Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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      Die weißen Fensterläden …

      Der Uhrzeiger …

      Die Schnur, immer rechts herum, rechts … – ich schlummerte.

      Doch dann kam der Zug. Um fünf Uhr nachmittags. Ein Militärzug. Der Bahnsteig ruckte. Ein fernes Grollen zerstreute den Schlummer. Schwere, gerötete Lider rissen auf, und wieder übermannte der quälende, bohrende Gedanke den Bahnhof.

      »Raus aus der Stadt, fort, nur fort …«

      Über den Bahnsteig ergoss sich ein Trupp von Blitzmädeln. Ach, wo ist das schwungvolle Stolzieren auf den Straßen von Vilnius geblieben? Noch vor kurzem waren die Töchter des auserwählten Volkes auf den Gehwegen spaziert. Uns Parias haben sie nicht gesehen, man musste höflich zur Seite springen, die graue Kleidung ging geradeaus. Ein menschliches Hindernis hatte sich zu verziehen, die graue Kleidung glitt wie ein Panzer. Nur geradeaus. Jetzt waren uns die Blitzmädel so ähnlich. Sie schleppten Bündel wie wir, ihre Kleidung war zerknittert. Auch ihre Achseln waren genauso schweißgetränkt wie unsere, und in ihren Augen der gemeinsame quälende, bohrende Gedanke.

      »Fort, nur fort …«

      Am Ende des Zugs zwei Waggons für zivile Deutsche! Wir stürzten hin. Vielleicht irgendwie, irgendwo in einem Eckchen, wir brauchen nicht viel Platz, wir machen uns ganz klein, winzig! Man ließ uns nicht. Der Bahnhofskommandant erklärte betont ruhig:

      »Kein Grund zur Beunruhigung. In zwei Tagen wird es Sonderzüge für die Bevölkerung geben. Das ist ein Militärzug, der ist verboten. Gehen Sie nach Hause und essen Sie in Ruhe zu Abend. Schneiden Sie sich eine Scheibe Speck und streichen Sie die Butter dick aufs Brot.«

      Das Gesicht des Offiziers war intelligent. Sauber, hohe Stirn, blitzende Brille. Die letzten Sätze rochen nach Ironie. Und kaum spürbarer Panik. Da tauchte zufällig im Wortwechsel ein gemeinsamer Bekannter des Bahnhofskommandanten und eines der Professoren auf. Ein Bekannter, den beide verehrten. Und der Offizier stieg vom Podest.

      »Steigen Sie ein, wo Platz ist.«

      Wir waren ein paar Dutzend Erwählter. Wir stürzten zu den vollgestopften Waggons. Plötzlich hatten wir einander vergessen. Die einen drängten sich ins Innere, andere landeten im Gepäckwagen. Der Schaffner pfiff. Ich allein stand auf der Erde. Für mich war kein Platz mehr. Einige Jugendliche hatten sich auf die Puffer geschwungen und an die schmalen Brettchen zwischen den Waggons gehängt.

      O wie schnell ich an das Dach kam, mit welch zirkushafter Behändigkeit ich meine Koffer festschnürte! Ich hing fast in der Luft, meine Beine baumelten über den Puffern, meine Hände krallten sich in das Dach. Endlich war ich ein Erwählter. Der Zug ruckte an. Ich fuhr. Die auf den Bündeln zurückgebliebenen Leute schauten böse, neidisch. Aber sie verschwanden sofort. Sie und der Bahnsteig, und Vilnius.

      An jenem Abend wurde die Stadt bombardiert. Und danach – jeden Tag. Und keine Züge für die Einwohner mehr. Die Menschen flohen so wie wir oder erbettelten sich Plätze auf den Lastwagen [Zeile fehlt im Original] ihre Klamotten auf dem Rücken.

      Damit zwischen Unbekannten Sympathie aufkommt, bedarf es eines gemeinsamen Bekannten. Unbedingt. Sonst kann es einem schlecht ergehen.

      Jawohl, Herr Bahnhofskommandant!

       [1945]

SCHWELBRÄNDE UND FUNKEN

      DIE STILLE DER NACHT

      Du öffnest die Augen, vielleicht weil sich dein Herz zusammenschnürt. Plötzlich erwacht, allein, in einer hellen Nacht, sagst du, wieder und wieder: »Wie still es ist …«

      Warum bist du aufgewacht? Tiefe Ruhe erfüllt dein Zimmer, und auf deinen Armen liegt der Abglanz der Sterne. Die Sterne stehen hoch am Himmel, ihre himmlischen, suchenden Strahlen bringen Seligkeit. Aber als sie deine ohnmächtigen Arme fanden, bist du erschauert. Der winzige Muskel an deinem linken Augenlid zuckt jetzt noch. Warum? Die Sterne stehen so hoch am Himmel, und das Licht des Himmels ist so segensreich.

      Weißt du es nicht? Dann schlaf wieder ein und öffne nachts die Augen nicht, wenn die Gardinen reglos an den Fenstern hängen wie die Gewänder von Statuen. Schlafe, bis der Tag heraufzieht. Am Tag wird die scharfe Sonne die Erde peitschen, in grellen Farben werden die Pflanzen und die Dinge schreien, und die Menschen werden schimpfen und lachen.

      Beruhige dich, ruh dich aus, ich stehe dir bei, ich bin die Stille der Nacht. Es gelingt dir nicht? Deine Augen sind tief wie Brunnen in den Bergen, dein Blick dringt durch den Gardinenspalt, du horchst bis es schmerzt, und es kommt dir so vor, als würdest du hören. Du hast recht. Jetzt leben jene, die Er bestattet hat, und Sein Thron ist über den Sternen. Sie sind ruhlos, auch nach dem Tod.

      Sie sind verflucht und wissen selbst nicht warum. Wenn du nicht schläfst, dann hör zu, achte nicht auf diesen winzigen Muskel an deinem linken Augenlid, der so hartnäckig zuckt.

      Psst … Hörst du? Dort, vor dem Fenster, geht ein toter Soldat. Seine weit aufgerissenen Augen sind blind, ein Flammenwerfer hat sie ausgebrannt. Er geht mit lautlosen Schritten, dieser arme Blinde, und er sucht sein Zuhause. Täusch ihn nicht, beweg dich nicht, sonst könnte der Soldat meinen, dass die Wellen der Gardinen von schlanken kleinen Händen geteilt werden. Bleib liegen. Er weiß ja nicht, der arme Blinde, er weiß nicht, dass der Krieg sein Zuhause verweht hat. Er tastet sich mit den Händen voran, jetzt befühlt er eine Kletterrose, die an der Hauswand blüht. Die Rose ist weich, wie die Haare seines Kindes. Weißt du, warum der Soldat sein Zuhause sucht? Er möchte die Haare des Kinds betasten und sie langsam streicheln, so langsam wie diese Kletterrose hier. Der arme Blinde … poch, poch … und wieder poch, poch …

      Ich frage dich, ich, die Stille der Nacht, hörst du dieses schwache Klopfen an einer Mauerwand? Fern von hier kriecht ein kleines Kind umher, das Kind des Soldaten, es wurde in einem Bunker verschüttet, es sucht nach seiner Mutter. Das Kind zittert, ihm ist kalt, es wurde ja nur im Hemdchen hinausgetragen, es bittet um den warmen Körper seiner Mutter. Poch, poch … die ganze Nacht hindurch, zu mehr ist es nicht imstande, dieses dumme Kindchen in dem schmutzigen Hemdchen. Weißt du, dass die beiden sich niemals mehr begegnen werden? Der Fluch wird aufgezeichnet für die Ewigkeit, und Er, der diesen Fluch ausspricht, ist groß und mächtig.

      Pssst … Wo siehst du hin? Ah, du schaust durch den Gardinenspalt zu dem fahlen Stern. Ja, du würdest ihn gern vom Himmel holen und an die Brust drücken. Du glaubst, der fahle Stern könnte deine verblassende Hoffnung erwärmen und sie würde kühn und unsterblich brennen wie ein Feuer auf einem Berggipfel. Weißt du, dass denselben Stern ein Mensch gesehen hat, als er verhungerte? Einer von denen, die aufgelesen wurden wie Holzscheite. Weißt du, wie er sich danach gesehnt hat, dieses traurige silberne Licht nicht sehen zu müssen, aber er konnte sich nicht mehr bewegen, er hat auf dem Rücken gelegen, dieser gequälte Mensch, und gierig auf seinen Tod gewartet. Er wurde ruhig und seufzte froh, als kurz vor dem Tod bunte Kreise das weiße Silber erstickten. Doch Er, der den Fluch ausspricht, Er ist erbarmungslos. Unweit von deinem Zuhause ist ein Friedhof. Dort ist einer von denen verscharrt, die wie Holzscheite aufgelesen wurden. Und jetzt liegt er dort auf dem Rücken, und das weiße Licht des Sterns dringt unnachgiebig durch die Erde und brennt in seinen Augenhöhlen. Denn Er, der den Fluch ausspricht, Er mag die Qual.

      Warum leuchten deine Augen auf? Ah, im Haus der Nachbarin ist ein fröhliches Licht angegangen. Ein angenehmes, alltägliches. Und dir ist leichter. Jetzt vertreibst du mich, die Stille der Nacht, jetzt machst du mir Vorwürfe, jetzt verstreust du Worte. Du sagst, dieses Land sei so wunderbar ruhig, es sei kaum berührt vom Krieg, die Menschen hier hätten das Lächeln nicht vergessen und würden Blumen pflanzen. Du sagst: Sie seien oft sanft wie schnurrende Katzen. Ja, im Haus deiner Nachbarin ist das Licht angegangen. An und wieder aus. Dort sind zwei Liebende vereint. Jetzt liebkosen sie einander, leidenschaftlich und glücklich. Du kennst sie, deine Nachbarin, sie grüßt dich jeden Morgen mit Gottes Namen. Ich sehe, du freust dich und erinnerst dich an das alte, eingepaukte Sprichwort – die Liebe ist stärker als der Tod. Aber siehst du denn den Mann nicht, der sich an die Mauer drückt? Es ist der Ehemann


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