Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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auf, rannte fast zur Theke, warf einige Münzen hin und verschwand durch die Tür des Cafés. ›Seltsamer Typ‹, dachte ich und konnte den ganzen Abend sein eindrückliches Gesicht mit den trübsinnigen Augen nicht vergessen.

      Zum zweiten Mal sah ich ihn in einem Kino. Die Vorstellung hatte bereits begonnen, es war dunkel im Saal. Ich hatte mich auf den ersten besten Platz gesetzt. Als das Licht anging, schaute ich mich in dem vollen Zuschauerraum um. Da entdeckte ich links von mir im Profil sein bekanntes Gesicht. ›Das ist dieser Typ aus dem Café‹, dachte ich. Sein Blick war, wie im Café, auf gar nichts gerichtet, sondern verlor sich irgendwo in der Tiefe des Saals. Plötzlich schien er zu spüren, dass ich ihn anstarrte, er wandte sich träge zu mir um, und sein melancholischer und ein bisschen spöttischer Blick begegnete meinem. Fast unmerklich bewegten sich seine Mundwinkel. ›Wahrscheinlich hat er mich erkannt‹, dachte ich und war – ich weiß selbst nicht, warum – erfreut. Das Licht verlosch wieder, es begann der nächste Akt. Der Film war langweilig. Ein abgedroschener amerikanischer Western. Ich schaute zu ihm hinüber. Obwohl es ziemlich dunkel war, konnte ich die Konturen seiner ausgeprägten Gesichtszüge erkennen. Mitten im Film begann er, sich im Zuschauerraum umzusehen, er zuckte ähnlich wie beim letzten Mal zusammen, setzte sich mit einer schnellen Handbewegung den Hut auf und verließ gebeugt den Saal. In mir erwachte die Neugier. Ich erhob mich von meinem Platz und ging hinaus auf die glitzernde Freiheitsallee. Er lief quer über die Straße. Langsam, in einiger Entfernung, folgte ich ihm. Nachdem wir die Freiheitsallee überquert hatten, bogen wir in die Gediminasstraße ein. Er bewegte sich mit großen Schritten voran und wankte dabei leicht. Plötzlich blieb er, wie vom Blitz getroffen, stehen. Auf der Straße waren fast keine Leute. Sofort verbarg ich mich im Schatten eines Hauseingangs. Er stand etwa zwanzig Schritte von mir entfernt, und ich konnte deutlich sein bleiches Gesicht mit diesem seltsamen Ausdruck sehen, den ich im Café bemerkt hatte. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er sich auf der Straße um. Ein Autobus kam mit hoher Geschwindigkeit angefahren. Er gab ihm kein Zeichen anzuhalten, stürzte direkt auf ihn zu und sprang auf. Kurz darauf verschwand der Bus in einer Abbiegung. Ich ging zurück zur Freiheitsallee. Lange habe ich mir den Kopf über diese beiden Begegnungen zerbrochen und das Gesicht dieses seltsamen Unbekannten mit den traurigen, ein bisschen ironischen Augen nicht vergessen können.

      Einige Monate vergingen. Es war ein schöner Frühlingsabend. Die Uhr am Militärmuseum schlug acht. Das Dong, Dong, Dong, Dong … hing feierlich in der Luft. Ein Invaliden-Orchester spielte einen traurigen Walzer, die Melodie ging unter die Haut. Dong, tönte es zum letzten Mal und verging in der linden Abendluft. Die Akkorde der Musik wurden eindringlicher und strenger. Hier und da spazierten Pärchen umher, glücklich mit sich und diesem Abend. Es wurde dunkel. Ich erhob mich von meiner Bank und ging zum Ausgang des Museumsgartens. Auf der gegenüberliegenden Seite der Donelaitisstraße lief wankend ein Mann. ›Wahrscheinlich ein Betrunkener‹, dachte ich. Da fiel das Licht der elektrischen Straßenlaterne auf sein Gesicht. Er war es! Doch wie sehr er sich verändert hatte! Seine ausgeprägten Gesichtszüge waren ganz kantig geworden. Er sah aus, als hätte er eine schwere Krankheit durchgemacht. Sein Haar war nicht mehr sorgfältig nach hinten gekämmt, sondern hing wirr herunter. Seine eingesunkenen Augen blickten nicht mehr traurig und ein wenig spöttisch drein wie damals. Sie waren durch ihre Dunkelheit und ihren Ausdruck furchterregend. Ihr Blick irrte unstet und suchend umher. Der Mann stützte sich schwerfällig auf das Geländer an einem Schaufenster. Sein offener Mund schnappte gierig nach Luft. Ich weiß nicht, welches Gefühl mich trieb, über die Straße zu rennen, ihn am Arm zu packen und zu fragen: »Ist Ihnen nicht gut?« Er sah mich mit einem schweren, nachdenklichen Blick an. »Ach, Sie sind es«, sagte er ohne jedes Erstaunen. »Ja, ich fühle mich ein bisschen schwach.« Ich schaute mich um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen Bänke für Spaziergänger. »Gehen wir dort hinüber, dort können wir uns setzen. Halten Sie sich an mir fest, ich werde Ihnen helfen.« Ich nahm ihn am Arm, führte ihn über die Straße und setzte ihn auf die Bank. »Danke«, sagte er und senkte den Kopf. Ich schwieg und überlegte, was ich sagen könnte. Plötzlich hob er den Kopf, starrte mich mit seinen großen Augen an, die jetzt seltsam funkelten, und begann hastig und unablässig mit gesenkter Stimme zu sprechen.

      »Vermutlich werden Sie mich nicht verstehen und sich über das wundern, was Sie jetzt hören. Aber das ist mir egal. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich kann mit dieser Benommenheit nicht leben. Angst, Angst und noch mal Angst. Sonst nichts.« Seine Pupillen wurden noch weiter. In ihnen stand Schrecken. »Hören Sie! Damals, in dem Café und im Kino, habe ich gesehen, dass Sie mich mit Mitgefühl betrachten. Die anderen Menschen sind so kalt, so egoistisch. Vielleicht sind Sie ja imstande, mich zu verstehen. Ich quäle mich schon seit zwei Jahren so. Früher war ich nicht anders als alle Menschen. Doch dann begann mich diese Angst zu verfolgen. Warum, das weiß ich nicht. Mir scheint, ich habe nichts Besonderes erlebt. Aber ich fühle, dass die Angst mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Sie taucht plötzlich auf, wenn ich sie überhaupt nicht erwarte. Ganz gleich, ob ich allein oder in Gesellschaft bin. Ich laufe vor ihr davon, dorthin, wo viele Menschen sind und Lärm. Anfangs ging es mir dann besser. Inzwischen findet sie mich aber auch dort. Ich fühle, wie sie sich mir nähert, ihre unbezwingbare Macht … Der Schrecken hat in meiner Seele die Oberhand gewonnen. Menschen, Häuser – alles verschwindet in einem Dunst. Und er wird immer größer, der Schrecken. Meine ganze Seele zittert vor dieser unverständlichen Angst. Ich laufe davon – ich weiß selbst nicht wohin. Ich kann ihr nicht entfliehen. Ich habe verschiedene Ärzte aufgesucht. ›Ihre Nerven sind geschwächt. Sie müssen sich erholen, ans Meer fahren …‹, sagen sie meistens. Aber ich weiß, dass ich diese Angst selbst am stillsten Ort der Welt nicht abschütteln könnte.« Er stöhnte. Er tat mir leid. »Beruhigen Sie sich, ich habe etwas Ähnliches erlebt«, sagte ich, weil ich ihn beschwichtigen wollte. »Ja? Dann werden Sie mich verstehen! Wissen Sie, ich kann niemals ruhig einschlafen. Wenn ich mich ins Bett lege, fühle ich, dass sie mich belauert. Ich verkrieche mich unter der Decke und habe Angst, ins Dunkel meines Zimmers zu schauen. Mir kommt es so vor, als würde ich, wenn ich in die Tiefe des Zimmers blickte, etwas unvorstellbar Schreckliches zu Gesicht bekommen. Es vergehen eine, zwei, drei Stunden, und ich liege da mit der Angst im Herzen, bis ich endlich einschlafe. Und so geht es jede Nacht. Jeden Tag. Wird das jemals aufhören?!« Er sprang von der Bank auf, packte mich an den Schultern und sah mir mit stechendem Blick in die Augen. Ich stand auf. Etwa zwei Sekunden lang schauten wir einander an. Dann ließ er mich los, murmelte irgendetwas in sich hinein und verschwand in der Abenddämmerung.

      Ich habe ihn nie wieder gesehen.

       [1929]

      FORT

      Heimweh ist eine chronische Krankheit. Thüringens blaue Wälder können sie nicht heilen. In Friedenszeiten würdest du vielleicht zwischen den hochstämmigen Kiefern umherwandern, sacht die rötlichen Felsbrocken berühren und mit weiten Lungen die Luft, die wunderbare Luft des atmenden Waldes einsaugen. Und dann würdest du dich im Moos ausstrecken, und aus den kleinen Gräsern würden auf einmal gewaltige märchenhafte Dschungel wachsen, in denen es keine Wege gibt, wo eine üppige, kämpfende Pflanzenwelt wächst, die Kiefernzapfen seltsam gemaserte Felsen sind und die Ameisen längst ausgestorbene, vorsintflutliche Tiere. Und wenn es ein bisschen ungemütlich, wenn es gar zu unfreundlich würde, würdest du aufspringen, auf einen rötlichen Fels klettern, und unten, dir zu Füßen, würden Thüringens Wälder flimmern in der diesigen Luft, als lägen sie hinter großen, klaren Ozeanen. In Friedenszeiten vielleicht … Aber jetzt … Ach, Heimweh – chronische Krankheit! Finster, so finster die hochstämmigen Kiefern, und die Tannen werfen kalte Schatten auf die Erde, und die steinigen Abhänge sind unüberwindliche Hürden: Und wenn du dir die Fäuste wundschlägst an den Steinen, und wenn du noch so sehr schreist, das Echo wird dir den vielfachen Schrei in den Mund stopfen und … – du wirst dich nicht durchschlagen, wirst dich nicht durchzwängen, du wirst nicht zurückkehren. Dann wird dir, wie Wasser einem Verdurstenden in der Sahara eine Fata Morgana erscheinen.

      Vilnius … Türme … Türme und Kreuze. Kreuze wie warnende Zeigefinger. »Hier ist unsere Stadt. Sie gehört uns, den Türmen und Kreuzen. Rührt sie nicht an!« Die engen Gassen dort und die alten Häuserblocks, geheimnisvoll wie kleine Städtchen, sind in eine einzigartige Atmosphäre des Gestern gehüllt.

      Für


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