Panikherz. Lisa Richter
Schwester gab mir einen Zettel, auf dem stand:
Für David: My sisters protector. Für mich: My brothers keeper.
Ich war sprachlos und wirklich gerührt von ihrem Vorschlag. Denn es passte zu unserem Vorfall. Zu dem Vorfall, der unsere Schicksale für immer verbunden hatte. Und nicht nur das: Es war ein ewiges Versprechen. Ich hatte meinen Mördern keine Hinweise auf Lorena gegeben, weil ich nicht gewollt hatte, dass ihr etwas zustieß. Ich hatte sie beschützen wollen. Und das würde ich auch jetzt sein: der Beschützer meiner Schwester. Meine Schwester war jedoch trotzdem zu den Mördern gegangen, hatte sich einer riesigen Gefahr ausgesetzt, um mir das Leben zu retten. Um über mich zu wachen: die Wächterin meines Bruders. Mit diesem Tattoo versprach sie mir, das auch weiterhin zu tun. Sie würde über mich wachen und ich würde sie beschützen. Bis an unser Lebensende.
„Aber du kannst dir auch gerne was anderes aussuchen. Ich weiß, es ist vielleicht ein bisschen kitschig.“ Lorena sah mich unsicher an.
Ich schüttelte sofort den Kopf. „Nein, es ist perfekt.“ Dankbar fiel ich ihr in die Arme. Vielleicht hatte ich es auch ohne die Tattoos gewusst, aber von dem Tag an, an dem wir das Tattoo-Studio verlassen hatten, hatte ich die feste Gewissheit, dass meine Schwester immer zu mir halten würde.
Deshalb hätte ich eigentlich auch jetzt wissen müssen, dass sie mir glaubte. Dass ich das mit den Lilien nicht selbst gewesen war. Meine Schwester würde ihr Versprechen halten – genauso wie ich. Da war ich mir sicher. Nachdem wir die Lilien vor unseren Türen gefunden hatten und die Polizei uns das Ergebnis der Untersuchung dieser Blumen mitgeteilt hatte, war ich am nächsten Tag bei Lorena und Tim gewesen. Ich hatte Tim gleich angesehen, dass ihm die Situation Sorgen bereitete. Dass er sich um Lorena Gedanken machte und es nicht ertragen könnte, wenn ihr noch einmal etwas passieren würde. Tim und ich teilten nun dasselbe Gefühl der Angst. Er war bei der Polizei gewesen und hatte gesagt, dass er diese Angelegenheit nicht so stehen lassen könne. Obwohl er ziemlich eindringlich mit einem Beamten gesprochen haben musste, hatten sie ihm dasselbe gesagt wie uns: „Wir können nichts tun, solange keine direkte Bedrohung vorliegt oder wir Hinweise haben.“ Aber war die Lilie denn nicht schon Beweis genug?
Am Abend nach dem Training setzte ich mich zu Hause an den Laptop und googelte. Seit dem Anruf der Polizei hatte ich das schon mehrmals vergeblich getan, hoffte aber, dass meine Suche Erfolg haben würde, wenn ich genauer und länger suchte oder die richtigen Stichworte in die Suchzeile eingab. Ich schaute mir Zeitungsartikel an, die über den Vorfall berichtet hatten. Ich wollte einfach herausfinden, ob irgendjemand darin verwickelt gewesen war, der von den Lilien wusste, und ob diese Blumen wirklich nie in einer Pressemitteilung erwähnt worden waren. Eigentlich konnte ich solche Schlagzeilen wie Fünfzehnjähriger stundenlang von Serienmördern gequält, Waghalsige Rettungsaktion: Schwester befreit Bruder oder Verschwinden von Geschwisterpaaren in Jüterbog hat ein Ende nicht mehr sehen, aber ich wollte einfach irgendetwas herausfinden – und eine andere Möglichkeit hatte ich nicht. Am liebsten hätte ich mit einem der Polizisten gesprochen, die in den Vorfall involviert gewesen waren. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich Herrn Köhler kontaktieren konnte, denn laut Google arbeitete er schon nicht mehr bei der Polizei und ich konnte ja schließlich keinen anderen Polizisten nach seiner privaten Rufnummer fragen. Dann würde man mich bestimmt erst recht für verrückt halten – und die Nummer dürfte bestimmt sowieso nicht an mich herausgegeben werden.
Ich erinnere mich oft daran, wie Herr Köhler zwei Tage, nachdem ich im Krankenhaus aufgewacht war, an meinem Bett gesessen, mir einige Fragen gestellt und mich dabei mit einem mitfühlenden, fast schuldvollen Blick angesehen hatte, fast so, als wäre er der Meinung gewesen, dass er all mein Leid von mir, das meiner Schwester und der anderen Geschwistern hätte verhindern können, wenn er anders gehandelt oder eher die richtigen Hinweise gesehen hätte. Aber es gab nichts, was ich ihm übel nehmen konnte. Das aktuelle Problem war, dass ich wusste, dass demnächst noch irgendetwas passieren würde und nun niemand von der Polizei etwas dagegen unternahm oder unternehmen wollte. Und dass Herr Vogt vielleicht irgendwann in seinem Sessel sitzen und sich schuldig für alles halten könnte. Aber auch das konnte ich ihm unmöglich erzählen. Er dachte ja sowieso – zumindest meiner Auffassung nach –, dass ich so psychisch labil sei, dass ich selbst die Lilien verteilt hatte, entweder, um Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, oder weil ich mich nicht erinnern konnte, es getan zu haben, weil ich Drogen nahm oder eine Wahrnehmungsstörung hatte. So zumindest meine Interpretation seiner Aussagen am Telefon.
Ich hatte auch mit dem Gedanken gespielt, meine Psychotherapeutin – zu der ich schon Jahre ging – zu bitten, Herrn Vogt ein Protokoll über meine seelische Verfassung auszustellen. Aber das kam nicht mehr infrage. Denn vermutlich würde er auch aus einer Diagnose falsche Schlüsse ziehen – und das würde alles nur noch schlimmer machen. Außerdem wusste ich gar nicht, ob meine Therapeutin meine Daten – auch mit meiner Einwilligung – überhaupt herausgeben durfte oder wollte.
Es war nicht schwierig, zu erinnern, wann ich mich entschieden hatte, zu einem Psychotherapeuten zu gehen. Meine Eltern hatten mir schon am ersten Tag im Krankenhaus – mein erster Lebenstag in meinem zweiten Leben, mein erster Tag nach dem Herzstillstand – gesagt, dass ich mit einem Therapeuten sprechen könne, wenn ich das wollte. Aber ich hatte das zuerst nicht ernst genommen. Hatte gedacht, ich käme alleine klar. Aber eines Tages wusste ich dann, dass ich es nicht allein schaffen konnte, dieses Trauma zu überwinden. Und dass mir meine Eltern, meine Schwester oder Franziska auch nicht mehr zu helfen wussten. Seitdem ich wieder zu Hause gewesen war, litt ich an Panikattacken. Vermutlich, weil ich zur Ruhe kam und die Medikamente mir nicht mehr den Verstand vernebelten. Zuerst hatte ich nur hyperventiliert, hatte grauenvolle Albtäume von meinen Mördern und meist starke Schmerzen. Wenn mich dann jemand weckte – und das war durch die relativ laute Hyperventilation der Normalzustand – war alles wieder gut. Die Schmerzen vergingen, ich konnte wieder durchatmen.
Aber in dieser einen Nacht nicht. Das war ungefähr drei Monate nach dem Vorfall, weil ich meine Schiene am Bein nicht mehr tragen musste, aber immer noch stark humpelte und Krücken brauchte. Mein Traum: Ich lag gefesselt auf dem Tisch. Wie in den meisten Träumen. Meine Mörder starrten mich an. Ich wusste, dass ich träumte. Also stellte ich mich auf Schmerzen ein. Gleichzeitig wusste ich, dass Lorena mich gleich wecken würde, spätestens dann, wenn ich hyperventilierte. Sie schlief seit meiner ersten Panikattacke in meinem Zimmer. Ich dachte im Traum, meine Mörder würden mir Schmerzen zufügen, aber sie schienen auf irgendetwas zu warten. Ich betrachtete mich im Spiegel, wohl wissend, dass ich das nicht tun sollte, weil ich mich dann erschrecken könnte. Weil ich dann sehen könnte, dass ich verletzt war. Aber da war nichts. Ich blutete nicht mal. Doch dann sah ich es: Der Spiegel begann zu zerbrechen. Immer mehr Risse sammelten sich im Glas. Die Scherben fielen auf mich nieder, durchbohrten meine Haut. Ich schrie durch diesen stechenden Schmerz auf. Sofort bereute ich es, in den Spiegel gesehen zu haben, hätte ich es nicht getan, dann wäre das vielleicht nicht passiert. Vielleicht hätte sich mein Gehirn dann etwas weniger Schlimmes ausgedacht. Vielleicht auch nicht.
Eine Flüssigkeit trat hinter dem Spiegel hervor … Wasser. Der Spiegel beschlug. Es war heißes Wasser. Ich zerrte an den Fesseln, aber ich war wehrlos. Ich wusste genau, was passieren würde. Wusste genau, welche Art Schmerz mich erwartete. Meine Mörder auch. Sie lachten. Dann brach der Spiegel komplett ein. Unmengen kochendes Wasser prasselten auf meinen Körper ein. Der Schmerz durchzuckte meinen Körper, ließ mich beben. Ich wand mich. Ich verbrannte. Am ganzen Körper. Der Schmerz war unerträglich. Es war so ein starkes Brennen, dass man denken konnte, einem würde die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Einfach vom Leib gerissen. Oder als würden meine Gliedmaßen platzen. Den Schmerz konnte man keine Sekunde lang ertragen. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Aber dann drang das kochende Wasser in meine Kehle, in meine Luftröhre. Ich konnte nicht mehr atmen. Ich verbrannte und erstickte gleichzeitig. Und es nahm kein Ende. Ich wachte einfach nicht auf. Ich weinte, bettelte darum, erlöst zu werden. Dann hörte das Wasser auf, zu fließen. Ein Rest des Spiegels war noch übrig. Ich sah mich an. Mein Körper war übersät von Blut, Brandblasen und Narben. Sogar mein Gesicht, meine Augen – völlig entstellt. Mir wurde übel. Ich atmete einmal heftig ein, weil ich mich dermaßen vor mir selbst erschrak – vor meinem entstellten Gesicht. Doch ich atmete nicht wieder normal aus. Nun hyperventilierte ich. Meine Atmung ging in kurzen