Wense. Christian Schulteisz

Wense - Christian Schulteisz


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steht schon tief überm Reinhardswald. Mit jedem Höhenmeter wird es dunkler. Mit jedem Höhenmeter sinkt die Wahrscheinlichkeit.

      Der Horizont ist nicht immer eine Linie oder ein Streifen, auch im dichtesten Wald gibt es einen Horizont, er ist das Fernste, was sich auftut, das fernste Licht, niemals nur ein Stamm, an dem der Blick endet, sondern die erahnbare Distanz dahinter, die Tiefe der Schneise, in die man eben noch geschaut hat. Für die Dauer eines Schritts war da ein Korridor sichtbar, ein Luftweg überm Dickicht, ein Geheimgang der Vögel, dem man scheinbar auch am Boden folgen könnte.

      Wense fällt es schwer, zu widerstehen.

      Ihm ist, als würde er an einer offenen Tür vorbeigehen, hinter der ein vorbestimmter Pfad auf ihn wartet. In Wahrheit führen all diese Türen, wie er weiß, nur ins Casino, ins Wettbüro des Unterholzes, wo er schon oft genug seine Orientierung verspielt hat.

      Heute stehen wirklich unverschämt viele Türen offen, unverschämt viele Äste wanken in den Eingängen und winken herein.

      Er guckt bloß, hält bloß an, um zu gucken. Er will gar nicht reingehen.

      Wird auch nicht reingehen.

      Höchstens bis zu diesem Blättervorhang.

      Der Sage nach ist der Reinhardswald ja durch ein Würfelspiel entstanden, nämlich aus der Asche der Dörfer und Äcker, die Graf Reinhard einst verzockte und dann niederbrennen und mit Baumsamen bestreuen ließ. Deshalb die guten Fundquoten hier. Des Grafen Pech, des Wenses Glück!

      Er lüftet den Vorhang.

      Nichts. Zumindest nichts auf Anhieb, er kniet nieder und beginnt im Laub zu wühlen, schmeißt Zweige und Erde hinter sich, legt frei, was darunter ist.

      Eine Niete.

      Enttäuscht geht er zurück.

      Mit einem klitzekleinen Umweg zu diesem Hügelchen. Das wirkt irgendwie verdächtig. Er schleicht um es herum. Definitiv keine Ackerwölbung aus dem Mittelalter. Er stellt sich drauf und scharrt und stampft. Kein Stein. Könnte es ein vorchristliches Hügelgrab sein?

      Das Grab raschelt ängstlich unter den Blättern. Es weiß genau, was er im Schilde, in der Tasche führt. Er hat es entdeckt, aber mit welchem Recht darf ers verraten?

      Zurzeit werden so viele Karten wie nie hergestellt, so viele Gebiete wie nie werden erschlossen und verzeichnet, nur um dem Feind zu schaden. Es geht um Nutzflächen und Befahrbarkeit, um Hindernisse und Deckung, ums Einkesseln und Abriegeln. Orientierung ist mal wieder zur soldatischen Pflicht geworden, die Windrose zum Verdienstorden für kriegerische Landvermesser und maßstabsgetreue Generäle. Ihre Richtungszeiger sind Speerspitzen. Ach, wie schön sie funkeln an der Brust!

      Er packt die Karte aus.

      Hauchdünn, durchscheinend, fast unsichtbar verzeichnet er das Grab.

      Aber dann schlägt seine Scheu um, und er zeichnet dick und kräftig nach. Auch diesen Anblick kann er nicht lange ertragen. Mit spitzen Fingern greift er zum Radiergummi und schleift das Monument, trägt es vorsichtig wieder ab, pustet die Reste vom Papier. Die zurückbleibende Druckstelle betrachtet er aus verschiedenen Winkeln, befühlt sie aus verschiedenen Richtungen und von beiden Seiten. Was, wenn man allem, das aus der Welt radiert wurde, so nachspüren könnte, wenn alles so einen doppelten Eindruck hinterließe? Das Verschwundene bliebe wahrnehmbar, selbst wenn die Vertiefungen aufgeschüttet würden, von unten bliebe es wahrnehmbar als negative Erhebung.

      Es dämmert, es verfinstert sich, er treibt aufwärts in die Nacht, sein Ziel der höchste Punkt, höher als jeder Gipfel, höher noch als der Mond!

      Dessen Kuppen hat er vor ein paar Wochen durchs Fernrohr gesehen, die aus schwarzen Schatten herausragenden riesigen Mondkuppen, an denen das wachsende Licht allmählich niederglitt.

      Diese Nacht ist sternenlos, der Himmel hält sich bedeckt, doch die Galaxien dahinter sind nur umso deutlicher zu spüren, die Drehungen und Wirbel ihrer gewaltigen Massen, der Tanz der Materie im Rhythmus der Physik, die Welt wurde geworfen aus dem Hüftschwung des Alls!

      Wense fällt hin.

      Stöhnend umklammert er sein Schienbein.

      Ihm ist schon klar, worüber er gestolpert ist, über den Ring der Sieburg, der Burg von Segestes, der vermutlichen, der verfluchten!

      Er tastet nach seiner Tasche. Es ist nichts rausgerutscht. Er tastet nach seiner Kappe. Sie sitzt noch auf dem Kopf. Er krabbelt ein Stück und legt sich in die Mitte des Rings, krümmt sich zusammen, kugelt sich zu einem Satelliten.

      Langsam beginnt er, im Orbit zu kreisen.

      Im Orbit der Römer und Cherusker, Hermunduren, Angrivarier, immer schneller, bis es ihn aus der Bahn wirft. Haltlos driftet er durch den Völkerkosmos, gerät ins Sonnensystem der Maya, wo sich alles um den Gott Tonatiuh dreht, der ihn aber gleich wieder freigibt und an die Nabatäer weiterreicht, mit denen er Duschara umtanzt. Nach zwei Runden zieht es ihn zu Garamant, dem Wüstenplaneten, der grün ist dank unterirdischer Bewässerung. Dann zu Nazca, dem Planet der Langschädeligen, auf dessen Oberfläche übergroße Figuren eingeritzt sind, die berühmten Geoglyphen! Er erkennt ein Trapez, einen Affen, ein Irgendwas, und schließlich sieht ers ganz dick kommen: Der Rote Riese Han will ihn als nächstes an sich reißen, halb Asien ist schon in seinem Reigen! Doch der Weiße Zwerg Xiongnu schiebt sich dazwischen und rammt ihn so heftig, dass es ihn wieder zur Erde schleudert.

      In langem Bogen stürzt er über dem Reinhardswald ab und schlägt unten, an der Weser, auf einer Seilfähre ein.

      Der Fährmann kommt aus dem Häuschen, blendet ihn mit einer Taschenlampe.

      »Bitte schnell, ich will zur Bahn.«

      »Welche Bahn?«, fragt der Fährmann mit weiblicher Stimme. Eine Fährfrau.

      »Ist da drüben nicht Bodenfelde?«

      »Doch, natürlich.«

      »Na also. Ich will nach Göttingen.«

      Die Fährfrau schweigt und blendet ihn weiter.

      »Wurde bombardiert?«, fragt er ängstlich.

      »Nicht dass ich wüsste.«

      Plötzlich begreift er und kramt im Portemonnaie, streckt ihr sein restliches Geld hin.

      Sie nimmt es wortlos und bequemt sich an die Seilkurbel.

      Die Fähre legt ab, aber ewig langsam, dümpelt dahin, es wäre ja schneller zu schwimmen!

      »Darf man beim Kurbeln helfen?«

      »Nein.«

      Er atmet tief durch und würgt den Griff seiner Tasche.

      Am gegenüberliegenden Ufer funzeln ein paar Luftschutzglühbirnen, die erahnen lassen, wie weit es noch ist. Sie erinnern ihn an das Glühen von Kassel, das er vor drei Tagen aus der Ferne beobachtet hat, die glühenden Schwaden am Horizont, schön wie Polarlichter. Aurora bellica. Er muss seine alte Stadt besuchen, muss sehen, was von ihr übrig ist.

      Auf einmal rumpelt es und er verliert das Gleichgewicht, wirft fast die Tasche über Bord.

      »Sie können«, sagt die Fährfrau.

      Er reckt den Hals, versucht den Boden zu erkennen.

      »Ich dachte, Sie hättens eilig.« Sie leuchtet ihm mit der Taschenlampe.

      »Danke«, sagt er und springt an Land.

      In der Bahn beginnt er einen Brief an Heddy, bemüht sich um versöhnliche Worte. Dass er einfach zu krank gewesen sei während ihres Besuchs. Dass sie sich nicht gestritten hätten, wären sie wandern gewesen. Unter der schummrigen Beleuchtung ist seine Schrift kaum lesbar.

      Er kneift die Augen zu, eine Träne kullert, er spürt sie auf der Wange, ihre kühle Spur, sitzt da und spürt, wie sie langsam verdunstet. In seinem Kopf aber ist sie noch, noch zieht sich die Spur durch sein Hirn, ein kleiner, kühler Strich.

      Langsam verdunstet auch der.

      Shan


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