Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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zu liebkosen wie der Neue?

      Ich flüstere dir zu, ich – die Stille der Nacht: Der Mann deiner Nachbarin hat keine Hände mehr. Sie wurden ihm abgeschnitten, im Winter, im hohen Norden, weißt du, dass es dort im Winter furchtbar kalt ist? Dann ist er gestorben, wie viele Häftlinge, und seine unstillbare Sehnsucht hat ihn hierher geführt. Du meinst, er würde seelenruhig zusehen, die Hände in den Taschen? Ich sage dir, ich, die Stille der Nacht, was dieser ruhige Mann sich wünscht. Er wünscht, er hätte wenigstens eine Hand, denn auch die Leblosen vergießen schmerzliche Tränen, und er kann sie sich nicht abwischen. Doch Er, der den Fluch ausspricht, verzieht nur die Mundwinkel zu einem Lächeln.

      Pssst … Beweg dich nicht. Besser nicht. Er ist groß und böse.

      Richte deinen Blick auf diese Mauer. Du schaust nach Nordosten. Dort, im Nordosten, wachsen Kiefern und Fichten, Birken und Weiden. Dort riecht es nach Harz und nach Moos, dort würdest du gern herumtollen, wie früher, und fröhlich krakeelen. Dort ist ein Wald in deinem Land. Dort steht eine hohe, eine sehr hohe Fichte, sie ist so schlank wie ein siebzehnjähriges Mädchen, und unter der Fichte tollt dein Bruder herum. Ein Fremder hat ihn erschossen. Er tollt herum, bis er erstarrt und neben ihm eine Frau kniet, die sich aus Verzweiflung die Lippen zerbissen hat. Über ihr Kinn laufen kleine Rinnsale von Blut, sie erreichen die Delle in ihrem Kinn, und das Blut tropft auf den Gestorbenen. Du weißt, die Frau sagt immer und immer wieder dasselbe:

      »Wir sind vergessen, wir sind vergessen, wir sind vergessen.«

      Ihre Gedanken werden verworren, Wahnsinn ergreift sie.

      Doch Er, der den Fluch ausspricht, verzieht nur die Mundwinkel zu einem Lächeln. Er sitzt oben, hoch oben, höher als die weißen Sterne, und Seine Augenhöhlen sind finster. Niemand hat je Seine Augen gesehen. Er sitzt da mit verschränkten Armen, unbarmherzig und höhnisch, und Er gestattet es nicht, für immer zu sterben.

      Pssst … Beweg dich nicht. Ich weiß, du möchtest aus dem Bett springen, du möchtest Ihm drohen und laut schreien, dass Er es hört, dass Er sich regt, dort oben, über den weißen Sternen, dass Er erklärt:

      Warum ist das so?

      Du musst wissen, dass Er, der diesen Fluch ausspricht, ängstlich ist. Er wird mit dir nicht offen kämpfen. Er wird es dir vergelten, ohne das Geheimnis zu lüften. Er wird dich dazu bringen, deinen Menschenbruder zu vernichten, und dieser wird lachen an deinem Leichnam.

      Pssst … Hör genau hin. Ich werde leise flüstern, ich – die Stille der Nacht. Ich sage dir:

      Warum ist es so?

      Weil … Er sich fürchtet vor dir, weil du nicht aus Ihm geboren bist, weil du ein Mensch bist und weil du in dir den Funken eines einst bezwungenen Gottes trägst. Erinnerst du dich an die alten Legenden, die heiligen Schriften? Dort gibt es immer zwei Namen. Dort gibt es immer zwei, die miteinander ringen. Osiris und Seth, Ahura Mazda und Ahriman, Gott und Satan. Erinnerst du dich an das Märchen vom Paradies, das Märchen vom Goldenen Zeitalter? Das ist sehr lange her, und Er, der den Fluch ausspricht, hat gesiegt. Und dieser zweite – Er lächelt zufrieden, sitzt über den weißen Sternen, erbarmungslos und höhnisch, und Er straft die Menschen, denn sie tragen einen Funken des besiegten Gottes in sich.

      Doch … vielleicht, eines Tages … Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht – ich, die Stille der Nacht, aber wenn diese Funken den Himmel entzünden, dann geht Sein Thron über den weißen Sternen vielleicht in Flammen auf. Und vielleicht ersteht dann der Gott des Lichts wieder auf.

      Pssst … Er könnte es hören. Beweg dich nicht. Schlaf besser wieder ein. Und öffne in einer hellen Nacht die Augen nicht, wenn dein Herz beklommen ist. Möge es still sein, mögen die Gardinen vor dem Fenster reglos herabhängen wie die Gewänder einer Statue.

      DER EGOIST

      Aus den Erzählungen eines Freunds

      Sieh mal, diesem Herrn Professor bin ich einige Male in Vilnius begegnet. Zu jener Zeit fanden wir uns öfter bei einem jungen Chirurgen zusammen, einem Liebhaber von Wissenschaft und Literatur. Der Professor ist meines Wissens Litauendeutscher. Und seine Ernennung zum Professor hatte unter den Deutschen stattgefunden. Aber das Wesentliche besteht darin, dass er für mich ein Symbol ist. Ein Symbol für die heutige Denkweise, die diese egoistischen, unmenschlichen Verhältnisse hervorgebracht hat. Ich werde versuchen, mir meine letzte Begegnung mit ihm in dieser fantastischen Stadt in Erinnerung zu rufen.

      Nun denn, der längliche Innenhof der Universität. Hinter der lauten Piliesstraße – die plötzliche Stille, eingezwängt in ein Rechteck aus zweigeschossigen Häusern. Das holprige, von Studentenfüßen ausgetretene Pflaster. Von Studenten, die dicke Mützen trugen, sich lange, gelockte Haare wachsen ließen, zahllose Weinfässer leerten und Tausende Worte verloren mit geröteten Gesichtern und glühenden romantischen Augen. Der Nebel aus erhabenen Worten und Träumen vermischte sich mit dem Dunst des Weins und berauschte die leidenschaftlichen Köpfe der Studenten.

      Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … Ein großes, mütterliches Vaterland …

      Friede den Unterdrückten, Krieg den Ausbeutern …

      Die hitzigen studentischen Köpfe vergammelten, die seidigen Locken verkamen, und der Nebel aus erhabenen Worten und Träumen zerstreute sich mit dem Weindunst.

      Nun denn, dieser Hof im Rechteck der zweigeschossigen Häuser. Und die Stille. Und die verschlungenen orangenen Kaskaden von Kletterpflanzen, die mit dem einfachen Gras in den Ritzen der Pflastersteine verwachsen waren. Und diese niedrige Tür, bei der man den Kopf einziehen musste, und endlich ein geräumiges Zimmer, mittlerweile weiß gestrichen, mit einer Decke wie in einem Kloster. An den Wänden hingen Grafiken von Vilnius, der Besitzer der Wohnung, der junge Chirurg, mochte Grafik. In einer Ecke ein kleines Büffet. Auf dem Tisch eine Flasche Schnaps. (Oh, eine große Seltenheit im deutsch besetzten Vilnius!) Den Schnaps stellte ein Bekannter des Chirurgen her, der im Universitätslabor arbeitete. Was blieb ihm anderes übrig in dem leeren Labor? Studenten gab es keine mehr. Sie fanden den Militärdienst und den Kampf für das Neue Europa wenig verlockend. Diejenigen, die nicht Neo-Europäer werden mochten, zogen scharenweise in die sich zusehends bevölkernden litauischen Wälder. Der Laborant hatte in dem verwaisten Labor gesessen und gähnend die leeren, verstaubten Retorten, Kolben und Fläschchen angestarrt, bis ihn eines Morgens die in einer leeren Retorte spielenden Sonnenstrahlen an gelben Honigschnaps erinnerten und … in seinem Gehirn eine geniale Idee aufkeimte. Aus verschiedenen Resten (mit reichlich »O« und »H« und anderen Buchstaben der organischen Chemie) machte sich der Laborant daran, Alkohol herzustellen. Und bald glätteten sich die Falten der Langeweile auf seiner Stirn, und die Kolben, Retorten und Fläschchen blitzten wieder sorgfältig geputzt. Und der Laborant empfing wieder selbstgewiss seinen Monatslohn, sein Gewissen war beruhigt, das Labor war in Betrieb.

      An jenem Abend war es ein besonderer Schnaps. Der Laborant hatte eine mit Äther angereicherte Flasche geschickt, und diese überraschende Veredelung veranlasste uns zu einem Moment der Besinnung. Wir waren zu viert. Der Chirurg und Hausherr, der Chemieprofessor, mein Kollege, so wie ich Lehrer für Literatur, und ich. Wie ein Götzenbild stand in der Mitte des Tischs die Flasche, und aller Augen starrten unverwandt auf das Wasser des Lebens. Ja, wir hatten es wahrlich nötig, dieses Wasser des Lebens. Unsere Lebensgeister waren stark geschwächt. Die Jagd nach Lebensmitteln und Tabak – und sonst fast nichts. Natürlich, wir verrichteten unsere berufliche Arbeit. Der Chirurg öffnete und untersuchte menschliche Körper, mein Kollege und ich – menschliche Seelen, doch es mangelte uns an Selbstgewissheit, in uns herrschte ein Zwiespalt, und er breitete sich wie ein Krebsgeschwür aus. Es war eine Krankheit, es war Schizophrenie.

      Ich unterrichtete zu jener Zeit die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In Augenblicken der intensivsten schöpferischen Ergriffenheit, wenn ich die Gehirne von Menschen des vergangenen Jahrhunderts erkundete, wenn in meiner Vorstellung ferne und doch nahe Männer mit hohen Stirnen und buschigen Schnauzbärten und Frauen mit geschnürten Taillen und kämpferisch aufgerichteten Brüsten weinten und zürnten, liebten und scherzten, wenn Ibsens oder Hauptmanns Helden an Subtilitäten starben, die die Menschheit


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