Apokalyptische Variationen. Antanas Škėma

Apokalyptische Variationen - Antanas Škėma


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der leeren Kaffeetasse und streckten sie zur Kanne aus. Meine Hände zitterten merklich. Der Professor nahm mir behutsam, wie einem Kind, die Tasse ab, goss laborantisch genau Kaffee hinein und stellte sie vor mich hin.

      »Darüber brauchen wir nicht zu streiten. Sie für sich – gut möglich, aber für mich … Verzeihung. Wenn ich nach Hause komme, sind Sie nicht da. Sie sind aus der Umgebung hervorgetreten, Sie haben eine Zeit lang auf mich gewirkt, angenehm gewirkt …«

      Er schenkte uns wieder ein Lächeln.

      »… und dann sind Sie verschwunden. Sie sind nicht mehr da. Ich dagegen bin die ganze Zeit da, selbst im Schlaf. Und die Umgebung bleibt. Natürlich, sie ist beweglich, aber die Tatsache ist konstant, weil sie ständig da ist, diese Umgebung. Ich und sie. Diese beiden Tatsachen genügen mir. Und aus diesem Grund muss ich ein Egoist sein. Ich bin schließlich allein. Ich muss mich allein bewegen, untertauchen, an die Oberfläche zurückkehren, weiter schwimmen. Wenn ich stark bin, komme ich voran. Wie in einem dichten Wald. Äste versperren mir den Weg, knacks-knacks, und ich gehe weiter. Wenn man schwach ist, nun ja, dann mag man herumsitzen und jammern. Aber es gibt noch einen anderen Ausweg für die Schwachen. Einem Stärkeren folgen, natürlich nur, wenn es diesem recht ist. Na ja, man kann sich ja einschmeicheln. Sagen wir, einem Starken juckt der Rücken, dann kratzt ihn flink ein Schwacher – und geht ihm dann hinterher. Dem Starken ist der Schnürsenkel aufgegangen, ein Schwacher bindet ihn blitzartig zu – und geht ihm hinterher.«

      Und wieder ein Lächeln. Und dann ein forschender Blick zur Zuhörerschaft. Ob der Clou gelungen ist.

      »Man kann anderer Meinung sein, aber klar ist es. Und genau. Auf originelle Weise einfach.«

      Mein Kollege attestiert dem Professor Weisheit. Mit einem Schluck trank ich meinen Kaffee aus. Der Schnaps war zu stark. Und meine verfluchten Hände … Ich konnte mein Gleichgewicht nicht wiederherstellen. Der Professor war ruhig. Betont ruhig. Der Schnaps zementierte seine Gehirntätigkeit. Seine grauen Augen verfolgten ganz bewusst meine unsicheren Handgriffe. Ich aber wollte mich aus dem Dunstkreis des Professors lösen, ich wollte in meine anfängliche Stimmung zurück, als die Gewölbedecke so leicht, so gerundet schien, als die allzu roten Kletterpflanzen vor dem Fenster ein seltenes, nicht alltägliches Abenteuer versprachen …

      Der Hof vor dem Fenster hatte sich (so plötzlich?) in einen grauen Vorhang eingehüllt. Und die Farben und Konturen verschwanden. Alles war jetzt grau und vage. Graue, nicht alltägliche Abenteuer gibt es nicht. Graue, im Herzen verschlossene Kostbarkeiten auch nicht. Ach, diese ungestümen Studenten! Es waren vermutlich sonnige Tagen, wenn der Hof in klaren, frohen Farben erstrahlte, an denen sie unter lauten Rufen ihre dicken Mützen in die Luft geworfen haben.

      Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … Menschenliebe …

      Und, und, und.

      Der Chirurg, der in sich zusammengesunken neben mir saß, summte im Bass eine trübsinnige, endlose, vermutlich von ihm selbst erfundene Melodie. Warum im Bass? Es hatte etwas Groteskes, dieses kleine zusammengesunkene Wesen. Ich hatte den Wunsch, durch seine übergroße Brille hindurch die Blitze in seiner Seele zu beobachten …

      Nein, jetzt wurde es bereits dunkel im Zimmer. Die Augen des Chirurgen gab es nicht mehr. Und sein erschöpfter, verkahlender kleiner Kopf erzeugte diese trübsinnige, endlose Melodie im Bass. Aa, aa, ooo, aa, aa, ooo … Irgendetwas ziepte an meinem Herzen, irgendetwas fehlte in meinen Hirnzellen. Mein Zorn brach aus dem Zellgewebe aus und löste sich mit Lichtgeschwindigkeit im Blut auf. Hunderte Wörter wollte ich diesem selbstgewissen Mann entgegenschleudern, der uns professorenhaft in diesen unterwürfigen Gehorsam eingesperrt hatte. Hunderte Wörter gegen eine Weltsicht, die Kriege, Hunger und Hass erzeugte. Schließlich waren solche vorübergehenden einzelnen Elemente der Umgebung unwichtig für seine Tatsachen für sich. Man konnte sie gegebenenfalls vernichten, einzeln oder en gros. Ganz gleich, ob mit langen dicken Rohren oder mit kurzen schlanken. Ganz gleich, ob durch Versetzung ins katholische, protestantische oder muslimische Paradies oder durch Fortsetzung der langen Agonie von Qualen und Schrecken. Ganz gleich … Nein. Nur nicht in diesem einschläfernden Grau. Aa, aa, ooo, aaa, ooo … Jetzt reicht es aber! Ich sprang plötzlich auf, der von mir verlassene Stuhl knarrte, und ich war mit einem Satz am Lichtschalter. Ich knipste ihn an. Weiches elektrisches Licht verbreitete sich von einer matten Kugel an der Decke. Schreibstubenlicht. Ich stand mit geballten Fäusten vor dem Professor, und mein Gesicht sah nicht besonders gemütlich aus, glaube ich.

      »Ich bin sehr dankbar, dass Sie Licht gemacht haben. In der Flasche ist noch etwas übrig, in der Dunkelheit hätte ich beim Nachschenken die Gläser nicht mehr erkennen können.«

      Und der Professor kümmerte sich laborantisch um mein Glas. Er hatte mich ganz einfach entwaffnet. Mit zwei banalen Sätzen, mehr nicht. Ich musste mich nur noch vorsichtig, um niemanden anzustoßen, wieder auf meinen Platz setzen und meine Rolle spielen … Dieses unvermeidliche Rollenspiel. Eines der wenigen Dinge, das uns die berühmte Evolution eingebracht hat. Wie oft ich auf der Flucht vor der Front und in Schutzräumen dieses Rollenspiel erlebt habe. Ich habe gesehen, wie unwillig, mit welch einer nervösen Angst, die sich nicht verbergen ließ, die deutschen Soldaten sich auf die Schlacht vorbereitet und vor uns eine Rolle gespielt haben. Schlecht und laienhaft, aber trotzdem haben sie die Rollen von mutigen Kriegern gespielt. Und einmal, als an unserem Schutzraum eine Bombe einschlug und das ganze Gebäude aus Stahlbeton wankte, als würde es von riesigen Händen gezogen, habe ich in den Augen eines vor mir stehenden Mannes die Todesangst gesehen, aber sein Mund hat gelächelt. Er hat die Rolle eines Mannes gespielt. Wenn es dieses Geschenk der berühmten Evolution nicht gäbe, dann hätte der Soldat vielleicht nicht auf diese wahnsinnige Tatsache für sich gehört und wäre nicht in den garantierten Tod gegangen, und der Besitzer dieses bedauernswerten Lächelns hätte vielleicht nicht in einer Tag und Nacht bombardierten Stadt herumgesessen. Es ist nicht männliche Selbstbeherrschung, dieses Rollenspiel, es ist unterwürfiger Gehorsam.

      Ich versuchte noch einmal, mich aufzurichten und einen Streit anzufangen. Zugegeben, mit gespielter Höflichkeit, aber ich habe es versucht.

      »Sie haben, Professor, einige von der Menschheit erschaffene Dinge vergessen. Den Humanismus, die Nächstenliebe, das Strahlen dieses kleinen, ewig schlagenden Gefäßes. Sie haben, Professor, das menschliche Herz vergessen.«

      Der Professor brach in Gelächter aus. Seine großartigen glänzenden Zähne drangen durch seine fleischigen Lippen. Er lachte lautlos, wie in einem Stummfilm. Nicht verletzend, nein. Sondern als hätte ich einen komischen und sehr warmherzigen Witz erzählt. Dann ging er behutsam zwischen den anderen hindurch und setzte sich neben mich auf das Sofa. Seine große Hand, eine Hand, die man männlich nennt, drehte an einem losen Knopf meines Jackenärmels.

      »Das ist das Mittel, mein Teurer, das Mittel. Der Starke hat sich ein Mittel ausgedacht, um den Schwachen abzulenken. Manchmal kann ja sogar eine Mücke schmerzhaft stechen. Und der Schwache spielt gern mit Abstraktionen. Was bleibt ihm denn auch anderes, als zu spielen. Und dann stellt er sich vor, dass er irgendeinen Wert hat, irgendeine Mission zu erfüllen hat. Er kratzt dem Starken den Rücken und denkt: ›Das tue ich aus Nächstenliebe. Zugleich stähle ich meinen Willen, ich erziehe mein inneres Ich.‹ Man wirft einem Kind einen Span hin, und die kindliche Fantasie erschafft sich daraus ein Schiff. Verzeihung.« Der Knopf meines Ärmels hatte sich gelöst. Der Professor steckte ihn mir in die Jackentasche und kehrte wieder zu dem Götzen – der Flasche – zurück:

      »Trinken wir.«

      Der Chirurg flüsterte mir schnell, sich verschluckend, ins Ohr:

      »Ich habe vorgestern einen Menschen umgebracht. Es war eine um zwanzig Minuten verspätete Operation. Es war meine Schuld – ich hatte mich verspätet. Und ich hatte mich verspätet, weil meine Vermieterin das Mittagessen zu spät zubereitet hatte. Und die Vermieterin hatte sich mit dem Essen verspätet, weil die Verkäuferin das Geschäft später geöffnet hatte. Und auch die Verkäuferin war aus irgendeinem Grund zu spät gekommen. Was glaubst du, dieser Mensch, den ich umgebracht habe, war er einer von den Schwachen oder von den Starken?«

      Endlich zeigte der Alkohol Wirkung. Alle redeten, und sie redeten über alles. Zerfetzte, paradoxe Sätze flogen umher. Die gerundete Gewölbedecke


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