Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


Скачать книгу

      Der Braune geht zum Fenster. Er wendet sich ab. Er sieht auf die Straße. Der junge Mann hebt den Kopf. Ordnet seine Haare. Blickt auf den fetten Rücken des Ermittlers. Auf den selbstzufriedenen Führer. Wendet den Stift. Möchte schon mit ihm das Papier berühren. Petras Ko… Es fällt ihm unglaublich schwer, den Buchstaben P zu schreiben. Der Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Unbewusst wendet er den Kopf zur Tür. Dort, an der Wand, hängt der Kalender.

      16. Februar 1944

      Eine Zeit lang versteht er nicht, was das bedeutet. Ein sehr vertrauter Tag, der 16. Februar … Gleich, gleich … Plötzlich begreift er. Der Feiertag. Sein Nationalfeiertag. Von einem kleinen Volk, das die großen mit Füßen treten. Für das er sich aufgeopfert hat. An diesem Haken da gehangen hat, gehangen und geschwiegen hat, bis zum Wahnsinn, während die flammenden Schläge seinen Körper verbrannten.

      Der noch junge, kräftig gebaute Mann möchte weinen. Lange, lange. Und er möchte, dass eine sanfte weibliche Hand seine Haare streichelt. Und ihm ein paar tröstliche Worte sagt …

      Sein angespanntes Gesicht löst sich, sein Unterkiefer sinkt kraftlos herab, gedankenlos blickt er einige Male auf den Kalender und dann wieder auf den Stift in seiner Hand. Nein, nein, nein – schlägt sein Herz. An diesem Tag! … Vor dem Hintergrund des hellen Fensters wartet der fette Rücken des Ermittlers.

      … An einem dunklen Abend, wenn sie an der Peterskirche vorübergeht …

      … Dann die ganze Nacht …

      … In der Nacht werden die Sekunden zu Jahren, die Minuten zu Jahrhunderten, wenn er sich im Karzer wälzt …

      … Und in der blinden Dunkelheit werden die Haare seines Mädchens leuchten, das kleine Muttermal neben ihrer Nase, ihr schön gebogenes Ohr …

      … Und neben seinem Mädchen dieser da, dieser fette Rücken da …

      Der Stift hält dem nicht stand. Er knirscht und bricht. Der Braune hört es. Er wendet sich langsam vom Fenster ab. Er schafft es nicht. Es geschieht, was beide nicht geglaubt hatten.

      Diesmal staunt der Passant. Der stille Palast spricht. Glasscherben fallen auf den Gehsteig. Aus der ersten Etage stürzt ein Mann auf den Gehsteig, rollt sich ab, steht auf, rennt davon. Er rennt über den leeren Platz, biegt zur Seite ab, um nicht erschossen zu werden, um dort, an der Neris, im Netz der vergessenen Fabriken und kleinen Häuser seine Rettung zu erringen. Die Schüsse hört er nicht. Ja, einige Male sieht er springende Kieselsteine, einer schlägt ihm sogar an den Arm. Macht nichts! Hier ist schon die Neris. Hier wird man ihn nicht so leicht finden. Hier, hier … naht die Rettung …

      Als es dunkel ist und er den Kopf aus dem Rohr der Kanalisation steckt, taucht aus den Wolken der abnehmende Mond auf. Der junge Mann streckt sich, schüttelt die Erde ab, wendet den Kopf nach oben und blickt zu seinem himmlischen Freund. Seine Lippen beten lautlos.

      »Es lebe der 16. Februar! Es lebe der 16. Februar!«

      Jetzt ist er ruhig. Übertrieben ruhig. Er muss nur handeln. Vorsichtig Freunde ausfindig machen. Irgendwie sein Mädchen warnen, dass sie heute Abend nicht in das blaue Häuschen in Antakalnis zurückkehren darf. Dass sie heute Abend beide fliehen werden. Dorthin, wo schon viele sind. In die Wälder.

      Der Palast an der Gediminasstraße steht noch. Er ist nicht hässlich, sympathisch anzuschauen. Und still, so still, als würde niemand in ihm leben, als stünde er leer.

      DIE BIRKE UND DER MENSCH

      Felder und ein trüber, verhangener Himmel. Eine schmutzige gewundene Straße. Sie endet hinter dem Horizont. Der Schmutz – ein glänzender Brei, soeben gekocht, dampfend. Dort, im Norden, wo die Wolkenblasen sich mit dem nebligen Horizont verbinden, rumst es ab und zu. Dumpf. Die Front ist träge heute. Natürlich muss geschossen werden. Es ist ja Krieg. Rums … lange Pause, und dann ist deutlich zu hören, wie eine vorüberziehende Windböe die zerknickten Zweige einer umgestürzten Birke erfasst. Ein ohnmächtiger Ton, heiser und kurz, entweicht ihr und erstirbt sofort. Der Wind ist schwach, und an ihren Zweigen sind nur noch wenige schwarze Blätter. Sie sind vom Dauerregen durchnässt. Rums … und Stille. Wenn sie anschwillt, diese unwirkliche Stille … rumst es wieder dumpf.

      Die Birke am Straßenrand hat ein durchfahrender Panzer umgestoßen. Der Fahrer hatte gerade nach hinten geschaut. Er hatte mit seinem Freund gesprochen, der in seinen Taschen angestrengt nach einer Zigarette suchte. Er hatte erzählt, wie schön in seiner Heimat die Straßen im Frühling sind. Die Straßen sind von Obstbäumen gesäumt, und wenn sie blühen … Vor Begeisterung hatte der Fahrer sogar den Mund aufgerissen, seine Hände hatten das Lenkrad nur schwach gehalten, der Panzer plumpste in den Straßengraben und fuhr auf die Birke. Die Birke schrie beim Zerbrechen ein paar Mal auf. Knacks, knacks, knacks … Aber ihre Schreie gingen im Dröhnen des starken Motors unter. Der Fahrer fluchte unflätig, soldatisch und richtete das Lenkrad wieder aus, und der Panzer fuhr weiter. Einen Auftrag erfüllen. Irgendwen erschrecken, vielleicht auch umbringen. Die Birke blieb am Straßenrand zum Sterben liegen.

      Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits leblos, was nutzte es, dass der schwache Wind versuchte ihr Haar, die schwarzen Blätter zu bewegen. Der Wind war schon immer der treue Freund der Straßenbirke gewesen. O wie sie im Vorfrühling immer zusammen herumgetollt sind! Arm in Arm haben sie rasend Polka getanzt, sodass die Birke sich kaum noch halten konnte in der Umarmung ihres Freundes, des Winds. Sie bog sich in alle Richtungen, wie ein zum ersten Mal aus seiner Schüchternheit gewecktes Mädchen beim Dorftanz. Und die Sommerabende … Der verliebte Wind überredete die vagabundierenden Vögelchen, sich wenigstens für ein Weilchen auf ihre silbernen Zweige zu hocken und etwas von der Liebe zu zwitschern. Von der Liebe des scheinbar ohne Sinn umherfliegenden Windes.

      Nun ja, all das ist nun Vergangenheit, dachte der vom Leid geschwächte Wind und versuchte nur noch selten, an das Haar, die schwarzen Blätter, der Birke zu rühren. Doch vielleicht … Solange er nicht ganz sicher war, dass sie endgültig gestorben war …

      Außerdem wollte der Wind den Menschen nicht belästigen, der zusammengekrümmt auf dem Baumstumpf saß. Das Gesicht des Menschen war traurig. Das konnte man an seinen tief eingeschnittenen Falten, der herabhängenden Unterlippe und seinen geröteten, tränenden Augen ablesen. Würde der Wind kräftiger pusten, dann würden die Augen des Mannes stärker tränen. Doch der Wind war heute schwermütig und sentimental gestimmt. Deshalb flog er fort, um seine gestorbene Freundin und den betrübten Menschen nicht mehr sehen zu müssen.

      Der Mann blieb sitzen. Er war durchnässt, seine Beine beschmutzt bis zu den Knien und die Arme bis zu den Ellenbogen. Zu seinen Füßen lag ein ausgerissener Pfahl. Daneben stand ein ziemlich neuer Koffer aus gelbem Leder, auf Zweigen, gegen die Nässe geschützt. Er passte nicht zu der abgetragenen, durchweichten Kleidung des Mannes und seinem zerknitterten, gewiss zehn Jahre alten Hut. Seine geröteten Augen waren nach Süden gerichtet, wo hinter dem dunklen Horizont eine unsichtbare Mauer aufragte. Dort endete das letzte Fleckchen seiner Heimat und breitete sich das grausame, unbekannte Deutschland aus. Aber, durchaus möglich, dass er sich hier, an dieser Birke, eine Grube ausheben, sie mit Zweigen bedecken, sich aus dem Heu der auf den Feldern vergessenen Ballen ein Lager bereiten und zusammengerollt auf Rettung warten würde. Ganz in der Nähe, gar nicht weit weg, sah er einen Acker mit ungeernteten Kartoffeln, in seinem Koffer hatte er Salz und einen kleinen Topf, und in der Tasche Streichhölzer. Doch es konnte keine Rettung kommen. Schritt für Schritt kam die unausweichliche Front näher. Heute rumste sie zwar schwächer, aber gestern …

      Jetzt krümmte sich der Mann noch mehr zusammen. Er versuchte seinen rechten Arm ein bisschen im feuchten Gras abzuwischen, dann rieb er ihn mit dem Mantelfutter ab. Daraufhin berührte er mit den Fingerspitzen den Griff des luxuriösen Koffers. Der Mann streichelte den Griff langsam, immer in derselben Richtung. Wie ein schlafendes Kind, als wäre der Mann ein Vater, den am Kinderbett im Vorübergehen ein Anfall väterlicher Liebe überkommt. Seine geröteten Augen blickten hinter den dunklen Horizont, wo ihn hinter einem undurchdringlichen Vorhang das Schicksal erwartete. Seine Hand streichelte den Griff des Koffers, immer in derselben Richtung, nach rechts.

      Noch


Скачать книгу