INTO THE BEAT. TextDoc Kiesel

INTO THE BEAT - TextDoc Kiesel


Скачать книгу
Fa­milien­­lebens.

      Ich wuselte durch die Küche. Seit Papa an diesem Abend nach seinem Sturz auf der Bühne ins Krankenhaus kam, war alles anders und so viel stressiger als sonst. Ich hatte das Gefühl, die Zeit reichte hinten und vorn nicht. So vieles blieb liegen, sogar das Geschirr stapelte sich in der Spüle. Die vollen Einkaufstüten wollte ich wenigstens jetzt gleich schnell wegräumen.

      Aber was machte Paul denn da? Er warf alle Decken und Kissen aus der ganzen Wohnung auf einen Haufen.

      »Paul, was machst du?«, fragte ich entsetzt.

      »Was wohl?«, sagte mein Bruder. »Ich mache mich bereit, damit Papa mit mir fliegen kann.«

      »Aber doch nicht jetzt, Paul!«, wies ich ihn zurecht. Wer bitte sollte dieses Durcheinander denn wieder beseitigen?

      Da hörte ich den Schlüssel im Schloss.

      Paul hörte es auch und rief: »Papa!«

      Schon wollte er sich auf den Ankömmling in der Tür stürzen. Nur dass das gar nicht Papa war, sondern eine große robuste unbekannte Frau. Sie war Ende dreißg, vielleicht Anfang vierzig. Cool sagte sie: »Das ist ja eine nette Begrüßung. Du musst Paul sein, richtig?«

      Paul suchte Schutz hinter meinem Rücken.

      »Und du bist Katya, die Große, hm? Du siehst ja wirklich wie ’ne richtige Ballerina aus.«

      Schwungvoll stellte die Frau zwei Koffer in unserer Wohnung ab und sagte: »Achso. Ich bin Frau Nemec – vom ambulanten Pflegedienst. Ich komme jetzt jeden Tag – zumindest so lange, bis euer Vater wieder auf den Beinen ist. Wir wollen’s ja nicht übertreiben – nicht wahr?!«

      »Wo ist denn Papa?«, fragte Paul.

      »Richtig. Da war ja noch was …«, sagte die Frau Nemec.

      Und dann trat sie einen Schritt zur Seite und hinter ihrem Rücken kam unser Papa zum Vorschein, er humpelte durch die Tür.

      Er ging an Krücken. Seine Beine waren geschient. Sein Be­wegungs­ablauf war holprig und schwerfällig – deswegen hat es wohl auch eine Weile gedauert, ehe er im Türrahmen auftauchte.

      Als Paul ihn sah, warf er sich ihm voller Überschwang an den Hals und rief: »Papa! Da bist du ja endlich.«

      »Hey, mein Junge«, sagte Papa. Ich sah sofort, wie er sich bemühte, stark zu wirken, zumindest äußerlich. »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin. Guck mal, ich kann jetzt auf vier Beinen laufen. Ist das nicht super?«

      »Hey Papa«, sagte nun auch ich, lief zu ihm und umarmte ihn.

      »Hallo, mein Mädchen.« Die Umarmung tat uns beiden gut. Endlich war Papa wieder da. Nach so langer Zeit. Nach so vielen Wochen, wo wir ihn nur im Krankenhaus besuchen konnten.

      »Können wir jetzt fliegen?«, fragte Paul.

      Paul wieder. Ohne Worte, dachte ich.

      Papa sagte: »Vielleicht ein wenig später, ja?«

      Frau Nemec zwinkerte mir zu. »Dann wollen wir mal loslegen, was?«, sagte sie. »Wisst ihr, ich bin ein bisschen wie Mary Poppins. Ich komme aus dem Nichts und gehe erst, wenn die Arbeit getan ist.«

      Dann schaute sie Paul an und sagte: »Und du, junger Mann, flieg mal voraus. Ich hab eure schöne Wohnung noch gar nicht gesehen.«

      Paul schien die Art von der Frau Nemec zu gefallen, jedenfalls lächelte er sie an und führte sie in die Küche.

      Ich blickte besorgt ins Wohnzimmer, wo Papa sich langsam und sehr vorsichtig in den Sessel setzte. Ich ging zu ihm, schaute ihm in die Augen. Sein Blick war leer. Als er mich sah, lächelte er.

      »Na, war alles halbwegs okay?«, fragte er mich.

      »Klar«, sagte ich. »Romy hat sich super um alles gekümmert. Sie hat sogar ’nen Trick gefunden, wie man Paul ins Bett bekommt.«

      »Ach wirklich? Na, den muss sie mir mal verraten«, sagte Papa und schaute dann mit ausdruckslosem Blick auf den Boden.

      »Das bleibt wohl eher ihr Geheimnis«, meinte ich. Dann schwiegen wir. Ich sagte nichts. Er sagte nichts. Eine gefühlte Ewigkeit.

      Dann sagte ich, um ihn ein wenig aufzumuntern: »Ich soll dir ganz liebe Grüße von Frau Rose­bloom ausrichten. Sie hofft, dass es dir bald wieder besser geht.«

      Papa nickte nur.

      »Sie meint übrigens«, schob ich schnell hinterher, »dass ich das mit New York ganz sicher packe.«

      Ich hatte gespürt, wie Papa litt und dass er »im freien Fall« war. Ich wollte ihn aufmuntern. Vielleicht gelang mir das sogar, aber es schnürrte mir trotzdem die Kehle zu. Ich hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen, so sehr tat er mir leid. Und ich merkte, wie der Druck auch auf mich wuchs. Mehr noch als je zuvor.

      Papas Blick hellte sich aber dann doch etwas auf. Er schaute mich an und nach einer kleinen Pause sagt er: »Klar, wir Orlows lassen uns nicht unter­kriegen.«

      Dann nahm er meine Hand, lächelte mich sogar an und meinte: »Es wird alles gut, versprochen.«

      Ich gab Papa einen Kuss auf die Wange, verließ das Wohnzimmer und setzte mich ins Esszimmer.

      Von dort schaute ich noch eine Weile durch die offene Tür zu Papa. Er hörte wohl nicht, wie tief und schwer ich atmete. Ich wusste, es ging ihm überhaupt nicht gut. Und ich spürte die Last, die jetzt auf mir lag – auf einer Orlow.

      Aus der Küche kam Frau Nemec und fragte mich: »Na, Haus­auf­gaben schon gemacht?«

      Ich schaute sie an. Und nickte.

      »Sehr gut«, sagte Frau Nemec. »Wenn Vinzenz tropft, gibt’s volle Keller.«

      Sie bemerkte meinen fragenden Blick und machte mit einfachen Worten klar, was sie meinte: »Na, wer nicht rastet, der rostet nicht. Das hat meine Oma immer gesagt. Und die musste es wissen. Die war schließlich Ungarin.«

      Jetzt musste auch ich über den Spruch schmunzeln.

      Frau Nemec schob die Tür zum Wohnzimmer ganz auf, ging zu Papa und sagte in ihrem unnachahmlich fordernden Tonfall: »So, Herr Orlow. Jetzt wollen wir mal mit unserem kleinen Sport­pro­gramm beginnen, richtig? Sind sie so weit?«

      »Wenn’s sein muss.« Papas Lust schien überschaubar.

      »Na prima«, sagte Frau Nemec. »Sie kennen den Spruch mit Vinzenz …?«

      Dann half sie Papa beim Aufstehen. Puh, das sah mühevoll aus. Und es schien schmerzhaft zu sein, so sehr verzog Papa sein Gesicht.

      Ich konnte das nicht ertragen. Ich wollte raus hier, einfach nur raus.

      Und genau das machte ich auch. Hier brauchte mich grad niemand. Paul spielte, Papa und Frau Nemec waren mit den Übungen beschäftigt. Und essen konnte ich auch später irgendwann am Abend.

      Kettenriss

      Draußen schwang ich mich auf mein Rad, ich trat in die Pedalen und radelte wie eine Verrückte durch die Straßen. Ich kam mir vor wie auf der Flucht. Aber es war befreiend. Ich bekam wieder Luft, frische sogar. Da war es wieder, das Gefühl von Freiheit. Es war schon dunkel geworden. Die Lichter der Autos und der Häuser, die der Ampeln und Laternen schossen an mir vorbei, ich nahm sie kaum wahr. Zum Glück war wenig Verkehr. Zum Glück.

      Plötzlich machte es unter mir ›Zack‹, ›Krach‹, ›Bäng‹ …

      Mist, das war die Kette von meinem Fahrrad. Das Rad geriet sofort ins Schlingern. Dann blockierte es. Beinah wär ich über den Lenker gegangen. Oh mein Gott, nicht noch eine Verletzte. Ein kranker Orlow reichte, dachte ich.

      Im letzten Moment bekam ich Boden unter die Füße und konnte den Sturz gerade noch verhindern.

      Aber die Kette war ab. Die kriegte ich nie wieder auf die Zah­nung. Sie hing nicht nur runter. Sie war gerissen. ›Fuck‹,


Скачать книгу