Super reich. Polly Horvath

Super reich - Polly  Horvath


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Elektroschock darüber geschleudert», antwortete Rupert.

      «Oh, unser Sicherheitssystem. Aber wieso bist du nicht zu Hause bei deiner Familie? Morgens früh an Weihnachten?»

      «Weihnachten?»

      «Ja, klar. Das musst du doch wissen», sagte Turgid.

      «Deshalb war niemand in der Schule», sagte Rupert kraftlos. Es ging ihm wirklich ziemlich schlecht. Aufgrund der Mischung aus nagendem Hunger und Elektroschocks war er nicht in bester Verfassung.

      «Du bist zur Schule gegangen?», fragte Turgid verwundert. «Aber war eine Socke voller Spielsachen nicht ein kleiner Hinweis?»

      «So etwas machen wir nicht. Ich glaube, ich werde wieder ohnmächtig», sagte Rupert matt.

      «Du meine Güte», sagte Turgid. «Kann ich dir irgendwie helfen? Wieso fällst du andauernd in Ohnmacht? Das ist doch nicht normal. Bist du krank?»

      «Es liegt am Hunger, glaube ich», sagte Rupert. «Oder an der Kälte. Jedenfalls nicht an den Elektroschocks, weil ich mich vorher auch schon so gefühlt habe. Ihr müsst euch keinen Vorwurf machen.»

      «Keine Sorge, wir hier machen uns nie irgendwelche Vorwürfe. Also, Mann, was können wir für dich tun? Iss ein bisschen Schokolade!» Turgid holte einen Schokoladen-Nikolaus aus einem Haufen Zeug neben seinem Bett. «Der war in meiner Socke.»

      «Echt?», fragte Rupert. «Das ist dein Nikolaus.»

      «Tja, ich möchte nicht, dass du hier ständig bewusstlos wirst», antwortete Turgid.

      Er brach einen Schokoladenarm ab und reichte ihn Rupert, der sich hinsetzte und ihn sich in den Mund stopfte. Auf der Stelle ging es ihm besser. Die Schokolade schmolz auf seiner Zunge und rann in seinen Magen, wo sie einen Hunger zum Leben erweckte, der so stark war, als würde die Schokolade wie eine Flamme Ruperts Eingeweide auftauen und einen ungeheuren Appetit entfachen.

      «Mehr», krächzte Rupert, den Mund voll Schokolade und Speichel.

      Turgid gab ihm den ganzen Nikolaus und wandte höflich den Blick ab. Rupert sah schauderhaft aus.

      Nachdem Rupert den Nikolaus und drei weitere Weihnachtsverzierungen aus Schokolade verzehrt hatte, die Turgid ihm noch obendrein gegeben hatte, ging es ihm sehr viel besser. Dann merkte er auf einmal, dass er tropfnass war und trotz des prasselnden Kaminfeuers unkontrollierbar zitterte.

      «Du musst etwas Trockenes anziehen», meinte Turgid.

      Er lief zu seinem Kleiderschrank und holte die wärmsten Sachen heraus, die er finden konnte: eine Jogginghose, ein Sweatshirt und Strümpfe, alles aus Fleece. Dann holte er noch ein Handtuch für Ruperts verschmiertes Gesicht aus dem Badezimmer, während Rupert sich umzog.

      Nun war Rupert warm und trocken und obwohl er noch nicht unbedingt satt war, stand er auch nicht mehr kurz vorm Hungertod.

      «Danke, vielen Dank.» Mehr brachte er nicht heraus.

      «Keine Ursache», erwiderte Turgid. «Das macht irgendwie Spaß. Wie mit einem Haustier.»

      «Aber ich muss gehen», sagte Rupert. Wenn wirklich Weihnachten war, würden sie an diesem Tag ihren Weihnachtstruthahnkorb erhalten. Das gab es nur einmal im Jahr und er wollte es auf keinen Fall verpassen.

      «Oh nein», sagte Turgid. «Du musst zum Abendessen bleiben, ich bestehe darauf. Selbst wenn es nicht unsere Schuld ist, hast du aufgrund unseres Sicherheitssystems einen schrecklichen Schock erlitten. Eigentlich kann es nur Mrs Cook gewesen sein, die den Befehl dazu gegeben hat. Sie ist unsere Köchin, aber der Name ist reiner Zufall. Wir nennen unseren Butler jetzt nicht Mr Butler. Er heißt Billingston und hat höchstwahrscheinlich den entscheidenden Knopf gedrückt. Aber mit Sicherheit auf Befehl von Mrs Cook. Es gefällt ihr ein bisschen zu gut, wenn die Leute nach einem Elektroschock brutzeln. Sie hat den Wagen genommen, um eine Weihnachtsgans zu kaufen, weil Tante Hazelnut meinte, ohne Gans wäre es kein richtiges Weihnachten. Mrs Cook hatte einen Rostbraten geplant. Es gab noch nie Gans, aber Tante Hazelnut hat in letzter Zeit viel Dickens gelesen, weil die Bibliothekarin, die bei uns wohnt, ihr andauernd neue Bände mitbringt –»

      «Ihr habt eine eigene Bibliothekarin?», unterbrach Rupert ihn verwundert. Oh, diese reichen Leute!

      «Ja, aber nicht so, wie du denkst. Sie ist nicht bei uns angestellt. Wir wissen nicht einmal genau, wer sie eigentlich ist. Beziehungsweise Onkel Moffat sollte es schon wissen. Es war nämlich so, dass er ein Zimmer in unserem Haus als Losgewinn bei einer Benefizveranstaltung gespendet hat. Wahrscheinlich meinte er es so, dass jemand ein Wochenende hier verbringen dürfte. Die Leute wollen schrecklich gerne wissen, wie es in der Villa der Rivers aussieht. Die Bibliothekarin hat gewonnen und ist mit einem Koffer eingezogen. Da sie nie wieder ausgezogen ist, haben wir uns angewöhnt, ihr höflich keine Beachtung zu schenken. Onkel Moffat hatte gesagt, so sollten wir die Person behandeln, die gewann, sowohl unseretwegen als auch ihretwegen. Auf diese Weise konnte sie uns beobachten, ohne sich unwohl zu fühlen. Doch statt am Montag wieder nach Hause zu gehen, blieb sie und wir beachteten sie weiterhin nicht, während sie uns unaufhörlich hinter Sesseln und Vorhängen nachspionierte. Letztendlich haben sich alle an diese Regelung gewöhnt. Nicht dass es uns wirklich gefallen würde, so weit würde ich nicht gehen, aber sie macht sich nützlich. Wenn man sie lässt, bringt sie Bücher mit. Jedenfalls futtern sie bei Dickens offenbar immer Gänse, und schon schickt Tante Hazelnut Mrs Cook los, eine zu kaufen. Mrs Cook hat sich ganz schön aufgeregt, weil sie es nicht leiden kann, wenn in letzter Minute das Menü geändert wird. Vermutlich hat sie dir deshalb die Elektroschocks verpasst, das darfst du nicht persönlich nehmen. Sie war schlecht drauf und hatte Lust auf diesen ‹Brutzelmoment›, wie sie es nennt. Deswegen, verstehst du, musst du mit uns zu Abend essen. Soll ich bei euch anrufen und Bescheid sagen?»

      «Wir haben kein Telefon», sagte Rupert.

      «Wie sonderbar», meinte Turgid. «Seid ihr sonderbar?»

      Darauf hatte Rupert keine Antwort. Er wollte sagen, nein, sie wären ganz normal, oder zumindest halbwegs normal. Ein Telefon konnten sie sich einfach nicht leisten. Doch wenn er das sagte, würde er zugeben, wie bitterarm sie waren, und das wäre peinlich gewesen. Also schwieg er. Abgesehen davon fand er es mindestens so sonderbar, reich zu sein.

      Als Rupert nicht antwortete, fragte Turgid: «Soll ich Billingston hinschicken, damit sie auf dem Laufenden sind?»

      «Geht schon, das ist ihnen egal», sagte Rupert, ohne nachzudenken.

      «Es ist ihnen egal, ob du zum Weihnachtsessen kommst?», bohrte Turgid weiter.

      Rupert dachte, wenn sie sein Fehlen wider Erwarten doch bemerkten, würden sie sich schlicht und einfach freuen, dass sich einer weniger an der Rauferei um das dürftige Hähnchen beteiligte. Nur Elise nicht. Sie würde vermutlich merken, dass er nicht da war, aber auch sie wäre mit ihnen Gedanken wohl zu sehr bei dem Hühnchen, um sich Sorgen zu machen. Nagender Hunger machte das mit den Menschen.

      «Nein, so etwas sehen wir ganz locker», sagte Rupert, weil er die Verwicklungen eines Lebens nicht erklären konnte, das mit Turgids nicht die geringste Ähnlichkeit hatte.

      «Dann wäre ja alles geklärt.»

      Als von unten jemand nach Turgid rief, zog er Rupert mit zum Treppenabsatz.

      «Turgid, mein Schatz!», rief die Stimme erneut aus einem Winkel des Hauses. «Mrs Cook hat in dem einzigen Laden, der an Weihnachten geöffnet hat, keine Gans aufgetrieben. Deshalb gibt es doch Rostbraten. Es ist alles fertig und Mrs Cook möchte, dass wir essen, damit sie nach Hause gehen und mit ihrer Familie zu Abend essen kann.»

      «Okay, Mutter», rief Turgid zurück. «Aber ist es nicht ein bisschen früh?»

      Es war zehn Uhr morgens.

      «Anscheinend hat sie um vier mit dem Kochen begonnen», antwortete Mrs Rivers’ körperlose Stimme. «Wir wollen nett zu ihr sein, schließlich ist Weihnachten. Hast du keinen Hunger?»

      «Eigentlich nicht, ich esse schon den ganzen Morgen Schokolade. Hast du Hunger, Rupert?», fragte Turgid.


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