zu baden versuchte, wie es in dem überfüllten Haus ging – und die anderen mochten ihn nicht, weil seine Brüder Katzen klauten. Da damit ungefähr alle Einwohner der Stadt abgedeckt waren, war er freundliche Blicke nicht gewohnt.

      Mrs Cook stolzierte aus dem Esszimmer und zog die Müllsäcke hinter sich her.

      «Oh, und Mrs Cook», rief Mrs Rivers ihr nach. «Falls jemand am Tor schaukelt, lassen Sie ihn in Ruhe, ja? Schließlich ist Weihnachten.»

      Ohne


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