Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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menschliche Augen wirklich so groß und durchdringend sein? Jetzt sind sie erschrocken, aber wie wunderbar, man kann sagen, kunstvoll erschrocken sie sind. Wie viel …

      Otto Kranz hat keine Ahnung, wer dort hinter diesen geweiteten Pupillen wohnt. Er wendet den Kopf langsam seinem Freund Müller zu. Dieser lächelt ironisch, er lächelt breit, er entblößt alle seine Goldzähne und erforscht Otto Kranz. Otto Kranz senkt seine geschwollenen Lider. Müller ist ein famoser und hilfsbereiter Mann. Er befiehlt mit seinem kehligen Tenor:

      »Sie sind für Sonderarbeiten eingeteilt. Sie werden mit diesem Herrn mitgehen. Machen Sie sich schnell bereit.«

      Die Jüdin verschwindet hinter einem Paravent.

      In diesem Augenblick ist im Zimmer ein Stöhnen zu hören. Das Duo sieht sich um. Aus der Tiefe des halbdunklen Zimmers nähert sich ihnen langsam, sehr langsam, mit lautlosen Schritten ein junger Jude. Er bleibt vor ihnen stehen. Sein Gesicht ist reglos, wächsern. Solche Figuren hat Otto Kranz im Wachsfigurenkabinett gesehen. Der Jude hat seine Hände auf dem Rücken, er bewegt sich nicht, nur die Muskeln über seinen Ellenbogen zucken ein wenig. Offenbar presst der Jude seine Finger zusammen. Schmerzhaft.

      »Was starrst du uns an?«

      Müllers Gesichtszüge werden schärfer. Die Winkel seiner Lippen neigen sich nach unten, seine Augen schließen sich ein wenig. Dies ist sein »dienstlicher« Ausdruck, wie er selbst sagt.

      »Verzeihen Sie … Sie arbeitet … Als ständige Angestellte. In der Näherei der Wehrmacht. Vielleicht …«

      Dem jungen Juden fehlen die Worte. Die Muskeln über seinen Ellenbogen zucken häufiger.

      »Und wer bist du?«

      Müller wirft diesen Satz besonders streng hin. Die Strenge erreicht er, indem er die Konsonanten betont.

      »Ich bin ihr Mann.«

      Aus irgendeinem Grund ist Müller über diese vier Worte erstaunt. Er lockert die Muskeln seiner Lippen und Augen. Er wirkt freundschaftlich.

      »Ach, so ist das! Und seid ihr beiden schon lange verheiratet?«

      Der Jude presst seine Finger nicht mehr zusammen. In ihm keimt Hoffnung auf.

      »Nein. Wir haben vor der Ankunft im Getto geheiratet.«

      »Aha! Beide jung, beide schön! Das ist schwer, natürlich. Was soll man machen, das ist Schicksal.«

      Oh, der famose Müller könnte ein guter Schauspieler sein. Und er spielt so, als würde er seinen besten Freund aufheitern wollen.

      Jetzt denkt er sich einen neuen Scherz aus. Er winkt dem jungen Juden mit dem Finger. Er lässt ihn näherkommen. Der Jude macht vorsichtig einen Schritt. Müller legt ihm die Hand auf die Schulter, beugt sich zu seinem großen wächsernen Ohr hinunter und fragt, mit einem Auge Otto Kranz zuzwinkernd, intim:

      »Sage uns in aller Freundschaft und offen: War deine Frau vor der Hochzeit unschuldig?«

      Der Jude öffnet wegen der unerwarteten Frage den Mund. Sein ohnmächtiges, erstauntes Gesicht erheitert das Duo. Der kehlige Tenor und der heisere Bass hallen wider im halbdunklen Zimmer. In diesem Augenblick kommt die angekleidete Jüdin hinter dem Paravent hervor. Müller verleiht seinem Gesicht den »dienstlichen« Ausdruck. Er weist auf die Tür.

      Da geschieht etwas Überraschendes für die im Gehen Begriffenen. Der Jude stürzt zu seiner Frau, drückt sie mit seinen mageren Armen an sich und brüllt. Mit hoher, sehr hoher Stimme:

      »Ich gebe sie nicht her! Ich gebe sie nicht her!«

      Oh, wie bleich manchmal ein Mensch werden kann! Einen derart weißen Juden hat Otto Kranz noch nie gesehen. Und wie charmant der famose Müller orientiert ist! Er wirft nur den linken Arm nach vorn, und der Jude fällt wie eine Säule zu Boden. Mit dem anderen Arm stößt er die Jüdin durch die Tür.

      Sie machen sich auf den Rückweg.

      »Ich benutze immer den linken Arm. Er ist besser trainiert.«

      Müllers Nasenlöcher blähen sich auf, er schreitet stolz und kräftig aus mit seinen blitzenden Stiefeln. Die neugierigen und erschrockenen Köpfe verschwinden von Türen und Fenstern. Sie lassen das Trio vorübergehen und verfolgen es dann wieder von hinten. Bis die drei das verriegelte Tor erreichen.

      Hier verabschiedet sich Müller:

      »Ich habe noch dienstlich zu tun.«

      Er schenkt Otto Kranz ein strahlendes Lächeln und verschwindet.

      Das kurvende Auto verlässt den ausgestorbenen Platz und biegt in das Netz der engen Gassen ein. Aus der düsteren Kirche kommen die beiden frommen Frauen, sie begleiten das eilige Paar mit Blicken. Sie flüstern.

      Schon gegen Abend wird ihm ungemütlich. Er muss mit großen Schlucken Cognac trinken. Die schweigende Frau hockt zusammengekrümmt in der Ecke.

      Das Abenteuer ist einfach geschehen. Sie hat gelächelt, viel gelächelt. Sogar gelacht. Ja … ihre großen dunklen Augen … Vielleicht täuschte er sich. Aber dort, auf dem Grund dieser Pupillen-Brunnen, war Hass. Alt, jahrhundertealt. Doch vielleicht war es ihm, dem Eroberer, nur so vorgekommen?

      Jetzt muss er sie loswerden.

      Otto Kranz geht ins Nachbarzimmer, greift nach dem Telefonhörer. Ruft seinen Freund Müller an. Als er den fröhlichen, kehligen Tenor hört, versucht er zu lächeln.

      Nein, ihm ist nicht fröhlich zumute.

      »Loswerden?« Es knackt im Hörer. Müller lacht scharf.

      »Schick sie nach Hause. Soll sich jetzt ihr Mann erfreuen. Hab keine Angst, sie wird nicht fliehen. Du kannst sie warnen, dass wir ihren Mann erschießen, wenn sie nicht zurückkehrt. Na, wie hat es dir gefallen?«

      Otto Kranz murmelt etwas Unverständliches und legt auf.

      Er geht zurück.

      Noch einmal begegnen sich die blassblauen und die riesigen dunklen Augen. Jetzt kann Otto Kranz ihnen nichts mehr entnehmen. Da, auf ihrer Wange, ist ein Kratzer von seinem verbogenen vergilbten Fingernagel. Wie eine rote Träne, die auf der Wange erstarrt ist. Aus irgendeinem Grund sagt Otto Kranz leise:

      »Sie können gehen.«

      Sie hört es nicht. Er hustet. Er wiederholt den Satz.

      Die Frau erhebt sich. Bringt sich in Ordnung. Zieht ihren schmutzigen Regenmantel an. Als sie am Fenster vorübergeht, wird sie von der Abendsonne ganz erleuchtet. Die Flecken auf ihrem Gesicht und der Regenmantel, die abgetragenen Schuhe und ihr reglos herabhängender Arm.

      Die Frau bewegt sich aufrecht, sie wankt nicht. Der feine persische Teppich saugt das Geräusch auf, es ist, als würde sie davonschwimmen.

      Die Tür schlägt zu.

      Zuerst laut, dann immer leiser – ihre Schritte auf der Treppe. Bis sie mit dem Lärm der Straße verschmelzen.

      Otto Kranz geht zum Tisch und trinkt den Cognac mit großen Schlucken.

      Über die Kronen der Kiefern ziehen eilig fahle Wolken. Die Kronen werden leicht vom Wind gebogen. Die Menschen, die an der rechteckigen Grube stehen, schweigen. Viele Rücken. Schmale, breite, männliche, weibliche. Und kindliche kleine Rücken, an die Beine ihrer Eltern geschmiegt. Die in Lumpen gehüllten Rücken und entblößten Genicke warten.

      Hier, auf dem Hügel, wartet eine Gruppe grün Uniformierter auf den Befehl. An ihren Kragen die Zickzacks. Diese Menschen sind bedeutend freier. Sie unterhalten sich halblaut auf Deutsch, rauchen. Sogar kurzes Gelächter ist zu hören. Viele Gesichter sind gerötet. Vom Alkohol.

      In den Reihen der Rücken beginnt ein Kind zu schreien. Vor Müdigkeit, Hunger oder unverständlicher Angst – das ist nicht klar. Die Mutter verschließt mit ihrer Hand den kindlichen Mund. Wieder Stille.

      Der famose Müller blickt prüfend auf die Uhr. Es wird Zeit. Er ruft die grünen Uniformen. Diese werfen die rauchenden Zigaretten ins Gras


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