Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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klingelte lange. Sie wartete ab. Wieder klingelte es. Der Abend warf mit Leuchtreklamen um sich. Strahlende verschiedenfarbige Buchstaben, die plötzlich aufblinkten, einer nach dem anderen, und der bestirnte Markenname eines Kaugummis leckte am blondierten Haar der Frau. Die Frau kauerte in einem Sessel. Direkt neben ihr, an der Wand, war der Lichtschalter. Zum Greifen nahe. Aber die Frau hockte reglos in dem weichen Sessel und versuchte zum ersten Mal in ihrem Leben, sich im Spiel der Schatten zu vergessen. Dämmerung, plötzlich aufscheinende Buchstaben, Leuchtreklame, die in dem Zimmer geometrische Lichter mit Schatten ausstreute, und wieder Dämmerung, die in verschiedenen Tonlagen schrie. Vor dem Fenster heulte die abendliche Stadt. Die Stadt, die den Frieden liebte. Den Lärm. Das Geld. Den plötzlichen Tod.

      Genau dieses ungeklärte Problem des Todes versetzte die blondierte Frau in lang anhaltende Erstarrung, diese Frau, die eine Abneigung gegen die Dämmerung hatte. Denn sie liebte das helle Licht, die schnelle Bewegung, rote Lippen, breite männliche Schultern und das garantierte Lächeln von weißen Zähnen. Doch an diesem Abend hockte sie einsam in ihrem Zimmer und knüllte einen Stofffetzen zusammen. Dieser Fetzen hatte sich früher einmal Kleid genannt. Der Künstler, der das Muster auf dem Stoff gemalt hatte, hatte es von tropischen Pflanzen in einer Orangerie abgeschaut. Deshalb wuchsen auf dem gelben Hintergrund des ehemaligen Kleids üppige bronzefarbene Blumen, die ein wenig aussahen wie Sonnenblumen. Vor dem Krieg hatte dieses Muster Erfolg, der Künstler konnte sich einen roten Sportwagen leisten. Dieses Kleid hatte er der blondierten Frau Jack gekauft. Ein breitschultriger, garantiert lächelnder Baseballvirtuose.

      »Es steht dir, Darling!« – Der Satz war auf der Straße gefallen und sofort im Lärm der Stadt untergegangen. Doch das letzte Wort, Darling, grub sich in ihr Gedächtnis ein. Jack hatte es zum ersten Mal ausgesprochen. Dann gingen die beiden ins Kino. Auf der Leinwand küssten sich schön gepflegte und frisierte Paare. Jack drückte ihre Hand, und sie spürte, wie seine starken Muskeln bebten. Im Kino haben sich die beiden nicht geküsst. Es geschah später, in einer halbdunklen Gasse, an einem Zigarettenautomaten. Und dann … Dann haben die beiden geheiratet, und einige Zeit später wurden die Straßen von der Kriegserklärung überschwemmt. Jack umarmte sie fest, blitzte mit seinen soliden Zähnen und ging fort. Den Krieg erlernen. Noch ein paar kurze, heiße Wiedersehen, und er flog fort. In den Krieg. Mit einem viermotorigen Bombenflugzeug.

      Anfangs war die blonde Frau erschüttert. Tagsüber arbeitete sie in dem immer gleichen Büro einer Fabrik, tagsüber benutzte sie gewissenhaft immer den gleichen Lippenstift von ein und derselben Firma, das immer gleiche, antrainierte Lächeln (traurige Augen, wunderbare Zähne), doch die immer gleichen trüben Abende setzten ihr zu, mit dem ständigen Gedanken, der sich nicht vertreiben ließ:

      »Jack ist nicht da, er fliegt, und … wer weiß …«

      Später beruhigte sich die blonde Frau, oft konnte man sie im Kreis ihrer Freundinnen fröhlich krakeelen sehen, und die fett gedruckten Nachrichten in den Zeitungen schrien:

      »Der Krieg ist bald zu Ende, gleich, gleich ist der lästige Krieg vorbei!«

      II

      Alle Instrumente des Bombenflugzeugs funktionierten ordnungsgemäß. Diese feindliche Ortschaft musste zerstört werden. Sie waren fast fertig mit dem Abwurf der Bomben. Unten erzeugten sie immer neue Feuerblumen. Jetzt blieb nur noch die allerletzte. Jack drehte sich zu seinen Freunden um. Sie lächelten wie immer:

      »Gleich sind wir fertig mit der Arbeit.«

      Es war toll, dass sie gleich zurückfliegen würden. Jack wollte sich bewegen. Er lehnte sich ein bisschen zurück in seinem Pilotensitz.

      »Meine Frau ist um diese Zeit schon zu Hause«, erinnerte sich Jack und streichelte mit den Fingern die Oberfläche der Uhr des Flugzeugs, und weil er sich für den unerwartet herausgerutschten Satz schämte, lächelte er noch breiter.

      »Sie ist blond, ich glaube, Ben, dir gefallen Blondinen?«

      Ben war so wunderbar schwarz, wie eine bewölkte Herbstnacht. Ben lachte laut, ein sprudelndes, schwarzes Gelächter:

      »Hast du vielleicht ein Foto von ihr?«

      Jack trug das Foto in der Brusttasche. Er brauchte nur zwei Sekunden, um es herauszuholen. Jack gab das Foto nicht aus der Hand, er hielt es nur vor Bens glänzendes Gesicht. Dessen breite Lippen öffneten sich:

      »Sie ist schön und so blond.«

      »Und wenn sie das Kleid trägt, das ich ihr geschenkt habe, oho!«

      Jack lächelte und lächelte. Nur seine weißen Zähne leuchteten im Cockpit. Er steckte das kostbare Foto wieder ein und fühlte, dass sein gesundes sportliches Herz schneller schlug, so als hätte er die Ziellinie bei einem Lauf erreicht. Er konnte nicht ruhig auf der Stelle sitzen und drehte sich noch einmal um, er zwinkerte dem begeisterten Ben zu und warf die letzte Bombe ab …

      Und sofort leuchtete ein grelles Licht auf, ganz nah – rechts.

      Ein Geräusch hörten sie nicht, diese Männer, die vom fernen Amerika träumten. Sie sahen, dass an dem ordentlich glänzenden Innenraum des Cockpits Flammen leckten, und sie spürten, dass sie sanken. Da klammerte Jack sich an den, der ihm am nächsten war – Ben. Das Lächeln erstarrte in seinem Gesicht, er schaffte es nicht mehr, seine Lippenmuskeln zu entspannen.

      »Wir wurden angeschossen«, brüllte er, doch Ben konnte es nicht hören. In Bens Augen war nur noch Weiß, seine Pupillen waren hinter den Oberlidern verschwunden. Jetzt begannen sie, einander umklammernd, zu tanzen, mit nach oben ausgestreckten Beinen – die Gruppe der jungen Männer konnte nicht ruhig sterben. Dann fielen sie hin und wälzten sich in den Flammen. Doch diese glühende Ewigkeit endete, als das viermotorige Bombenflugzeug auf der Erde aufschlug.

      III

      Die letzte Bombe fiel neben ein kleines Hotel. Das kleine Hotel stand am Stadtrand, und wenn der lächelnde Jack sich nicht seine blonde Frau in Erinnerung gerufen hätte, wäre die letzte Bombe wahrscheinlich auf das Stadtzentrum gefallen. Wahrscheinlich wäre dann das zweigeschossige kleine Hotel heil geblieben, und die Familie, die in einem Winkel des engen Kellers kauerte, hätte das Siegel des Todes nicht zu spüren bekommen. Sie saß während des Fliegeralarms immer an den rechten Rand des Raums gedrängt. Hier schien ein vergittertes Lämpchen, und der Mann mit dem kahlen Hinterkopf las dann immer ein Buch. Es war das einzige Buch, das er aus Litauen mitgebracht hatte. Der zweite Band der Weltgeschichte von H. G. Wells. Warum ausgerechnet dieser im Koffer gelandet war, daran konnte sich der Mann nicht mehr erinnern. Tatsache war, dass er ihn besaß und immer im Luftschutzkeller las, weil das Lesen die Angst ein bisschen unterdrückte. Und das Anfluten der Angst hing von den nahenden Einschlägen und von dem zitternden Köpfchen des Kindes ab, das sich an die Schulter seiner Mutter schmiegte. Der emsige Leser der Weltgeschichte verbrachte diese ungemütlichen Stunden mit seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn. Ja, das Trio saß immer in dieser Ecke, hier schien das vergitterte Lämpchen und die Gewölbedecke über ihren Köpfen war doppelt gemauert, deshalb war es gleichsam gemütlicher, gleichsam sicherer.

      An diesem Abend saßen sie ruhig da. Das Stadtzentrum wurde bombardiert, und von den dumpfen Einschlägen bebten nur die feuchten Wände. Schließlich beruhigten auch sie sich. Es stand zu hoffen, dass bald Entwarnung gegeben würde. Die sechs alten Deutschen, die in der Mitte des kleinen Kellers saßen, unterhielten sich laut. Der Mann mit dem kahlen Hinterkopf löste den Blick vom Buch. Er verspürte den Wunsch, das Köpfchen seines Kindes zu streicheln. Doch das Kind schlief mit geöffnetem Mündchen, an die Brust der Mutter geklammert, und der Blick des Mannes sog das Gesicht seiner Lebensgefährtin ein. Die Lampe von fünfundzwanzig Watt erzeugte wenig Licht, das Gesicht der Frau war mit Schatten bedeckt, aber ihre dunklen Zöpfe krönten wie ein strahlender Kranz das geliebte Gesicht. Der Mann war stolz auf die Zöpfe seiner Frau. Durch sie hatte sie sich von vielen anderen unterschieden, als die beiden sich in Litauen zum ersten Mal begegneten, im bescheidenen Lehrerzimmer eines Gymnasiums in der Provinz, und diese seiner Ansicht nach wunderbare Eigenheit hatte sie bis zum heutigen Tag beibehalten.

      »Was siehst du mich so


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