Die Katze und der General. Nino Haratischwili

Die Katze und der General - Nino Haratischwili


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Kenntnissen der menschlichen Natur unangemessen, dass er ausgerechnet von mir Dankbarkeit zu erwarten schien.

      Nach all dem, was zwischen dem Gestern und dem Heute lag – ein Abgrund ohne jegliche Aussicht auf eine Brücke. Als erwarte er ausgerechnet von mir die Demut eines aufgegriffenen Straßenköters, dem man kurz vor dem Ende eine zweite Chance und ein warmes, sättigendes Heim anbietet; das beleidigte mich nahezu.

      Wie konnte er sich sicher sein, dass meine Träume noch immer dieselben waren, nachdem sie mich einmal so unwiderruflich in die Irre geführt hatten?

      – Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war, sagte ich und wunderte mich über meine Wortwahl. Er stellte die leere Tasse auf den Tisch und erhob sich.

      – Davon bin ich ausgegangen, ja.

      – Wenn es so ist, dann kannst du auch nicht erwarten, dass ich deinem Wunsch so leichtfertig entsprechen werde?

      – Leichtfertig. Nein, daran habe ich keineswegs gedacht. Es gibt keinen Grund, leichtfertig zuzustimmen.

      – Ich meine, überhaupt etwas zu machen, egal ob leichtfertig oder nicht. Ich bin draußen. Ich schreibe nicht mehr, das wird euch doch bekannt sein, ich möchte mich nicht wiederholen und deine kostbare Zeit damit stehlen, dir von meinem absolut banalen Leben zu erzählen …

      – Dann stiehl nicht meine Zeit mit deinem Gerede. Wir alle ändern uns, zerstreuen uns in alle Himmelsrichtungen, fallen auseinander und setzen uns neu zusammen, ja, ja, das ist mir alles bekannt, aber unsere Träume, sie verfolgen uns, so hartnäckig und lästig sie auch sein mögen, sie lassen uns keine Ruhe.

      – Ich bin nicht mehr erpressbar, ich habe, wie du selbst sehen kannst, ziemlich wenig zu verlieren.

      – Hast du das Gefühl, dass ich diese Absicht habe?

      – Ich weiß nicht, welche Absicht ihr mit mir verfolgt, Schapiro, aber ich bezweifele sehr, dass ich der Richtige dafür bin. Es gibt Hunderte von guten Autoren, die sich die Finger danach lecken würden, das Buch zu schreiben, wenn an dem Angebot wirklich etwas dran sein sollte. Ich könnte euch sogar welche empfehlen …

      – Er will dich.

      Er kam einen Schritt näher, er hielt die Diskussion für beendet und wollte mir dies deutlich zu verstehen geben. Ich spürte eine zähe, klebrige Wut in mir aufkommen, eine Art von Wut, die ich lange nicht mehr gespürt hatte, eine Wut, die Kraft erforderte. Ich staunte über mich selbst, aber ich erhob mich, nahm mir vor, seinen Besuch einfach zu vergessen, eine bessere Waffe gegen ihn besaß ich eh nicht. Vergessen, ignorieren, als wäre er nie da gewesen. Dort anknüpfen, wo ich aufgehört hatte: durchgefroren auf der Bank im Park, mit den Erinnerungsfetzen der vergangenen Nacht. Ich würde gegen dreiundzwanzig Uhr das Bett wieder verlassen, mir auf dem Weg zur U-Bahn etwas Fettiges holen, mir den Magen vollstopfen und dann zur Baustelle fahren, dort meine sinnlose Kontrollroute abgehen und mich später mit ein paar Zigaretten und einem Buch in mein Kabuff zurückziehen – den mir liebsten Ort auf Erden, wie mir jetzt schien.

      Im dunklen Flur drehte sich Schapiro noch einmal zu mir um, sein Gesicht unangenehm nah an meinem, und sagte leise, fast flüsternd:

      – Wenn der Plan aufgeht, wenn alles so läuft, wie er es möchte, bekommst du am Ende die Exklusivrechte. Nur du. Alle Informationen, die du willst, jedes Detail seines Lebens, alles wird dir zur Verfügung gestellt werden. Nur dir. Aber dafür hältst du dich an die verdammten Regeln.

      Das Wort »verdammt« zischte er mir ins Gesicht, so dass ich zurückweichen musste.

      – Er erwartet dich morgen. In der Gemäldegalerie, in der Skulpturensammlung, kurz nach der Schließung, und sei bitte pünktlich.

      Ohne meine Antwort abzuwarten, verließ er die Wohnung. Ich blieb in der fleckig-feuchten Dunkelheit meines Flurs stehen. Als die Tür ins Schloss fiel, spürte ich meine Knie weich werden, ich rutschte an der Wand entlang zu Boden, suchte Halt auf den Holzdielen. Ich hatte auf einmal das Bild vor Augen, dieses Bild von ihr, das so sehr einem Traum glich, in ihrem italienischen Palazzo, lange nachdem ihre Kindlichkeit und Leichtigkeit verflogen waren.

      Ich hatte dieses Bild vor Augen, schwankte, ob es eine sichere Erinnerung war oder eine Zusammensetzung verschiedener Realitätsausschnitte, die mein Bewusstsein mit den surrealen Bildern meiner Ängste und meiner Vorstellungen gepaart hatte.

      Aber das Bild war da, so deutlich wie eine Szene aus einem Film: ihr Rücken vor einer Wand, oder war es ein Gemälde? Etwas Großflächiges, eine Wandmalerei. Die Grazilität, die sie immer ausgestrahlt hatte, das leicht Nervöse und Unruhige an ihr, was mich von Beginn an so irritiert hatte. Ihr Rücken im schummrigen Licht und er neben ihr, der General, sein wuchtiger Rumpf, seine starre Statur, die kerzengerade Haltung. Die Ähnlichkeit ihrer Glieder, nur dass sie die Selbstbeherrschung nicht besaß, die sein Körper so verinnerlicht hatte, ihre langen Hälse und wohlgeformten Köpfe, beide Schulter an Schulter nebeneinanderstehend und sich in der Malerei verlierend.

      Ich wunderte mich über die Wirklichkeit des Bildes, schloss die Augen und vergrub meinen Kopf in den Händen. Es war falsch, die Vergangenheit so nah an sich herankommen zu lassen. Es war falsch, zurückzublicken, denn nicht nur Orpheus war es nicht vergönnt gewesen, mit dem Blick zurück sein Glück zu finden.

      Ich wünschte mir in meinem Tagtraum, dass sie sich umdrehte, ich ihr Gesicht sehen könnte, aber da stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihrem Vater etwas ins Ohr. Er tätschelte leicht ihre Schulter, beugte seinen Kopf herunter und sagte etwas zu ihr, das ich nicht hören konnte, das aber eine beängstigende Endgültigkeit zu besitzen schien.

      Ich schüttelte den Kopf und erhob mich vom Boden, schleppte mich ins Bad, wo ich unter einem heißen Wasserstrahl die Kälte der vergangenen Stunden und die Tagträume von mir abwusch.

      Nach dem Aufwachen musste ich mich zunächst darauf konzentrieren, die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden zu rekonstruieren, aus irgendeinem Grund schien mir Schapiros Besuch bloße Einbildung zu sein und Tova eine Figur aus meinen wirren Träumen. Und plötzlich war die Brücke da, plötzlich wusste ich, an wen sie mich erinnert hatte … Ivana!

      Ivana führte mich in Sekundenschnelle nach Grömitz, meinen Geburtsort, und zu dem salzigen Geschmack der Ostsee auf meiner Zunge, dem aufregendsten Geschmack meiner Kindheit, der mir eine Ahnung davon gab, dass irgendwo da, wo das Wasser in den Horizont schnitt, die Welt auf mich wartete. Dass diese idyllische Einöde, in die ich hineingeboren war, nichts, aber auch gar nichts mit dem richtigen Leben zu tun hatte. Ja, ich ahnte damals nicht einmal ansatzweise, was das richtige Leben sein könnte, hatte aber dennoch die Gewissheit, dass es nicht im einstigen Fischerdorf Grömitz stattfand. Dort gab es meine Eltern, ein ehrliches, fleißiges Paar mit einer Pension mit Meerblick, mit viel Disziplin und Geduld aufgebaut und der ganze Stolz der beiden – natürlich neben meinem Bruder und mir, beide ebenfalls mit viel Disziplin und Geduld großgezogen. Es waren Männer und Frauen über fünfzig, die zu uns in die Pension kamen und sich nach etwas Aufregung und Abwechslung sehnten, am Ende doch in ihrer albtraumhaften Routine gefangen blieben. Paare, die sich weiterhin anschwiegen und mit leeren Blicken in die Ferne sahen, nur diesmal nicht in ihren Wohnzimmern, sondern auf der Terrasse des pensionseigenen Restaurants oder beim Wandern über den Lensterstrand oder auf dem Fahrrad auf dem Küstenradweg. Es gab die Schule, die keinerlei große Herausforderungen bereithielt und in der sowohl ich als auch mein Bruder ganz passable, absolut durchschnittliche Schüler abgaben; denn nichts war an diesem Ort verpönter, nichts wurde mehr verachtet, nichts mehr geschmäht als der Wunsch nach Andersartigkeit. Eine Doktrin, an die ich mich zumindest den Großteil meiner Kindheit hielt. Es gab Sportvereine und sogar Musikunterricht, auf den meine Mutter bestand, es gab Kinobesuche, Abende mit Risiko und Spiel des Lebens, Geburtstagsfeiern mit lauthals gesungenen Liedern und den Apfeltorten meiner Mutter, und es gab fast nie Urlaube – denn wir waren quasi im Dauerurlaub, nur dass wir tagein, tagaus den anderen beim Urlaub zusahen –, gelegentlich ein Ferienlager für mich und meinen Bruder. Es gab Bücher und Comic-Hefte und keinen Fernseher, es gab Schneeballschlachten und Weihnachtsmärkte, auf denen wir unseren hauseigenen Punsch verkauften. Es gab die Pflichtaushilfsstunden in der Pension und bei schlecht verrichteter Arbeit böse


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