Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma
Scherben und Erde auf und schweigen.
Bis Ottos geschwollene Augenlider rot werden und er schnaufend Atem holt. Dann wirft er die eingesammelten Scherben Frau Zerfling in den Schoß, richtet sich, auf das Fensterbrett gestützt, wieder auf und stößt kurz hervor:
»Dieser Jude.«
Frau Zerfling versteht nicht. Sie hockt noch immer da und starrt in seine blauen Augen. Otto Kranz meint, er hätte ihr längst alles erzählt und Erna wäre die Bedeutung des Gesagten klar.
»Ich habe diesen Juden gesehen«, sagt er wieder. Und erst, als er sie sagen hört:
»Ja, hier sind viele Juden. Aus den KZs«, versteht er, dass Erna nichts weiß. Da zieht er mit seinen noch immer starken Fleischerarmen Frau Zerfling vom Boden hoch, starrt in ihr schrumpfendes Gesicht und fängt an:
»Ich habe diesen Juden gesehen, dem ich …«
Er redet nicht weiter. Er stößt sie von sich weg und setzt sich an den Tisch.
Auf ihm liegt eine aufgeschlagene Ausgabe der Wehrmacht. Die Abbildung eines Schlachtfelds. Verstreute Leichen von Soldaten, die meisten verkrümmt. Ihre Posen sind unnatürlich. Warum hält dieser Verstorbene mit beiden Händen seinen Hals umklammert und ist das Bein von jenem so unnatürlich angezogen? Selbstverständlich wurden sie von Schüssen hingestreckt. Von Schüssen?
Otto Kranz starrt die Toten an und versucht, sich so genau wie möglich, bis ins letzte Detail, zu erinnern.
Natürlich, diese litauische Stadt ähnelt den Städten seines eigenen Landes nicht allzu sehr. Enge Gassen und alte Häuser kann man auch in seinem heimatlichen Thüringen oder auch hier, in Bayern, finden. Nur diese quadratische deutsche Ordnung gibt es in Litauen nicht. Die kleinen Straßen sind gewunden, sie hüpfen nach rechts und links und schlängeln sich kapriziös. Und die Häuser … Zu viele gerundete Linien, unverständliche Reliefs, lebendige Statuen (die, scheint es, jeden Augenblick herabsteigen und umhergehen werden) und Kirchen, Kirchen, Kirchen. Die verschiedensten.
Man sagt, diese Stadt sei schön. Vielleicht. Ihm ist sie fremd. Aber es lebt sich hier gut. Lebensmittelmarken? Ha! Im Dienst des Gebietskommissars? Das Essen ist üppig und frisch. Und auch die Getränkelager wurden rechtzeitig konfisziert. Und für Essen und Getränke … konnte man auch immer eine hübsche und füllige Frau finden. Ja, sie würde nicht treu sein, nicht die Augen einer gehorsamen Hündin haben, wie eine Ehefrau, die den ganzen Tag geschäftig zwischen Blumen, Kuchen, Strickzeug und Servietten zubringt. Trotzdem, wenn man von der Fähigkeit zu lieben spricht … oh, da ist Gehorsam nicht immer das Passendste!
Aber … manchmal wird man auch Kreaturen dieser Art überdrüssig. Manchmal muss man sich an seinen Freund Müller wenden. Müller regiert ein ganzes Städtchen in der Stadt. Müller ist ein ausgezeichneter, freundschaftlicher Mann. Man muss nur abends bei einer Flasche französischen Cognacs seinen Abenteuern im Getto zuhören.
Vergnüglicher aber ist es, selbst an Abenteuern teilzunehmen. Besonders wenn der Kopf von einem edlen Getränk berauscht ist.
Und wenn er an jenem sonnigen Sommermorgen nicht hingegangen wäre? Wie sollte man denn da nicht hingehen!
Die Nacht war in rein männlicher Gesellschaft verflogen. Bis zum Morgen hatten die zwei stärksten Köpfe durchgehalten – seiner und der von Müller.
»Vielleicht wäre es nicht schlecht …«, schlägt Otto Kranz seine Kaffeetasse schwenkend vor. Müller versteht sofort. Er lächelt. In seinen Mundwinkeln blitzen Goldzähne auf. In seinen Augen blitzt ironisches Verständnis auf. Er streckt die Hand nach dem Telefon aus.
»Soll ich anrufen?«
Otto Kranz erinnert sich an etwas und verzieht ein bisschen die Stirn. Müller ist ein hilfsbereiter und freundschaftlicher Mann. Er erwartet keine Antwort. Seine Hand greift nicht zum Telefon. Müller überlegt. Dann springt er plötzlich auf, geht ans Fenster (seine Bewegungen sind präzise und angenehm anzuschauen, seine Figur ist elegant, schön und sportlich), wirft einen Blick auf die unten in einer Reihe stehenden Autos, dreht sich um und bietet ihm an:
»Ich würde vorschlagen, ein Stückchen herumzufahren. Herumzufahren und hinzufahren. Wir werden sicher etwas Neues finden.«
Müller lächelt ironisch und selbstgewiss. Seine Goldzähne blitzen, es blitzen die ausgezeichnet geputzten Schuhe, es blitzen der Brillant an seiner linken Hand und seine Schulterstücke, seine Haare blitzen und die grauen Augen. Unten blitzt das wartende Auto.
Es ist angenehm, den tollen Müller anzusehen! Man hat das Gefühl, das Leben ist prächtig!
Das Auto fährt nicht lang auf breiten Straßen. Die eleganten Plätze, Kirchen und Grünflächen verschwinden. Enge, gewundene Gassen lassen das Zweigespann nur unwillig passieren. Hier gibt es keine Bürgersteige, die Leute gehen mitten auf der Straße, sogar die Kinder spielen hier. Doch auch die Gassen verschwinden.
Ein morgendlicher, leerer, ausgestorbener Platz.
Er ist nicht leer, weil er morgendlich ist. In dieser Gegend lässt sich niemand gern sehen. Die fest verschlossenen Tore werden gemieden und die gelangweilten Wächter mit den gebogenen Mützen. Nur am Rand des Platzes, an der düsteren Kirche, bleiben zwei fromme Mütterchen stehen und wechseln Blicke, als das blitzende Auto an einem Tor anhält. Sie beobachten das Zweigespann in den braunen Uniformen aufmerksam. Das Zweigespann verschwindet hinter dem fest verschlossenen Tor, die Mütterchen in der düsteren Kirche.
Der Platz ist wieder leer.
Das Getto bereitet sich erst auf das Erwachen vor.
Vor den munter voranschreitenden Freunden liegt eine stille kleine Straße. Ein- und zweigeschossige Häuser, schmutzig, bröckelnd. Wie Schiffsflaggen, die verschiedenfarbigen Wäschestücke der Kriegszeit. Häufig ist statt fehlender Scheiben in den Fenstern Papier oder ein Fetzen Stoff angebracht.
Und was nützt es, dass die ersten Sonnenstrahlen die gespaltenen Dachziegel in Edelsteine verwandeln? Trotzdem ist es hier armselig und düster.
Die beiden Männer schreiten voran, manchmal bleibt der prächtige Müller stehen, schaut in irgendein Fenster hinein, runzelt die Stirn und geht weiter. An einem kleinen, im Erdboden eingesunkenen Häuschen (in dessen Fenster man gebeugt schauen muss) bricht Müller in scharfes, kehliges Gelächter aus. Er lacht und klopft sich auf die Schenkel. Mit dem Zeigefinger winkt er Otto Kranz heran. Dieser kommt näher.
Hinter dem Fenster steht eine Alte – ein Skelett nur im Hemd, ihre Gesichtsknochen stehen wahrscheinlich wegen der anhaltenden Unterernährung stark hervor, sodass es den Anschein hat, ihre Haut würde gleich zerreißen. Die Alte kratzt sich mit ihrer rechten Hand die Seite und sieht mit verblassten Augen die beiden Männer in den braunen Uniformen an. Dann beschließt sie, erschrocken, zu lächeln. Zwei vergilbte Zähne kommen hinter ihrer Oberlippe zum Vorschein, die Unterlippe zittert. Er kann nicht mehr an sich halten. Zu Müllers kehligem Tenor gesellt sich der heisere Bass von Kranz.
»Verlockend …«, stöhnt Müller, und das Duett tobt, von Gelächter zerrissen. Sie klopfen einander freundschaftlich auf die Schulter und an die Brust. Dann gehen sie mit Tränen in den Augen weiter.
Seltsam. Vor ihnen ist keine Menschenseele. Aber wenn man sich umdreht, dann sind aus Fenstern und Türen Köpfe zu sehen, die den beiden nachblicken.
Was werden sie wohl jetzt denken, diese Köpfe?
›Sie freuen sich, dass wir vorübergegangen sind‹, geht es Otto Kranz durch den Kopf, und in seiner Brust flackert Stolz auf.
Schließlich bleibt Müller an einer Tür mit einer Glasscheibe in Augenhöhe stehen. Irgendwann war hier einmal ein kleines Geschäft, die Haustür führt direkt ins Zimmer. Müller reckt sich, schaut ins Innere, lächelt zufrieden, zwinkert Otto Kranz zu und öffnet plötzlich die Tür.
Eine halbnackte Jüdin wäscht sich mit dem Rücken zu den Hereingekommenen. Als die Tür zuschlägt, wendet sie sich ihnen zu, bedeckt mit ihren Händen hastig die vollen Brüste und erblasst. Obwohl es blass ist, gefällt ihr Gesicht Otto Kranz.
Ja,