Panikherz. Lisa Richter
sie mich wieder fast so an wie an dem Tag, an dem ich ihr erklärt hatte, dass ich sie zur Frau nehmen und mich für immer an sie binden wollte. Aber heute strahlte sie, weil wir etwas anderes zu feiern hatten. Franziska hatte ihre letzte Prüfung bestanden, um als Lehrerin arbeiten zu können. Jetzt würde sie berufstätig werden. Würde den Job ausüben, der ihr Traum war. Es war ein Job, der das genaue Gegenteil von meinem war. Franziska arbeitete mit Kindern oder Jugendlichen, ich meist allein. Ich war seit dem Vorfall vor zehn Jahren unsicher und introvertiert und ich konnte das einfach nicht mehr ablegen. Vielleicht lag es daran, weil meine Mörder mir meine Würde und somit auch mein Selbstbewusstsein genommen hatten. Vielleicht lag es auch daran, weil ich ständig dachte, andere würden mein Gesicht oder meinen Namen aus den Vermissten-Anzeigen kennen, obwohl das schon so lange her war. Aber vielleicht lag es einfach daran, dass ich irgendwie immer die Auffassung hatte, dass mich andere für unnormal oder verrückt hielten. Ich hatte stets das Gefühl, dass ich nur in Franziskas oder Lorenas Gegenwart ich selbst sein konnte – zumindest mein neues Ich – mein altes, wirkliches Ich hatte ich bei meinen Mördern verloren. Sie hatten es mir während der Folter gewaltsam und widerwillig entrissen. Und das, obwohl ich mich selbst die ganze Zeit im Blick gehabt hatte und mich selbst unmöglich hätte vergessen können.
Aber ich hatte es. Und vermutlich war genau das der Fehler gewesen: der Spiegel. Deshalb schaute ich seitdem in keinen Spiegel mehr. Ich konnte mir selbst nicht länger als ein paar Sekunden in die Augen blicken, auch jetzt nicht, nachdem so viel Zeit vergangen war. Natürlich musste ich jeden Tag kurz in den Spiegel schauen, aber ich blickte mir dabei niemals direkt in die Augen. Ich bekam Panik, wenn ich mir in die Augen sah – und das war eigentlich ziemlich armselig und krank. Aber es war so, denn wenn ich mein Spiegelbild sah, blitzte unwillkürlich und schlagartig das Bild des fünfzehnjährigen, blutverschmierten, weinenden Jungen vor meinem inneren Auge auf, das ich einfach nicht ertragen konnte.
Genau deshalb genoss ich es jetzt auch, als ich in die tiefblauen Augen von Franziska schaute, die mir erzählte, wie ihre Prüfung gelaufen war. Sie hatte mich nach der Prüfung kurz angerufen und ich hatte mich riesig für sie gefreut, ihr gratuliert und sie gefragt, ob wir essen gehen wollten. Ich hatte schon einen Tisch bei Joey’s reserviert, ihrem Lieblingsrestaurant. Aber sie meinte, dass es ihr lieber wäre, den Abend zu Hause zu verbringen. Eigentlich hatte ich ihr das nicht geglaubt, aber ich wollte nicht länger mit ihr diskutieren. Ich hoffte nur, dass ihre Ablehnung nicht an den Lilien oder an mir lag. Franziska konnte gut mit Menschen umgehen und hatte ein wahnsinniges Einfühlungsvermögen – nicht nur bei mir. Sie hatte sich bestimmt gedacht, dass ich noch zu sehr aufgebracht war wegen der Lilien am Morgen und deshalb lieber zu Hause bleiben würde.
Aber das stimmte eigentlich nicht, denn als ich sie über die Kerze hinweg ansah, ihr durch die Flamme erhelltes Gesicht wahrnahm, da wusste ich, dass ich mich auch hier in unserer Wohnung nicht mehr sicher fühlte. Denn wer auch immer diese Lilie vor unsere Tür gelegt hatte, er hatte etwas mit den Mördern zu tun und er wusste, wo wir wohnten. Dieser Gedanke ließ mich erschaudern.
Doch von all diesen Bedenken erzählte ich ihr nichts, ich hatte ihr bisher auch nicht erzählt, wie es bei der Polizei abgelaufen war. Sie hatte es am Telefon wissen wollen, aber ich hatte nur gesagt, dass ich es ihr später erzählen wollte. Ich hatte ihr Lieblingsessen gekocht – Spaghetti Bolognese – und servierte nun Mousse au Chocolat zum Nachtisch.
„Das ist viel besser, als essen gehen.“ Sie grinste breit.
Ich versuchte, auch zu lächeln. „Das hast du dir wirklich verdient nach all der Mühe.“ Na ja, und ich war den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen, weil ich mich wegen einer Lilie vor der Haustür krankgemeldet hatte …
„Es ist bestimmt merkwürdig für die Kinder, die ich unterrichte, dass sie mich in einem halben Jahr Frau Winkler nennen müssen.“ Sie lächelte, als sie das sagte, und ich lächelte zurück. Mir wurde so warm ums Herz, wenn sie von unserer Hochzeit sprach. Der Termin stand schon. Ich sah ihr an, dass ich sie mit diesem Antrag zur glücklichsten Frau der Welt gemacht hatte. Vermutlich war das bisher das Einzige in meinem Leben, was ich richtig gemacht hatte.
„Mir gefällt dein Name“, sagte sie grinsend, bevor sie sich den ersten Löffel der Mousse au Chocolat in den Mund schob.
„Mir gefällt mein Name auch an dir.“
Sie lachte. Es war so leicht, sie zum Lachen zu bringen oder glücklich zu machen. Bei mir war das nicht so. Ich dachte lange Zeit, dass ich das Leben durch den Vorfall mehr schätzen gelernt hätte. Das war an manchen Tagen auch so, aber die Zahl der Tage, die ich verabscheut hatte, war im Vergleich dazu viel größer.
Jetzt jedoch wurde Franziskas Miene ernster. „David, ich muss jetzt wissen, wie es bei der Polizei abgelaufen ist. Es tut mir leid, dass ich das so verdrängt habe, aber jetzt haben wir mich genug gefeiert.“ Sie sah mich auffordernd an. „Erzähl.“
Ich zuckte mit den Schultern, denn im Grunde gab es nicht viel zu sagen. „Der Polizist, mit dem ich gesprochen habe, hat keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Sie versuchen, Fingerabdrücke an den Blumen festzustellen, und melden sich dann.“
„Die Blumen?“, fragte sie entsetzt.
Ach so, das hatte ich ihr ja auch noch nicht erzählt. „Vor Lorenas Tür lag auch eine.“
Sie ließ ihren Löffel vor Schreck in die Schüssel zurückfallen.
Sofort bereute ich, ihr das gesagt zu haben. Ich nahm ihre Hand. „War bestimmt nur ein dummer Scherz. Uns wird nichts passieren.“ Doch ich wusste, dass ich log.
Da klingelte das Telefon. Schnell ging ich in den Flur und nahm ab. Franziska beobachtete mich dabei. Mein Herz raste bereits. „Winkler“, meldete ich mich.
„Herr Vogt von der Kripo Potsdam hier. Wir haben beide Lilien untersucht. Wir konnten keine Fingerabdrücke vorfinden außer Ihren eigenen.“
Ich schaute Franziska an, als er das sagte. Und ich brauchte keinen Spiegel. Der Schock stand mir ins Gesicht geschrieben und übertrug sich auf Franziska. Sie war ein Spiegelbild meiner selbst. Sie schaute mich in diesem Moment genauso erschrocken an wie ich sie. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als die Worte des Polizisten auf mich wirkten. Nicht nur wegen dieser unerklärlichen Tatsache, sondern weil ich den Unterton in seiner Stimme heraushörte. Einen vorwurfsvollen Unterton. So als wäre ich für all das verantwortlich.
*
Kapitel 2: Training
Seitdem ich diese Lilie gefunden hatte, waren mir folgende Dinge klar:
Erstens: Irgendjemand, der die Geschwistermörder kannte, bedrohte mich, wollte mich nun völlig zerstören. Sowohl psychisch als auch körperlich.
Zweitens: Ich musste mich darauf vorbereiten.
Drittens, und das war die Tatsache, die mich am meisten beunruhigte: Es konnte eigentlich nur der Geschwistermörder selbst sein.
Wieder schlug ich zu. Wieder und wieder. Mit jedem Schlag wurde meine Wut stärker. Sie wollte sich nicht bändigen lassen. Ich dachte an das Telefonat mit dem Polizisten von letzter Woche zurück, dem Polizisten, der zunächst einen netten Anschein gemacht hatte und nun dachte, dass ich diese Lilien selbst beschafft hätte. Immer wieder ging mir sein Satz durch den Kopf: „Wir konnten keine Fingerabdrücke vorfinden außer Ihren eigenen.“
Und die Frage, die ich ihm dann gestellt hatte: „Dann wurden die Fingerabdrücke vermutlich wieder verwischt?“
„Sieht nicht danach aus.“
„Dann hat der Täter bestimmt Handschuhe getragen.“
„Kann sein.“
Kann sein.
Noch mal schlug ich zu. Diesmal auch mit Ellenbogen und den Füßen. Meine Hände brannten, aber das war mir egal. Mein Schmerzlimit hatte sich seit dem Vorfall sowieso ins scheinbar Unendliche ausgedehnt. Das hier war gar nichts.
Und