Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


Скачать книгу
Gefahr, in ihrer schneidenden Krähensprache. Der Mann schien zu erwachen. Er richtete sich auf. Hob vorsichtig den Koffer an, stellte ihn auf seine Knie und schmiegte sich an ihn. Jetzt wiegte er sich vor und zurück, auf dem gelben Leder die ausgestreckten Finger seiner violetten Hand – wie die des Gekreuzigten, und unter seinen Füßen gluckste im Takt der schmutzige Brei. Der Mann wiegte sich lange so, die Krähe war längst davongeflogen, über die vergessenen Heuballen, und er wiegte sich … Bis er zu singen anfing. Gut, dass die Krähe es geschafft hatte fortzufliegen. Sonst hätte sie sich wahrscheinlich erschrocken und würde noch lange krächzen, wenn sie ihren Freundinnen von diesem seltsamen Ereignis berichtete.

      Jawohl, in diesen von allen vergessenen Feldern, auf einer toten Birke, saß am Straßenrand ein von der Flucht zerzauster Mann mit einem ziemlich neuen gelben Lederkoffer und sang einen Marsch. In diesem Augenblick tauchte der Wind auf, den noch immer die Sehnsucht nach der Verstorbenen quälte, er traf auf den singenden Menschen und dachte, dieser würde ein Totenlied für die Birke singen – seine Freundin. Deshalb rauschte der Wind kräftiger, er beschloss einzustimmen. Das Duett aus Mensch und Wind strömte davon, bis es von den grünlichen Heuballen aufgesogen wurde.

      Dennoch, der Wind hatte mehr Temperament, er überschrie oft den Menschen, deshalb konnte man nicht alle Wörter verstehen. Klar, der Mann konnte sich nur noch an die ersten beiden Verszeilen erinnern.

       Am Meeresstrand, durch Küstensand

       Reiten Truppen kühner Krieger …

      Und wieder von vorn.

      Plötzlich stieß der Mann den Koffer zu Boden, sprang von dem Baumstumpf auf und schrie so laut, dass er dieses Mal das Accompagnato des Windes niederschrie:

      »Nein. Nein. Ich stim-me nicht zu!«

      Er winkte einige Male mit den Armen. Als würde er ein Spiel spielen. Tra ta ta ta. Blut ist da, und da, und da. Tra ta ta ta. Ich stimme nicht zu …

      Uuuu – sogen es die grünlichen Heuballen auf.

      Uuuu – heulte der Wind.

      Dann drehte sich der Mann um sich selbst, ließ sich auf den Birkenstumpf fallen, drückte dabei den alten Hut mit seinen violetten Handflächen zusammen und flüsterte schnell, sehr schnell:

      »So geht es nicht. Ich verliere den Verstand. So geht es nicht. Ich brauche Ruhe, ich brauche Ruhe. Mein Gott, rette mich!«

      Leider verstand der Wind die menschliche Sprache nicht und wurde vor Schmerz ganz wild, er heulte so stark er konnte, er blies in die Zweige seiner Freundin, der Birke, und versuchte sie ein letztes Mal von den Toten zu erwecken.

      Der Mensch blickte mit aufgerissenen Augen in die Ferne, seine Hände pressten zornig den alten Hut zusammen. Der Mann sah. Er sah den gestrigen Tag. Als er nicht allein war. Als dieser gelbe Lederkoffer noch eine Besitzerin hatte. Und er sah die Besitzerin – ihr Haar von der Farbe des Koffers, ihre weißen Zähne und ihre schmächtige Mädchentaille. Und in ihren Augen konnte man viele schöne Dinge sehen, wenn sie an einem stillen Abend träumten. Jetzt lag sie dort, an der Horizontlinie, dort, wo es dumpf und laut rumste. Der Mann, der seinen Hut zusammenpresste, hatte ihren Körper nicht allzu tief vergraben, er hatte eilig fliehen müssen, und es war durchaus möglich, dass ein Geschoss sie ausgraben und ein zweites Mal verwunden würde. Vielleicht lugten irgendwo unter den Erdklumpen ihre blonden Locken hervor, die goldenen Locken, die Locken seiner Tochter.

      Der Mann riss sich den Hut vom Kopf, presste ihn zusammen und schleuderte ihn fort. Der Wind erfasste das braune Bündel, beschmutzte es und versenkte es sofort im Straßengraben. Er verlor gänzlich den Verstand, der unglückliche Liebende. Doch der Mann achtete nicht auf das Wüten seines Leidensgenossen. Er lebte noch immer im gestrigen Tag, als sie zu zweit waren, zu zweit auf der Flucht. Er und seine Tochter. Seine Tochter, das schicke Mädchen, das schöne Sachen wie diesen glänzenden Koffer hier mochte. Und so mutig.

      »Macht nichts, macht nichts, Paps! Wir schlagen uns durch«, als um sie herum die Geschosse explodierten und sie in einem verlassenen Bunker hockten.

      »Wir liegen ein bisschen an die Erde gedrückt, und dann rennen wir weiter«, als ein Granatwerfer den gepflügten Boden rings um sie her lockerte.

      Der gestrige Tag war besonders ruhig gewesen. Sie waren eilig von dem Schlachtfeld gerannt und dann auf einer Landstraße durch die Felder der Suvalkija weitergegangen. Es hatte stark und eintönig geregnet. Aber sie hatten sich glücklich gefühlt. Sie waren nicht mehr von umgestürzten Fuhrwerken und röchelnden Pferden umgeben und mussten keine fliehenden Soldaten mit grauen, erschrockenen Gesichtern mehr sehen. Da war es eine Nichtigkeit, dass ihre Füße nass waren und das Wasser in ihren Schuhen schmatzte. Eine Nichtigkeit, dass das Haar seines Mädchens an ihren geröteten Wangen schlaff herabhing.

      »Jetzt siehst du aus wie Undine«, sagt er, blickt in ihre fröhlichen Augen und fängt, er weiß selbst nicht warum, zu lachen an. Er lacht, bis er sich verschluckt, bis er sich schämt, und dann singt er einen strengen Marsch. Das Mädchen stimmt ein.

       Am Meeresstrand, durch Küstensand

       Reiten Truppen kühner Krieger …

      Sie gehen zu beiden Seiten der Landstraße, wo es etwas trockener ist, und hin und wieder sehen sie einander an, das Gehen ist viel vergnüglicher, wenn man aufmunternde Augen sieht.

      Und da …

      Die Wolkenblasen wälzten sich übereinander, wie heute. Außerdem, durchaus möglich, dass sie aus Vergnügen zu laut sangen und deshalb das Brummen des Flugzeugs nicht sofort hörten. Der graue Vogel tauchte plötzlich aus den Wolken auf, tra ta ta ta, unerwartet. Der Mann kann sich nicht mehr recht daran erinnern.

      Das Erste, was er spürte, war der Geschmack von Wasser. Nun ja, natürlich, er hatte es geschafft, in den Graben zu springen, und war wahrscheinlich gesund und munter. Er hob den Kopf und sah den Schwanz des grauen Vogels, der in den ziehenden Wolken zerschmolz. Die Gefahr war vorüber. Verrückt, wie genau er sich an alles ab diesem Moment erinnerte! Er stand vorsichtig auf, es könnte ja sein, wer weiß, vielleicht hatte er sich irgendwie gestoßen. Nein, Arme und Beine konnte er noch beugen, der Kopf ließ sich noch drehen und seine Augen sahen noch. Jawohl, sein ganzer Körper zitterte und zuckte. Ha! Lächerlich! Schließlich hatte er sich erschrocken und noch dazu im Graben nass gemacht. Aber warum … war irgendetwas nicht in Ordnung? Er ging zwei Schritte über die Landstraße …

      Hinter der Landstraße, im Gras, lag ein gelber Lederkoffer. Ihr Koffer.

      Ah … Diese grenzenlosen Felder … sind so winzig. Sie enden gleich hier, hinter dem Koffer. Dunst, dunkler Dunst ringsumher. Vielleicht sind die Wolken plötzlich auf die Erde gestürzt? Verrückt, trotzdem kann er sich an alles ganz genau erinnern! Er machte einen zu großen Schritt, fiel hin, konnte aber nicht mehr aufstehen, den Blick nicht abwenden von dem glänzenden Koffer!

      Da begann der Mann auf allen vieren zu kriechen, langsam, ganz langsam, wie ein Raubtier vor dem Sprung. Der Koffer wurde größer. Ja, er konnte deutlich die blitzenden Teile aus Nickel sehen und den Schmutzfleck an der linken Seite. Aber warum waren neben dem Koffer Haare? Goldene Haare, ohne Gesicht. Es gab kein Gesicht. Ein dunkelrotes Oval. Und kleine Rinnsale von Blut fließen herab, sie winden sich in kleinen Strömchen durch die Wölbungen des Ohrs und fallen in großen Tropfen auf die Erde.

      Der Mann stürzte zum Graben. Vom Graben zum Gesicht. Und wieder und wieder und wieder. Mit seinen Handflächen schöpfte er Wasser und wusch das geliebte Gesicht. Wusch es ab. Erstarrte. Nun musste er nicht mehr rennen. Präzise, mit erstaunlich mathematischer Präzision, waren die Kugeln durch den Propeller des Flugzeugs geflogen. In leuchtenden Bögen waren sie geflogen. Durch das rechte Auge hinein, durch den Hinterkopf hinaus. Und ein Auge war heil geblieben. Und blau. Und erstaunt. Und mädchenhaft. Viele schöne Dinge konnte man dort sehen, wenn das Mädchen an einem stillen Abend träumte.

      Eine Zeitlang hockte der Mann erstarrt da. Dann heulte er. Wie ein eingesperrter Hund. Und dann weinte er, bis er keine Tränen mehr hatte, und heulte wieder, bis er keine Luft mehr bekam. Dann begannen in der Nähe Artilleriegeschosse einzuschlagen.


Скачать книгу