Panikherz. Lisa Richter
Gedanken kreisten, ließen sich nicht ordnen. Meine Hände zitterten noch immer. Ich ging auf den Balkon, um mir eine Zigarette anzuzünden. Aber auch das Rauchen konnte mich kein bisschen runterholen. Unruhig lief ich in der Wohnung auf und ab und schaute dabei aus jedem Fenster. Ich fühlte mich beobachtet. Ich weiß nicht, wie viel Zeit dabei verstrich. Irgendwann rief ich dann auf der Arbeit an, um mich krankzumelden. Dann wollte ich die Nummer meiner Schwester wählen, ließ aber davon ab, weil ich nicht wusste, ob sie überhaupt zu Hause war oder noch schlief. Ich hatte nicht im Kopf, welche Schicht sie heute im Krankenhaus hatte. Also durchforstete ich die Galerie in meinem Handy, um ihren Dienstplan herauszusuchen. Lorena fotografierte ihn jeden Monat für mich ab und schickte ihn mir, damit ich wusste, wann sie erreichbar war. Sie hatte Nachtdienst, das hieß, dass sie erst vor ein paar Stunden nach Hause gekommen war und jetzt schlief. Ich nahm den Ersatzschlüssel zu Tims und Lorenas Wohnung aus der Schublade unserer Flurkommode. Ich würde schauen, ob bei den beiden alles in Ordnung war. Falls ja, brauchte ich meine Schwester nicht zu wecken. Ich wollte sie nicht grundlos in Sorge versetzen. Lorena und ich hatten uns gegenseitig die Ersatzschlüssel unserer Wohnungen gegeben. Für die üblichen Gründe: Falls sich mal jemand aussperrte oder einer von uns im Urlaub war.
Lorena arbeitete als Oberärztin auf der Intensivstation. Immer wieder fragte ich mich, ob sie diesen Berufsweg auch eingeschlagen hätte, wenn all das damals nicht passiert wäre. Ich bin eigentlich überzeugt davon, dass es ihr am Herzen lag, anderen Menschen das Leben zu retten, weil sie ihren eigenen Bruder hatte sterben sehen. Weil sie mich hatte sterben sehen. Sehr wahrscheinlich würde ich nicht mehr leben, wenn sie damals nicht so gute Erste-Hilfe geleistet hätte.
Ich wusste zunächst nicht, was ich mit der Lilie anstellen sollte, die immer noch auf dem Küchentisch lag. Schließlich entschloss ich mich, sie in eine Plastiktüte zu stecken. Ich legte sie auf dem Beifahrersitz ab, als ich ins Auto stieg. Vielleicht würde die Plastiktüte helfen, Spuren nicht zu verwischen, aber vielleicht wäre es ohne sie genauso effektiv. Ich hatte keine Ahnung von solchen kriminalistischen Dingen.
Ich riss mich zusammen, um nicht zu rasen. Widerwillig nahm ich den Fuß vom Gaspedal. Die Fahrt zu meiner Schwester kam mir unendlich lange vor. War sie aber nicht. Sie dauerte dreißig Minuten. Franziska und ich wohnten in Potsdam. Lorena und Tim in Oranienburg. Niemand von uns war dahin gezogen, wo der Mörder gewohnt hatte: Berlin. Ich weiß nicht, ob Lorena ihren Wohnort davon abhängig gemacht hatte, aber ich auf jeden Fall. Ich wollte nicht in der Stadt wohnen, in der ich ermordet worden war. Und Lorena hatte keine Wohnung in der Stadt haben wollen, in der sie beinahe vergewaltigt worden war. Außerdem waren Wohnungen in Berlin unbezahlbar. Zufällig hatten Franziska und ich beide Arbeit in Potsdam gefunden. Sie würde ihr Lehramtsstudium und Referendariat bald abschließen und dann als Deutsch- und Kunstlehrerin an einem Gymnasium unterrichten. Ich arbeitete als Informatiker. Ich brauchte einen Job, bei dem ich mich zurückziehen konnte. Seitdem ich bei den Mördern gewesen war, hatte meine Teamfähigkeit nachgelassen. Ich konnte nicht mehr gut mit anderen umgehen, besonders nicht mit Fremden. Ich war viel zu schüchtern. Das genaue Gegenteil meines alten Ichs, das Gegenteil von dem Jungen, der damals mit dem BMX-Rad von zu Hause abgehauen war.
Als ich vor der Haustür des Wohnhauses meiner Schwester aus dem Auto stieg, fühlte ich mich schon wieder irgendwie beobachtet. Aber diesmal war es intensiver. Ich spürte, was meine Schwester damals auf unserem Nachhauseweg von der Schule gefühlt haben musste. Ich spürte die Blicke in meinem Rücken, spürte mein rasendes Herz. Ich riss mich zusammen, nicht schon wieder herumzuschreien wie vorhin vor meiner Haustür. Stattdessen drehte ich mit weichen Knien eine Runde um das Wohnhaus. Aber wen suchte ich denn eigentlich? In meinen Gedanken tauchten zuerst diese dunklen, hasserfüllten Augen auf – die Augen meiner Mörder. Aber das war völlig absurd. Sie waren tot. Eigentlich sollte ich nach Personen suchen, die bei dem Vorfall damals beteiligt gewesen waren. Aber wem sollte ich das zutrauen? Wem sollte ich zutrauen, Lilien vor meine Haustür zu legen, um mir damit Angst einzujagen? Etwa den Leuten, die mir das Leben gerettet hatten? Den Sanitätern? Oder den Leuten, die mich aus dem Folterkeller befreit hatten? Den Polizisten?
Auf keinen Fall.
Nun ging ich zur Haustür, schloss sie auf und ging ich zügig die wenigen Treppen zu Lorenas Wohnung hinauf. Eigentlich hätte ich es mir denken können: Vor Lorenas Tür lag eine weitere orangene Lilie. Panik kam wieder in mir auf. Ich war wie gelähmt. Das war die endgültige Bestätigung, dass das alles kein Zufall war. Es musste etwas mit dem Geschwistermörder zu tun haben. Mit zittrigen Händen hob ich die Blume auf. Dann atmete ich tief durch, wollte mein rasendes Herz beruhigen. Doch es ließ sich nicht beruhigen. Ich musste mit meiner Schwester sprechen. Also klingelte ich. Es dauerte etwas, bevor Lorena sie öffnete. Sie sah extrem müde aus.
„David?“ Ihre Stimme klang leise.
„Ja“, brachte ich nur hervor.
„Was ist denn los? Ich hatte Nachtschicht.“ Sie klang genervt.
„Sorry. Es ist wichtig“, begann ich, wusste aber nicht, wie ich den Satz weiterführen sollte. Stattdessen ließ ich die Lilien zum Vorschein kommen, die ich bisher hinter meinem Rücken versteckt hatte.
Lorena schien nun sofort hellwach. Sie sah sehr erschrocken aus und schaute mich fragend an.
„Lag hier vor eurer Tür. Und vor unserer lag auch eine, deshalb bin ich hergefahren. Sorry, dass ich einfach ins Haus gegangen bin, aber ich wollte nach dem Rechten sehen und dachte, wenn alles okay ist, bräuchte ich dich nicht zu wecken.“
Lorena schien immer noch wie erstarrt. Das machte mich nervös. Ich dachte, sie würde mich für verrückt halten oder sauer sein, warum auch immer. Aber dann machte sie ganz plötzlich einen Schritt auf mich zu, um mich fest in ihre Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung und streichelte ihren Rücken. Ich wollte sie beruhigen. Ich hatte nicht vermutet, dass sie genauso aufgebracht sein würde wie ich.
„Wie kann das sein?“, flüsterte sie.
Ich schüttelte überfragt den Kopf.
Schließlich löste sich meine Schwester von mir und wir gingen ins Wohnzimmer, um uns zu setzen. Lorena blieb dicht neben mir auf dem Sofa, immer noch geschockt.
„Ich werde gleich zur Polizei fahren“, sagte ich nur.
„Ich komme mit“, war sie entschlossen.
„Ruh dich aus, es reicht, wenn einer von uns das macht. Ich habe mich bei der Arbeit schon krankgemeldet.“
„Trotzdem.“
„Lorena … es kann doch niemand von den Lilien wissen. Außer den Tätern und allen, die bei unserer Befreiung beteiligt waren, oder?“ Ich war gespannt auf ihre Antwort. Hatte ich ein Detail übersehen?
Aber sie nickte. „Ich denke, du hast recht.“
„Ist Tim schon auf Arbeit?“
„Ja.“
„Wann hat er das Haus verlassen?“ Ihm wäre die Lilie sicherlich aufgefallen.
„Genau weiß ich es nicht, ich habe fest geschlafen. Aber normalerweise geht er gegen 6 Uhr 30 raus.“
Ich schaute auf meine Armbanduhr. Es war 7 Uhr 15. „Dann kann sie noch nicht lange vor deiner Tür liegen …“ Mein Kopf fühlte sich immer schwerer an. Zufällig schaute ich auf den Kalender an der Wand: Heute war der 18. September 2022. Sofort beschleunigte sich mein Herz. „Heute ist der 18. und ein Mittwoch“, stieß ich hervor.
Lorena schüttelte entsetzt den Kopf. Auch sie wusste, was das zu bedeuten hatte. An diesem Tag war ich gestorben. Und wieder aufgewacht. An diesem Tag hatte sich Lorena den Mördern ausgeliefert, um mich zu retten.
Es regnete, als ich vor der Polizeistation aus dem Auto stieg. Wie passend. Wer auch immer die Lilien vor unsere Türen gelegt hatte, bis auf den richtigen Tag hatte er alles andere verfehlt. Nicht der richtige Monat. Und noch nicht mal die richtige Jahreszeit. Als ich verschwunden war, war Mai gewesen, jetzt hatten wir September.
Es sah sicherlich merkwürdig aus, als ich mit der durchsichtigen Plastiktüte,