Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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Feldern an dem Gehöft.

      Jetzt drückte er sie sehr sanft an sich und küsste ihre Augenhöhlen. Dort hatten vor langer Zeit blaue Seen gestrahlt. Die beiden standen in einer Umarmung da und schwiegen. Bis sie von Milliarden lautlosen Schneeflocken weiß wurden. Und die versteckten Gebirgskämme und die im Dunkeln schmelzenden Fichten – warteten. Schon kam die Nacht.

      Doch die beiden blieben nicht zusammen stehen. Sie lösten sich ohne Worte voneinander, und der Mann ging bergabwärts, und die Frau bergauf. In der Stille, der bedrohlichen Stille der Berge. Sie trennten sich zum letzten Mal. In einer dunklen Nacht in den Bergen, als der Krieg schon längst zu Ende war.

      GEFANGEN

      Endlich hängt diese stark zerstörte Stadt in Bayern Laternen in den Straßen auf.

      Klar, die Lampen hängen ziemlich weit auseinander und leuchten wesentlich fahler als vor dem Krieg. Wenn ein Mensch von einer Laterne zur nächsten geht, spielen Schatten auf seinem Gesicht. Sowohl von den Ruinen der Häuser als auch von den hohen Linden auf den zahlreichen Freiflächen. Manchmal toben in der Stadt die starken Wellen des Gebirgswinds, sodass die in der Straßenmitte hängenden Lampen hin und her baumeln – und dass manchmal, plötzlich, ein Lichtstrahl direkt auf einen Passanten fällt, natürlich, sehr kurz, aber den Menschen kann man dann erkennen.

      Diese Stadt zeichnet sich durch eine Vielzahl von engen und kurzen Straßen und Gassen aus. Dort hat die Stadtverwaltung nur wenige Laternen aufgehängt, sie tauchen meist unvermittelt auf, an Kreuzungen. Dunkelheit und scharfe, aus Ritzen von Fensterläden hervorbrechende Lichtstrahlen, ein flimmerndes Glänzen und … plötzlich eine dieser gehenkten Laternen, die einen magischen, klar umrissenen Lichtkreis wirft. Und dann wieder Dunkelheit und wieder scharfe Lichtstrahlen, die an den Beinen der Passanten lecken.

      Otto Kranz mag die gefällige Verborgenheit der Gassen. Wenn die Stadtverwaltung diese spärlichen Belege der Friedenszeit wieder abhängen würde, wäre Otto Kranz nicht allzu sehr beunruhigt. Er würde jeden Abend spazieren gehen, ohne sich zu verirren, ganz gleich ob das Wetter gut oder schlecht wäre. Frische Luft tut der Gesundheit gut, während es in der kleinen Küche im zweiten Stock heiß und stickig ist.

      Otto Kranz zeigt sich nicht in der Stadt. Tagsüber sitzt er an einem kleinen Tischchen in der Ecke der Küche, den groben Schädel mit dem kurz geschorenen Haar auf seine Pranken gestützt, und blättert in alten Ausgaben der Wehrmacht. Darin sind viele vergangene Dinge. Unzählige Züge von Stahlhelmen marschieren über die Seiten, es flimmern die Namen eroberter Länder und Städte, und der großartige Führer hebt unaufhörlich seine alles zermalmende Handfläche in die Höhe.

      Zu jeder vollen Stunde knarrt die Wanduhr von der Gestalt eines Bauernhauses, das Türchen öffnet sich, ein hölzerner Kuckuck springt heraus und schreit krächzend.

      Kuckuck, kuckuck!

      Dann löst Otto Kranz den Blick von der alten Wehrmacht und schaut geradeaus, zur Wand. An der Wand ist nichts Besonderes. Ein kleines Bildchen aus dem vergangenen Jahrhundert. Eine Wiese an einem Hang, ein Mädchen, das Blumen pflückt, und in der Ferne schlecht gemalte Berge. Es hat den Anschein, als würden sie jeden Augenblick in die steile Wiese fallen.

      Manchmal betrachtet Otto Kranz das Bild, bis eine Stunde später wieder der heisere Kuckuck ruft. Dann starrt er wieder den großartigen Führer an, der die alles zermalmende Handfläche in die Höhe hebt, und in seinen runden blauen Augen spiegelt sich eine ungelöste Frage.

      Warum?

      Die Besitzerin der kleinen Küche, Erna Zerfling, fürchtet sich vor diesen ungemütlichen Augenblicken. Sie kennt Otto Kranz schon lange, sie ist jetzt fünfzig, aber vor dreißig Jahren …

      Dieses kleine Abenteuer, als Otto eine Fleischerei in einem Städtchen in Thüringen leitete und seine Augen noch vollkommen blau waren. Ja, was soll man machen, jungen Mädchen passiert so etwas oft. An den Sonnabenden ist im Hotel lange Tanz, das starke Bier berauscht, und die Begleitung auf dem Heimweg dauert bis zum frühen Morgen …

      Später gerät das Abenteuer in Vergessenheit, sie muss einen anderen heiraten. Nur, wenn man fünfzig wird, dann wünscht man sich, wünscht man sich sehr, sich an das zu erinnern, was vor dreißig Jahren geschah. Besonders, wenn dieser Mensch unglücklich ist und Schutz und Betreuung braucht.

      Frau Zerfling weiß, warum Otto den ganzen Tag lang in der Wehrmacht blättert und abends spazieren geht. Gut, dass sie eine einsame Witwe und geflüchtet ist, sodass man sie hier kaum kennt. Trotzdem bebt ihr Herz, wenn jemand an die Tür klopft und sich Otto im Flur versteckt. Doch eigentlich hat er keine schlechten Papiere, er hat sie sich kurz vor dem Kriegsende beschafft …

      Nur … man liest jeden Tag in den Zeitungen, dass wieder einer geschnappt wurde.

      Aber … vor dreißig Jahren hat er sie bis zum frühen Morgen begleitet, und daran kann sie sich aus irgendeinem Grund hervorragend erinnern, bis ins letzte Detail, an alles.

      Und so sitzt sie auch jetzt da und strickt und wartet. Es ist später Abend, fast halb elf, Sperrstunde, und Otto ist immer noch nicht da. Sonst kommt er immer kurz vor zehn.

      Heute Abend ist der Himmel bestirnt, die Sterne funkeln nicht allzu sehr; da die Spitzengardinen beiseite geschoben sind, kann man sie durch das Küchenfenster sehen. Sie findet einen ziemlich verblassten Stern und versinkt in Gedanken.

      Und wenn sie nun Otto geheiratet hätte? Ein Großteil ihres Lebens wäre angenehm verlaufen und einige Jahre königlich. Wenn Otto guter Stimmung ist, dann erzählt er von der Tschechoslowakei und von Litauen. Das letztere Land ist Frau Zerfling unbekannt, aber daran erinnert sich Otto besonders gern. Essen im Überfluss, ein schickes Auto und freie Hand. Frau Zerfling wird sogar ärgerlich, während sie auf den verblassten Stern starrt. Wenn sie nur vor dreißig Jahren …

      Man sollte nicht immer auf die Eltern hören. Natürlich, das Ende wäre dasselbe, diese kleine Küche, aber eine Reihe von Jahren …

      Otto sagt, in Litauen habe es spezielle Geschäfte für die Deutschen gegeben, wo man nicht habe anstehen müssen, man sei im eigenen Auto angefahren gekommen und habe nur einkaufen müssen. Und das sei nur ein Teil der Annehmlichkeiten gewesen. Den Rest hätten Lastwagen aus Warenlagern herangeschafft.

      Frau Zerfling schaut nicht mehr auf den Stern, sie schließt die Augen, und vor ihr breitet sich ein fantastisches Land aus. Wie im Märchen, für Kinder. »Hans im Land der Vielfraße«. Deshalb zuckt Frau Zerfling zusammen, als der hölzerne Kuckuck aus dem Türchen springt und elf Mal ruft, so als wäre sie gerade erwacht.

      »Mein Gott!«, ruft sie aus, ergreift ihr Strickzeug und legt es wieder auf den Tisch. Wird es denn wirklich morgen in der Zeitung stehen?

      »Otto Kranz festgenommen, ein bekannter Nazi, der sich besonders in der Tschechoslowakei und in Litauen hervorgetan hat.«

      Frau Zerfling ist im Begriff, endgültig die Nerven zu verlieren. Sie stellt sich vor den Spiegel mit dem Holzrahmen und streicht mit den Handflächen über ihr glattes, ergrauendes Haar, dann greift sie wieder nach dem Strickzeug und versucht, die Maschen zu zählen. Die Zahlen geraten durcheinander. 12, 13, 8, 6, 13 …

      Sie geht ans Fenster und riecht aus irgendeinem Grund an den Leberblümchen in der kleinen blauen Vase. Da zuckt sie zum zweiten Mal zusammen, es klopft an die Tür. Dreimal lang, zweimal kurz …

      »Gott sei Dank! Otto!«

      Sie schließt die Tür auf, hilft ihm aus dem Mantel.

      »Wo bist du so lang gewesen? Es ist schon elf!«

      Otto Kranz schweigt. Frau Zerfling stellt sich vor ihn hin, ihr volles, aber schon kleiner werdendes Gesicht (mit vielen kleinen Fältchen) nähert sich den Tränensäcken an seinen blauen Augen und wartet auf eine Antwort. Doch Otto Kranz wendet sich ab, geht ans Fenster und zieht plötzlich die Gardinen zu. So plötzlich, dass die blaue Vase mit den Leberblümchen vom Fensterbrett fällt. Frau Zerfling hockt sich auf den Boden und sammelt langsam die Scherben und die Erdklümpchen ein, während ihr Gesicht nach oben


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