Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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an?«

      Jetzt war der Mann endgültig verwirrt. Nach elf Jahren Ehe war es für ihn noch immer wie damals, als er verstohlen ihre glänzenden Zöpfe betrachtet hatte. Deshalb legte er, um Würde zu bewahren, das Gesicht ein bisschen in Falten und steckte seine Nase übertrieben ernsthaft in das Buch. Das Lesen fiel ihm jetzt leichter – es gelang ihm nicht immer in diesem Luftschutzkeller. Und der letzte Satz lautete:

      »… Die heidnischen Bulgaren schlugen unter Führung von Khan Krum (802–814) die Armeen von Kaiser Nikephoros …«

      Und da fiel die letzte Bombe. Eigentlich fiel sie neben das Hotel, doch das alte Sandsteingebäude stürzte ein und verschüttete den Luftschutzkeller. Die Frau und das Kind blieben am Leben, sie wurden von der Ecke und dem doppelten Gewölbe geschützt. Das herabstürzende Gestein erschlug die drei geschwätzigen Deutschen und den Mann mit dem kahlen Hinterkopf. Er hatte einen unverzeihlichen Fehler gemacht – er war bei dem heftigen Einschlag nach vorn gesprungen, weil er zu sehr in das Buch vertieft war, kam der plötzliche Einschlag sehr unerwartet, er hatte die Gefahr vergessen. Aus seinem gespaltenen Kopf quoll die Hirnmasse und befleckte die Weltgeschichte. Es sah aus wie ein von einem ungezogenen Jungen verschütteter Teller mit Brei.

      IV

      Es war genau ein Jahr her, dass die Frau mit dem blondierten Haar wie ein sechsjähriges Mädchen in ihr Zimmer gestürzt war. Sie war in den Sessel gehüpft und hatte vergessen, das Licht einzuschalten. Sie hatte mit unruhigen Armen ihre runden Knie umfangen, und ihre hellen, welligen Locken hatten das vor Freude strahlende Gesicht verdeckt. An diesem Tag hatten die Zeitungen in noch fetteren Buchstaben geschrien:

      »Wir siegen! Der Krieg geht zu Ende! Wir siegen!«

      Sie hatte es nicht lang ausgehalten in dem Sessel. In wenigen Sekunden erledigte sie mehrere Dinge gleichzeitig. Sie machte Licht, rannte zum Kleiderschrank und suchte das Kleid heraus, das Jack ihr geschenkt hatte. Die üppigen bronzefarbenen Blumenranken auf dem gelben Hintergrund schienen ihr so lieb und vertraut. Die Frau zog sich blitzschnell ihr Arbeitskleid aus und das Verlobungskleid an. Sie lief zum Spiegel, drehte sich wie eine Tänzerin, landete am Fenster und rief der bestirnten Kaugummireklame zu:

      »Hier müsste geschrieben stehen … Bald sind der Frühling und Jack zurück!«

      Wie eine kleine Schlange tänzelte sie vor dem Spiegel einen modischen Swing, bis … ein Klingeln sie unterbrach. Sie hatte es nicht gleich gehört. Sie war überschwänglich fröhlich, die Stadt lärmte, erfüllt vom Swing, und sie wollte ein bisschen weinen. Doch das Klingeln war hartnäckig. Die Frau lächelte dem Spiegel zu und schwebte zur Tür. Vor der Tür stand ein Mann mit einem weißen Briefumschlag in der Hand. Wortlos steckte er ihr den Umschlag zu und verschwand im Fahrstuhl. Sehr still schloss die Frau die Tür und ging sie sehr still zurück ins Zimmer. Sie öffnete vorsichtig mit einem Finger den Umschlag und las die maschinengeschriebenen, nüchternen Wörter. Dann ergriff sie mit beiden Händen hier, am Hals, das Kleid und riss es auseinander. Sie zerriss das Kleid, weil in dem Schreiben stand, dass Jack bei einem Einsatz gegen eine feindliche Stadt umgekommen war. Der breitschultrige, ewig lächelnde Baseballvirtuose.

      V

      Die von Obstbäumen gesäumte Landstraße lief geradewegs auf die blauen Berge zu. Auf den Gipfeln der Berge dämmerten die ordentliche Überreste von Burgen vor sich hin, über die die frühlingshaften Strahlen der Mittagsonne wanderten. Die dunkelhaarige Frau zog einen Handwagen. In dem Handwagen lagen wackelnd ein zerschlissener Koffer und ein müder kleiner Junge. Lastwagen sausten in beiden Richtungen über die Landstraße, sodass von dem Staub die Zöpfe der Frau die Farbe von Asche angenommen hatten. Während die Frau mit gleichförmigen Schritten vor sich hin schlurfte, kaute sie an ihrer Oberlippe. Diese beständige Grimasse ihrer unteren Gesichtshälfte hatte der Tod im Keller des kleinen Hotels hervorgebracht. Weinen wollte die Frau nicht. Ihre Augen schmerzten vor Trockenheit. Nicht einmal mehr von den Sandkörnern konnten sie gereizt werden, die die Reifen der Lastwagen aufwirbelten. Der Junge hatte Angst vor dem seltsamen Gesicht seiner Mutter.

      »Was kaust du so?«, hatte er gefragt, als die beiden das eingestürzte Haus, das Grab seines Vaters, verließen.

      »Was?!«, schrie die Mutter auf, und der Junge fragte nicht noch einmal. Die beiden gingen nebeneinander her, und er bemühte sich, nur nach vorn zu schauen. Ihre ständig sich bewegenden Lippen weckten Neugier und Unruhe in ihm.

      »Warum tut sie das, und warum ist Vater …«

      Nach zwei Wegstunden war er müde, bekam einen Klaps auf den Rücken und wurde in den Handwagen geworfen. Jetzt schlummerte er, so wie jedes schlecht ernährte Kind. Die dunkelhaarige Frau zog den Handwagen auf der von Obstbäumen gesäumten Landstraße, und die ordentlichen Überreste der Burgen auf den Gipfeln kamen langsam näher.

      Als die Frühlingssonne deutlich höher stand, kamen die beiden an eine Brücke über einen großen Fluss. Hier, an der massiven steinernen Brüstung, blieb die Frau stehen. Hier ließen sich die beiden in das frische grüne Gras fallen, das nach Jugend duftete, und aßen kümmerliche Brotkanten. Die Lastwagen pfiffen an ihnen vorüber, und unten floss langsam das stählerne Wasser.

      Die Frau kaute noch immer an ihren Lippen. Sie wollte sich ein wenig beruhigen, sie biss schmerzhaft mit den Zähnen zu und starrte auf die Welt. Sie konnte deutlich die Sonne sehen, die Lastwagen, die blauen Berge, die Überreste der Burgen, die massive steinerne Brücke. Auf der Brücke schaukelte ein zerstörter kahler Hinterkopf. Der zerschmetterte Kopf kam näher, er verdeckte die Welt. Die blauen Berge, die Überreste der Burgen, die Lastwagen und die Sonne verschwanden. Dieser Kopf war riesig, und neben ihm flatterten die Seiten der Weltgeschichte. Die Buchseiten wirbelten in sich nähernden Kreisen umher, und die dunkelhaarige Frau stand auf und begann über die Brücke zu rennen. Sie rannte schnell, so schnell, dass der Junge »Mama« schrie und sie nicht einholen konnte.

      Die Frau und das Kind rannten über die Brücke, und die Lastwagen pfiffen an ihnen vorüber, und hoch oben schien froh die Sonne, und in der Ferne standen verträumt die ordentlichen Überreste der Burgen. »Mama«, hallte es in den Feldern, »Mama, warte!« Seine Beinchen wackelten schnell, sehr schnell …

      VI

      Genau ein Jahr später saß die Frau mit dem gefärbten Haar in ihrem weichen Sessel, knüllte im Schattenspiel der bestirnten Kaugummireklame den Stofffetzen zusammen, der sich früher einmal Kleid genannt hatte, und dachte über das ungeklärte Problem des Todes nach. Ihr ursprünglicher Schmerz war abgeklungen, und die Gleichgültigkeit, die ihn verdrängt hatte, war bedrückend. Genau ein Jahr – nichts als die Arbeit. Nur manchmal ein belangloses Vergnügen – Kino oder Baden, sonst nichts. Nein, dieser quälende Fetzen, der sich früher einmal …

      Es klingelte, lange und hartnäckig, wie vor einem Jahr. Wie vor einem Jahr rappelte sich die Frau aus dem Sessel auf, nur dieses Mal mit ruhigen, bedachten Bewegungen, sie drückte auf den Lichtschalter und betrachtete sich im Spiegel. Ihre schlanke Figur und das gepflegte Gesicht waren schön. Ihre üppigen, verheißungsvollen Lippen waren gerötet, und das gefärbte Haar passte zu dem frisch gepuderten Oval. Die Frau ging mit festen, gleichmäßigen Schritten in den Flur. Das einzige Anzeichen ihrer Geistesabwesenheit war der Stofffetzen in ihrer linken Hand. Vor der Tür, im trüben Licht des Korridors, warfen zwei bebrillte, schmächtige Wesen mit Wörtern um sich. Sie faselten etwas von der Armut im fernen Europa, von Hilfsgütern, von Kleidung. Die Frau mit dem gepflegten Gesicht verstand nicht gleich, was man von ihr wollte. Da zeigte eines der schmächtigen Wesen auf den zerknitterten Stofffetzen in ihrer Hand und erstarrte erwartungsvoll. So standen die drei menschlichen Gestalten eine Weile herum. Dann schleuderte die eine – die mit dem gepflegten Gesicht – das ehemalige Kleid fort. Die Brillenträger fingen es geschickt auf und verschwanden wieder faselnd im Fahrstuhl. Die Zurückgebliebene klammerte sich an die Tür, ihrer Kehle entwich ein seltsames Geräusch. Plötzlich kamen ihr die Tränen, es waren so viele, dass Puder, Creme und Lippenstift zu einer bunten Masse zusammenliefen. Diese menschliche Maske im trüben Licht des Korridors war furchtbar und alt. Vor Tausenden von Jahren haben mit den


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