Wense. Christian Schulteisz

Wense - Christian Schulteisz


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      Christian Schulteisz

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      Roman

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      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       Kapitel 12

       Kapitel 13

       Dank

       Gefördert durch

      1

      Karten sind Partituren der Landschaft, hat er mal geschrieben, zigmal hat er das geschrieben, in Briefen an Freunde und Feinde und Unbekannte. Auch auf Zeitungsschnipsel, die dann per Windpost auf Reise gingen. Einer davon flog um die Welt und kam ihm in Kassel, auf der Frankfurter Straße, wieder entgegen. Karten sind Partituren der Landschaft, der Satz macht ihn nicht nur stolz, er verfolgt und nötigt ihn auch: Mach Ernst, verwandle die Landschaft, die Kartographie in Musik!

      Aber vom Komponieren muss er die Finger lassen, hat schon mehr als genug zu tun. Die Gedichte von Imru’ al-Qais wollen fertig übertragen werden, genauso die Hymnen auf Ptah und die Weisheiten der Ewe und Sotho. Und wenn er bedenkt, wie viel noch in seinen Mappen schlummert, wie viel hier in nächster Nähe und Ferne entdeckt werden will, da läuft ihm das Wasser im Munde, im Hirne zusammen.

      Heddy hat recht, er ist ein Vielfraß. Allerdings keiner dieser Wiederkäuer! Nichts ist schlimmer als so eine träge, dröge Kuh, die selbstzufrieden ihren Wissenseuter schwenkt und allenthalben einen korrekten Fladen fallen lässt.

      Mit einem Knall flattern die Tauben auf.

      Eine bleibt zuckend am Boden zurück, eine andere trudelt nach einem weiteren Knall gegen die Hauswand. Ein Rollstuhlfahrer kommt um die Ecke mit umgehängtem Gewehr, es pendelt am kurzen Riemen vor seiner Brust. Er fährt über die eine Taube drüber und auf die andere zu, die sich vor der Wand abquält. Erst sieht es so aus, als wollte er ihr den Gnadenschuss geben, doch dann stößt er mit dem Kolben des Gewehrs auf sie ein. Das Geräusch ist verblüffend leise, gedämpft. Die erste Taube liegt da, eklig und doch auch lustig verdreht, und streift mit einem Flügel übers Pflaster, kehrt ein wenig Staub.

      Der Rollstuhlfahrer muss sich sehr strecken, um seine Beute aufzusammeln. Er schaut überrascht, als er Wense in der Seitengasse bemerkt.

      »Ich will sie nicht essen, ich schieß sie nur ab.«

      »Lassen Sie ein paar übrig.«

      »Wozu? Die bringen Krankheiten!«

      »Sie fliegen aus, wenn eine Katastrophe bevorsteht. Vor dem Erdrutsch in Lyon war es so und auch vor dem großen Beben von San Francisco. Die Luftratten verlassen das Schiff immer ein paar Tage bevor es sinkt.«

      »Weise, weise. Aber ich sag Ihnen was.« Der Rollstuhlfahrer hält neben ihm und hebt den Zeigefinger. »Ich hab schon so viele von denen aufm Gewissen, die würden bleiben und sich opfern, nur damit ich draufgeh.«

      Die kurze, heftige Lache lässt die Waffe auf seiner Brust hüpfen.

      »Sind Sie Vertreter?«, fragt er mit Blick auf Wenses Aktentasche.

      »Nur auf Besuch.«

      »Dann alles Gute. Heil Hitler!«

      Mit dem überstehenden Gewehrlauf wirkt er wie ein davonrollender Panzer.

      Die ganzen Krüppel ignorierend eilt Wense durch die Lazarettstadt, durch die von Palmen gesäumten Straßen und Parks und schließlich am letzten Haus vorbei, wo ihm noch ein Hund hinterherbellt ins offene Tal. Das Gekläffe fliegt mit ihm auf den Schellberg zu, der dunkel aufragt, nebelverschleiert.

      Mit Anlauf schlüpft er zwischen die Fichten, das ist sein Kosmos, er schwebt empor! Und was ein Empfang, als er oben rauskommt, zwischen den Ruinen der Schellburg spuken kleine Gestalten.

      Eine Mädchenschulklasse. Sie kauern im ehemaligen Verlies, die Lehrerin als Folterknecht erklärt: »Schell bedeutet Scala, also Stufen.«

      »Unsinn«, ruft Wense. »Schreit mal ganz laut Hallo!«

      Die Mädchen tun es, und aus der Schlucht schallt ein sechsfaches Echo.

      »Na bitte, bewiesen!«

      Er weicht der Lehrerin aus und begutachtet die Mauerreste.

      Möglich, dass es schon eine Ruine vor der Ruine gab, dass der Sohn des Sachsenkönigs schon dreihundert Jahre vor dem Mainzer Erzbischof hier eine Burg hat errichten lassen.

      Nur fehlt der Beweis.

      Er reibt feuchten Sand zwischen seinen Fingern: Sachsenkrümel? Wenn mans doch schmecken könnte! Mit archäologischer Zunge am Gemäuer entlang wie an einem alten Gebiss, mit der Spitze suchend in den Lücken, ob zwischen den christlichen Zähnen nicht doch irgendwo ein süßer heidnischer Krümel steckt.

      Er denkt an sein Butterbrot, aber dafür ist es noch viel zu früh.

      Schnaubend beißt er in den Griff der Aktentasche, zieht seine Kappe tief ins Gesicht und taucht unter im grüngelben Laub, hangelt sich von Baum zu Baum, durch rauschende Buchen steil hinab, in die Senke, den Kessel, den Trichter, das Loch und bis über den Rand hinaus ins Freie.

      Da stehen Leute.

      Ein Arbeitskommando aus rund zehn jungen Kerlen, sie grinsen ihn an. Er nimmt die Tasche aus dem Mund und klopft sich den Mantel ab. Ihre beiden Wachmänner beäugen ihn, wollen die ihn etwa kontrollieren?

      Er holt sein Notizheft heraus, als wäre er der Kontrolleur. »Ist dort Aerzen? – Ob dort Aerzen sei, habe ich gefragt!«

      »Ja«, antworten sie brav.

      Er dankt und folgt dem Feldweg ins Dorf.

      Hier fließt der Griesebach, da fließt die Humme und da verläuft die Reichsstraße von der Maas bis an die Memel. Hier der Metzger Horte, da der Perückenmeister Krause, schön und gut, nur interessiert ihn das? Nein. Er denkt an die Maulwurfsjäger, die einst durch diesen Flecken zogen. Und dann kommt, was immer kommt, wenn er reist: der Moment, in dem


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