Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma
Ereignissen verflochten sich, stießen aufeinander und prallten voneinander ab in diesem fahlen, einschläfernden Dunst. Jetzt war wirklich jeder von uns eine Tatsache für sich, jeder schrie irgendetwas Besonderes über sich heraus. Das Verdunkelungspapier in den Fenstern trennte uns von den vergangenen Jahrhunderten. Wir irrten umher in diesem abgesperrten Zimmer. Wir irrten umher in trunkener Hysterie, weil uns das alltägliche Chaos, die erschütternden Ereignisse und der Verfall unserer Persönlichkeiten quälten. Bis wir einschliefen. Ohnmächtig, schnarchend, mit offenen Mündern, zerknittert, abstoßend. Ja, dieses Wasser des Lebens war kein Wasser des Lebens. Es war ein schwer erhältlicher Betrug. Trotzdem werde ich diesen Abend nicht so bald vergessen.
Auch die Sätze des Professors, die mir noch so saftig im Ohr klingen, als hätte ich sie erst vor einigen Stunden gehört. Der Herr Professor hatte sich nichts Neues ausgedacht. Seine Weisheiten waren so alt wie die Steinzeit. Vielleicht, der Mode entsprechend, ein wenig pompöser hergerichtet. Und auch die Menschen waren wie in der Steinzeit. Nur – der Mode entsprechend pompöser hergerichtet.
DER KALENDER
Vilnius. Die Gediminasstraße. Ein großer, verwaister Platz (das rege Markttreiben von den Besatzungen hinweggefegt) und gegenüber – ein Palast. Nicht hässlich, sympathisch anzusehen. Hell gestrichen, harmonisch komponiert. Und still, als würde niemand in ihm leben, als stünde er leer. Trotzdem wird er von dem Passanten gemieden. Oder, wenn er vorübergeht, dann mit kleinen, schnellen Schritten. Vor nicht allzu langer Zeit, da hatte er hier einen kurzen Schrei gehört – oder gemeint zu hören (oh, die Doppelfenster sind fest montiert in den steinernen Mauern!), der plötzlich abbrach, und der Passant wusste nicht, ob der Schrei aus dem Keller des Palasts entwichen war oder ob der Lastwagen, der auf der Gediminasstraße anhielt, gekreischt hatte. Deshalb – so schnell wie möglich vorbeigehen … Diese schweren Eichentüren und diese breite Fahne mit diesem kabbalistischen Hakenkreuz … Ah … Der Passant atmet erleichtert auf, als der hell gestrichene Palast hinter ihm liegt. Vielleicht hatte er sich wirklich nur verhört? Vielleicht hatte der Lastwagen gekreischt? Nein, still, sehr still, als würde niemand in ihm leben, als stünde er leer, stand dieser Palast an der Gediminasstraße. Nur einmal …
Die erste Etage. Ein geräumiges Zimmer. Ein riesiges Fenster. Es ist hell. Ein glänzender Schreibtisch. Braun und poliert. Hinter dem Tisch sitzt ein Staatsanwalt von brauner Gestalt. Hinter ihm, an der Wand, hängt der braune und selbstzufriedene Führer. Vor dem Tisch steht ein junger Mann mit zerzaustem Haar. Sein Gesicht ist blass, die Muskeln angespannt. An den Mundwinkeln. An der Stirn. An den hohlen Wangen. Auf der Glasplatte des Tischs liegen litauische Untergrundzeitungen, ein Aschenbecher, eine Pistole. An der Wand gegenüber, mit der schwarzen Tür, hängt ein Kalender. 16. Februar 1944.
Der Staatsanwalt raucht. Stößt den Qualm aus. Dieser steigt dem Stehenden in die Nase, der ihn gierig einatmet und schweigt. Er ist entschlossen, nur ein einziges Wörtchen zu sagen: Nein. Der Staatsanwalt, der braune, möchte viele, viele wichtige Wörter hören. Durch wichtige Wörter würde der Braune aufsteigen, er würde dem selbstzufriedenen Führer näher kommen, vielleicht sogar einen Händedruck erhalten für den aufrichtigen Dienst. Dem Braunen passt die Stille nicht. Er zieht den Stuhl näher an den Tisch heran. Ächz … seufzt der Fußboden, und der junge Mann zuckt zusammen. Ja, seine Nerven sind nicht in Ordnung, eine Woche Verhör – das heißt schon was.
»Ich frage zum letzten Mal. Ich habe es satt. Was soll denn das Nein heißen. Zier dich nicht wie ein junges Mädchen, das von einem Mann bedrängt wird.«
Der Braune versucht zu scherzen. Wirklich, mit Fäusten auf den Tisch zu schlagen ist aufreibend. Ebenfalls zuzusehen, wie der mit gefesselten Händen am Türhaken hängende Mann mit den zerzausten Haaren von zwei schnaufenden Helfern mit Gummiknüppeln geschlagen wird. Manchmal, nach langen, verzweifelten Stunden, hilft ein warmherziges Wort, o ja, wie das hilft! Der Braune zieht sogar seine fleischigen Lippen auseinander, und es stellt sich so etwas wie ein sympathisches Lächeln ein. Das Einzige, das er noch hat und das er benutzt, um den Frauen zu gefallen. Na ja, dieses Mal muss er es diesem blassen Mann mit den zerzausten Haaren schenken. Wenn er dem ein Dutzend wichtige Wörter abringt … Oho, wer kann das wissen? Und der Braune wackelt mit dem Kopf.
»Setz dich. Reg dich nicht auf. Wir können auch freundlich reden. Rauch eine, konzentrier dich. Und dann denk ruhig nach.«
Das Wort wir klang so, als würde der große Braune, der an der Wand hängt, dem kleinen, hier sitzenden Braunen persönlich beipflichten. Der junge Mann ergreift gierig eine Zigarette. Oh, der Wunsch zu rauchen ist übermenschlich! Er nimmt einige Züge. Sein Herz pocht, die Beine werden weich, und der Kopf des vor ihm sitzenden Ermittlers verwandelt sich in eine riesige schwankende Kugel. Dies dauert ein paar Augenblicke. Er reißt sich schnell zusammen – dieser blasse Mann mit den angespannten Gesichtsmuskeln.
»Na also. Das ist ein gutes Beruhigungsmittel, oder nicht? Wir können Ihnen auch öfter welche geben. Das ist möglich, wenn Sie sich entsprechend verhalten …«
Der Braune steht auf, betrachtet eine Zeit lang aufmerksam den Rauchenden und geht, ohne den Blick abzuwenden, zum Fenster. Hier reckt es sich in die Höhe, das kleine, dickliche Männchen, und öffnet das Fenster. Ins Zimmer strömt kühle, erfrischende Luft. Der rauchende Mann weiß nicht einmal, was ihm besser schmeckt. Die Luft oder die Zigarette? Er nimmt den letzten Zug, drückt den Stummel im Aschenbecher aus und wendet sich mit dem ganzen Körper dem Fenster zu. Der Braune lächelt. Er schließt das Fenster. Lächelnd kehrt er zum Tisch zurück.
»Heute ist der Frühling zu spüren. Die Luft ist so erfrischend.«
Er schließt die Augen. Nicht ganz. Sie blitzen auf in schmalen Ritzen.
»Heute habe ich auf der Straße ein wunderbares Mädchen getroffen. Sie hat mich angelächelt.« Der Braune zieht die Wörter in die Länge, als wären sie so köstlich, dass er sie nicht aus dem Mund lassen möchte.
»Wir sind gut informiert. Wenn ich mich nicht irre, in Antakalnis … Ach, immer vergesse ich die Straßennamen … Aber hier ist das nicht so wichtig. Die kleine Straße beginnt diesseits der Peterskirche. Dort steht ein blaues eingeschossiges Häuschen. In diesem Häuschen wohnt … Ich glaube, das Mädchen, das in dem blauen Häuschen wohnt, ist noch schöner als das, das mir heute Morgen auf der Straße zugelächelt hat.«
Der Verhörte klammert sich mit beiden Händen an die Tischkante. Der Braune öffnet die Augen und beugt sich nach vorn. Die Gesichter der beiden sind sich nahe. Die folgenden Worte spricht der Braune leise, aber sehr deutlich aus:
»Das wunderbare Mädchen, das in Antakalnis wohnt, kommt immer spät nach Hause. Ja, wir wissen, dass sie abends arbeitet und gewissenhaft zur Nacht in das blaue Häuschen zurückkehrt. Allein. Sie können stolz sein – sie ist Ihnen treu. Aber … die Stadt ist verdunkelt, und auch in ihrer Straße herrscht völlige Dunkelheit. Wenn sie eines Abends Ihretwegen nicht heimkehren würde …«
Der Braune lehnt sich zurück. Er betrachtet zufrieden die Finger des jungen Mannes. Seine Fingernägel sind weißer als sein Gesicht. So stark drückt er gegen die Tischkante. Jetzt spricht der Braune, als sei er dieses Themas unglaublich überdrüssig. Sein Zuhörer muss warten, ehe die vollständige Bedeutung der Wörter ihn erreicht.
»Ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Die Schläge haben keine allzu große Wirkung auf Sie. Trotzdem sollten Sie sich merken, dass dieser Sport« – er zeigt auf den Haken an der Tür – »nur der erste Buchstabe des Alphabets ist, das A. Wenn wir die nächsten anwenden … Gestern habe ich das Mädchen aus Antakalnis gesehen. Sie ist blond, wenn ich nicht irre. Sie schminkt sich nicht. Sie ist nicht älter als zwanzig. Sie kann noch nicht lieben, was manchmal sehr anziehend ist. Sagen wir, um der Abwechslung willen kann auch ich ein Mädchen, das nicht lieben kann, reizvoll finden …«
Die Finger des Mannes werden schwach. Er streckt die Arme aus, sein großer Körper sackt auf sie herab, und sein Kopf senkt sich, sodass eine wirre Locke seine Augen verdeckt. Der Braune steht auf. Geht vorsichtig um den Tisch herum. Nähert sich von hinten. Vor dem Mann auf dem Tisch taucht ein Blatt Papier auf. In der Hand spürt er einen Stift.
»Hier