Wense. Christian Schulteisz
hier ist die Domänenburg, die wiedererbaute, für die Stacius von Münchhausen der Schädel eingeschlagen wurde. Jetzt dient sie als Gefangenenlager. Die meisten arbeiten wohl in der Maschinenfabrik. Ein Hannoveraner Bänker, ein Jude, hat sie 1864 gegründet. Damals war Aerzen noch Synagogengemeinde, nun gibt es nicht mal mehr den jüdischen Friedhof, und so wird alles Teil des Sagenschatzes: unter den Füßen, im Straßenpflaster, die zerhauenen Grabsteine und dort drüben, hinterm Ahornberg, die alten Grenzsteine, die Fürst und König nach langem Streit mithilfe eines Esels setzen ließen. Immer dort, wo er zum Grasen stehen blieb, kam ein Stein zwischen Lippe und Hannover. Grenzziehung als Eselei!
Er macht sich eine Notiz und überquert die Humme, bricht ein ins Gehölz, drängt hoch bis auf die verwunschene Lichtung, wo die Geister mit goldenen Kugeln kegeln. Sie glauben, er wolle sie bestehlen, und werfen ihn über ihre Bahn, talwärts nach Schwöbber, vors Wasserschloss der Münchhausens.
Rollwerk-, Kugeldekor, er sieht doppelt und dreifach, zwei dreiachsige Erker, drei dreigeschossige Flügel, zwei achtseitige, viergeschossige Treppentürme mit geschweiften Helmen – das Wasserschloss schwappt über!
Dreihundert Jahre lang war es das Meisterstück der Weserrenaissance, vollendet vom Stiefvater einer seiner Urahninnen, und wer hats versaut? Ein eklektizistischer Schweinezüchter in den 20ern! Hat das Relief des Jüngsten Gerichts vom Portal gerissen und dieses abgeschmackte Prinzengärtchen in den Hof gesetzt, wie hingespuckt vor die Füße von Otto von Münchhausen, der nach Westen den ersten Englischen Garten des europäischen Festlands geschaffen hat.
Gurkenmagnolien, Ajanfichten, Nikkotannen, Riesenthujen!
Sie waren noch klein, als Zar Peter zur Besichtigung kam.
Wense durchstreift und verlässt den Garten, sucht weiter nördlich nach dem Sophienhof, der ihm aus einem zoologischen Aufsatz bekannt ist. Darin heißt es, dass sich beidseits der Humme, bis hinter Groß-Berkel, das Revier der weißen Maulwürfe erstrecke.
Er schaut zu Boden, in jeden Erdhügel.
Vor hundert Jahren wäre er vielleicht noch Zoologe geworden, und vor dreißig Mineraloge, hätte ihn die Musik nicht so begeistert. Und wären nicht die uralten Sprachen und Mythen, hätte er längst die neue Disziplin der Geoästhetik begründet! Doch wie soll er je was fertigkriegen, wenn seine Lieblingsbibliotheken einfach weggebombt, die wichtigsten Bestände einfach weggeschlossen werden? »Wilderer!«
Keine zehn Schritte entfernt stehen zwei runzlige Alte in schwarzen Mänteln. »Scheren Sie sich fort«, ruft die Dame. »Dies ist privater Grund!« Sie erinnert ihn an seine immer schwarz gekleideten, immerstrengen Tanten, bei denen er aufwuchs, und er will sofort gehorchen.
»Oh, bitte verzeihen Sie, Hans Jürgen von der Wense mein Name.« Schnell spricht er von genealogischen Forschungen und von seinen Verbindungen in die Familie derer von Münchhausen. »Ich fragte mich, was aus dem Jungfernsitz geworden sei, und muss vom Weg abgekommen sein.«
Ihre Runzeln lockern sich. »Ach, der Park ist in einem so beschämenden Zustand. Sie befinden sich auf dem richtigen Weg, Herr von der Wense, aber leider verkommt alles, seit wir den Hof verpachten mussten. Wir leben hier nur noch geduldet, als Nutznießer, es ist eine Schande.«
Ihr Mann, der dem Jenseits bisher näher schien als allem anderen, legt zittrig seine Hand auf ihre Schulter. Sie berührt seine Finger.
»Dies ist mein Bruder, Staats von Wacquant-Geozelles. Ich bin Anne von Münchhausen.«
Wense verneigt sich.
»Sie kommen gerade noch rechtzeitig. Dürften die beiden letzten Jungfern Sie zum Tee laden?«
Die junge Frau, die ihnen öffnet, guckt erschrocken, ist überfordert, weiß nicht, wem sie zuerst aus dem Mantel helfen soll.
»Unsere Magd wurde uns genommen, und sie hier kann noch kaum Deutsch.«
Anne von Münchhausen entschuldigt sich und bittet Wense, ihrem Bruder zu folgen, der bereits durchs Foyer schlurft, ohne auf irgendwen zu warten. Er trägt einen mauvefarbenen Gehrock mit weiten Schößen. Je näher Wense kommt, desto verschlissener wirken sie.
Im Salon Kristallleuchter, Brokattapeten, fein intarsiertes Mobiliar, winzig dazwischen das mauvefarbige Männlein auf dem weiten Weg zur Sitzgarnitur.
Muss man ihm hochhelfen?
Er schafft es allein.
Und erschlafft auf dem achtbeinigen Diwan zu einer leblosen Puppe.
Über ihm an der Wand ein Geweih mit merkwürdig ineinander verschlungenen Zapfen.
Wense wartet nicht länger auf eine Aufforderung und nimmt im Lehnstuhl Platz.
»Weiße Maulwürfe. Ich kann an nichts anderes denken, seit ich hier bin. Ihr Aufsatz ist mir noch so präsent, ein vorzüglicher Text, persönlich und sachlich zugleich.«
Staats von Wacquant-Geozelles hat sich aufgerichtet. »Sind Sie Zoologe?«
»Nur ein begeisterungsfähiger Mensch. Bereits durch den etymologischen Exkurs zu Anfang hatten Sie mich gewonnen: ein Maulwurfsforscher in Multhöpen!«
Und schon ist das Eis gebrochen und sie lachen und sprechen von Multhucken, von Mul und Mol, Müll und Möll, Mülm und Mulm.
»Wussten Sie, dass der Feuersalamander beim Volke auch als Mulle bekannt ist?«
»Seit Ihrem Aufsatz weiß ich es!«
»Wo haben Sie ihn gelesen?«
»In Kassel auf der Bibliothek. Sie schrieben ihn hier, nicht wahr?«
»Es war einer meiner ersten.«
»Haben Sie die Maulwurfsjagd selbst miterlebt?«
»Als Kind freilich, aber in kleinem Stil, der Pfotenrausch war längst vorbei. Davon weiß ich nur aus Berichten.«
»Entlohnt wurde also pro Pfote.«
»Selbstverständlich. Sie kamen mit tausend Ruten und Schlingen und stellten ihre Fallen an jedem noch so kleinen Hügelchen auf. Bald baumelten die Tiere überall. Allein auf den Ländereien der Domäne waren es laut meinem Vater Hunderte, und darunter immer auch zwei bis acht Albinos. So verdanken wir diesen Massenhängungen zumindest einige valide Zahlen. Wie war noch Ihr Name?«
»Wense.«
Anne von Münchhausen setzt sich hinzu, sichtlich entzückt von der Redseligkeit ihres Bruders.
»Sagen Sie, Herr Mense, haben Sie denn schon jemals einen reinweißen Maulwurf vor Augen gehabt?«
»Mein Dackel brachte mal einen.«
»Ja«, sagt er lächelnd. »Mein Mops fing jährlich mindestens zwanzig.«
»Weiße?«
»Nein! Doch deren Vorkommen ist in dieser Gegend schon äußerst erstaunlich. Für die Bewohner sind sie gar nichts Ungewöhnliches mehr. Wenn einmal ein solches Tier gefunden wird, beim Mähen oder Heumachen oder eben durch einen passionierten Fixköter, macht niemand großes Aufsehen darum. Andernorts werden sie mitgenommen und als Wunder bestaunt bis zur totalen Verwesung oder Mumifizierung. Hier sagt man nur: Ach, einer von dieser Art! Und lässt ihn liegen.«
Die Magd kommt mit der Kanne, wartet auf eine Gelegenheit, wirkt immer verzweifelter. Anne von Münchhausen gibt ihr einen Wink und noch einen.
Endlich stellt sie ab und sich selbst an die Wand.
»Als sich herumgesprochen hatte, dass ich die Albinos erforsche, wurden mir aus allen Himmelsrichtungen welche zugetragen.«
»Das war furchtbar«, sagt sie. »Die gammeligen Kadaver vom Prinzen Löwenstein-Wertheim!«
»Sie waren aufgedunsen«, präzisiert er. »Aus den Moorwiesen bei Selxen. Die meisten werden eben dort, im Rahl-Bruch, entdeckt. Meine Mutter, zu deren elterlicher Besitzung Rahl-Bruch gehörte, erzählte, dass der Maulwurfsfänger jährlich fünf bis acht reinweiße unter seinen Opfern hatte und sie im Schlosse vorzeigte. Zu meines