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Wense. Christian Schulteisz
noch von den Kirchturmeulen, in deren Gewöllen er Reste von weißen Maulwürfen gefunden habe, und kommt darüber zum Albinismus in der Aerzener Vogelwelt, schwärmt von isabellfarbenen Haubenlerchen mit roten Beinen.
»Über Jahre hatten es alle Jäger auf einen weißen Bussard abgesehen. Er konnte sich lange entziehen, endete aber im Gasthof als Schauergestell, ausgestopft von irgendeiner unkundigen Hand, die selbst zum Füllen eines Bratens zu grob gewesen wäre.«
Wense schenkt sich nach, froh, dass niemand darauf achtet, wie gierig er trinkt.
»Das Außergewöhnliche wird stets mit Vorliebe bejagt, ich als Forscher und Sammler nehme mich von dieser Untugend nicht aus, treffe meine Wahl doch aber zumindest nach dem wissenschaftlichen Nutzen. Andere schießen aus frevelhafter Distanz nach einem weißen Rebhuhn, nur um dann mit den zwei verbleibenden Federn zu prahlen.«
Er spricht von Schönheit und Achtung und spannt den Bogen vom weißen Kaninchen, dem angeblichen Liebling der Dorfkinder, hin zum heiligen weißen Elefanten von Siam und dann zu einer Aerzenerin mit prachtvollen Kornblumenaugen.
»Das war unsere Magd«, sagt Anne von Münchhausen. »Alle nannten sie Schneewittchen.«
»Genaugenommen kein Vollalbino«, sagt er. »Sie soll uns bitte meinen Feuersalamander bringen.«
»Sie ist doch gar nicht mehr hier, Staats. Und der Feuersalamander im Übrigen auch nicht.«
»Er hatte fünf Beine«, sagt er.
Und plötzlich ist das Gespräch vorbei, die Kanne leer.
Zum Abschied will er Wense noch sein Buch Die Hüttenjagd schenken.
Sofortige Angststarre der jungen Frau, als sie aufgefordert wird, es zu holen.
»Nicht nötig, ich besitze bereits ein Exemplar.«
Sie begreift, was er gesagt hat, und schaut ihn dankbar an.
Dabei ist es einfach nur die Wahrheit.
Gegen den Wind mit flatterndem Mantel, raus aus Multhöpen und ins Gebirge, durch klamme Gänge und Spalten, vorbei an Kohlenmeilern, an Schmelzhütten, Waldweiden – alles nicht mehr vorhanden, aber gerade deshalb gegenwärtig.
Am gegenwärtigsten ist das Kanonenrohr auf der Kuppe.
Ein Flakgeschütz.
Er dreht sofort ab und flüchtet.
Nach einigen Schlenkern landet er in einem verwilderten Steinbruch, direkt vorm Wandgemälde der Germanischen Trias. Seine Finger streifen über die aufgekratzten Farben, die freigelegten Schichten der Jahrmillionen. Was interessiert ihn der Schmuck der Weserrenaissance? Hier sieht er die Juwelen des Sandsteins glimmern, Turmaline, Zirkone, silbrige Muskoviten!
Unten jedoch, am tiefsten Punkt der Grube, hat sich ein Tümpel gebildet, kraus umwuchert, mückenumschwirrt, der Schambereich des Steinbruchs.
Er wünschte, er hätte seinen Fotoapparat dabei.
Er verzeichnet den Ort in seiner Karte und steigt weiter auf, bald auch wieder ab, rutscht im Laub von den Hängen, auf den Hintern und bleibt kurz sitzen.
Nur um zu sitzen.
Oder um etwas zu notieren.
Oder um seinem forteilenden Geist hinterherzusehen.
So viele stolze und wehrhafte mittelalterliche Burgen wurden in der frühen Neuzeit von reichen Bürgern befallen und zu harmlosen Lustschlösschen mit Lustgärtchen und idyllischen Wassergräblein gemacht. Zum Glück konnte die Natur ein paar übersehene oder unbeliebte Exemplare retten, indem sie klammheimlich ihre Hand um sie schloss. Allerdings versteht die sogenannte Natur rein gar nichts von Instandhaltung. Die Tiere ziehen ein und verrichten ihre Notdurft, wo es ihnen beliebt, obwohl im späten Mittelalter doch endlich Aborte eingebaut wurden. Moose und Flechten keimen und inkrustieren sich, Pilzsporen landen und sprießen in den kleinsten Ritzen und Fugen. Das Nichtmenschliche breitet sich bis in den letzten Winkel aus, steckt überall seine Schnauze, seine Fühler, seine Wurzeln hinein, als suchte es irgendwas Bestimmtes. Es findet aber nichts. In den Geheimgängen legt sich der Staub nieder wie totes Plankton am Meeresgrund.
Vor seinen Füßen rennt ein Igel aus dem besprenkelten Busch. Eigentlich kein Busch, sondern ein Baum, der immer wieder geschlagen und zugerichtet wurde, bis er diese geduckte, gedrungene Form angenommen hat, eine durchaus harmonische, schöne Form.
Na ja.
Er knöpft seine Hose zu und schwingt sich auf den Fuchsberg, zur alten Grenze, und dann an ihr entlang nach Südosten, Grenzstein für Grenzstein, und wie ein Erdrutsch auf die Passstraße.
Ein Auto weicht ihm aus, poltert in die Nadeln.
Er geht weiter.
An der Stundensäule vorbei und den Gastnacken hoch und schließlich auf den Papenberg, den angeblichen. Die neuen Karten sind falsch, der richtige Papenberg steht dort drüben!
Voller Wohlwollen schaut er zu ihm, er gibt sich wirklich Mühe.
Nix zu machen.
Zu offen, zu harmonisch, selbst die fernen Regenschleier ohne Geheimnis. Er will nicht mal mehr bis an den Rand seines Messtischblatts wandern.
Also lässt ers bleiben und kehrt zurück in die Stadt, zum Bahnhof, schmeißt das Geld hin, schnappt sich den Fahrschein, springt in den stehenden Zug.
Aber was ist das denn?
Ein vollgestopfter, stinkender Schlafwaggon, Männer stöhnend in den Betten, je drei übereinander, sogar Soldaten auf dem Boden, einer mit blutigem Kopfverband, ein anderer völlig mumifiziert, jemand zieht ihm am Mantel: »Herr Doktor …«
Er ist in einem Lazarettzug gelandet.
»Doktor, bitte …«
»Platz da!«, schreit ein Sanitäter.
Wense stolpert hinaus.
Und wo fährt nun sein Zug? Fährt er überhaupt noch?
»Wenn ausgeladen wurde«, sagt ihm eine Alte.
Er setzt sich zu ihr auf die Bank und stemmt wie sie die Ellenbogen auf die Knie.
Die Verletzten werden auf Bahren vorbeigetragen, in Rollstühlen geschoben, Huckepack genommen, manche können allein gehen oder humpeln.
»Die Toten kommen zuletzt«, sagt sie.
Er nickt und zählt die Waggons, fünfzehn insgesamt, zwei Fenster zersplittert, wie konnte er das übersehen?
»Sind Sie schon fertig kuriert?«
Er weiß erst nicht, was sie meint. »Nein, nur auf Besuch.«
»Auf Besuch?«
»Ja.«
Sie mustert ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Vielleicht warn Sie in dem Zug doch ganz richtig.«
In Karlshafen raus, mit vorgestreckter Aktentasche, zwei Damen hüpfen beiseite, als wärs ein Messer.
Es riecht modrig, viele Kellerfenster stehen offen, untenrum ist das Städtchen noch feucht von der Überschwemmung im Mai. Die Bombardierung der Talsperre hat allerdings auch was Gutes gebracht: Das historische Hafenbecken ist endlich wieder voll.
Wense lupft seine Kappe im Vorübergehen.
Vor elf Jahren ist er hier nur zufällig vorbeigekommen, zufällig zu weit gefahren, aus Langeweile herumgeschlendert, dann aber vom Schicksal im Nacken gepackt und draufgestoßen worden: Dieser trockengelegte, vergraste Hafen, diese Bauwerke in dieser Landschaft – merkst du was?
Du weißt nichts.
Keine Ahnung von Vorgeschichte, Geologie, Heimatkunde. Messtischblatt? Ein Fremdwort. Auch was eine Wüstung ist, musste er erst mal nachschlagen.
Jetzt schickt er sein Wissen als Spürhund voraus und sein Wissen zerrt ihn hinter sich her. Auf die