Pax. Eva Roman
E-Book-Ausgabe 2020
© 2020 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Umschlaggestaltung: Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Jitka Hanzlová (Rokytnik, 1990–1994) © VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Alle Rechte vorbehalten
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ISBN: 9783803142856
Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803133274
VOR DEN BUSFENSTERN ragten nur noch die Pfahlspitzen der Zäune aus dem tiefen Schnee, vereinzelt wie dunkle Kommata auf einem weißen Blatt Papier. Selbst die goldene Kugel auf der Spitze des zwiebelförmigen Kirchturms von Lauterthal trug eine weiße Haube, als es der Großmutter mit einem Mal sehr viel schlechter ging. Sie schlief jetzt meistens, atmete röchelnd ein und aus, während vor ihrem Wohnzimmerfenster Vögel die Futterstelle anflogen, die die über ihr wohnenden Nachbarn auf ihrem Balkon eingerichtet hatten. Die Fahrt über versuchte Pax das mulmige Gefühl von sich fernzuhalten, das ihn jedes Mal befiel, seitdem sie die Großmutter einmal reglos auf dem Boden vor ihrem Bett gefunden hatten. Lieber malte er sich das Schauspiel der Vögel aus, sah die schwarzen Amseln auf den verschneiten Ästen, die feuchten Köpfe der Blaumeisen zwischen den letzten roten Beeren und den großen Eichelhäher, der wie ein farbiger Rabe über den Schnee schritt und sofort seinen Warnschrei ausstieß, sobald sie sich drinnen bewegten oder eine der Dorfkatzen sich anschlich, im Glauben, vor dem weißen Hintergrund noch immer bestens getarnt zu sein.
Einmal war ein Sperber angeflogen, hatte einen der Spatzen mit sich davongerissen, das ist halt die Natur, Tante Beatrix stellte die Packung mit den Keksen ein Stück von sich weg, Schluss damit, sagte sie, oder willst noch einen, du wächst ja noch. Pax hielt den Blick nach draußen, auf den aufgeregt zurückgebliebenen Rest der Schar, bevor er den Kopf schüttelte und sich an den Rand von Großmutters Sofa setzte. Schläft, sagte er.
Meistens übernachteten sie jetzt in Lauterthal, auf Feldbetten in der Küche, von der bloßen Gegenwart des jeweils anderen derart unangenehm berührt, dass ihnen das Einschlafen trotz ihrer täglich zunehmenden Müdigkeit immer mehr zur Kunst wurde, und wenn es ihnen endlich gelungen war, so wurde einer von beiden schon bald von einem Schnarchen oder von dem Knarzen geweckt, das die Metallgestelle bei jeder noch so kleinen Bewegung von sich gaben. Heute aber war es keines dieser üblichen Störgeräusche, von dem sie wach wurden, dass sie jetzt heimkehren würde, zu ihrem liebsten Kind, schrie die Großmutter aus dem Wohnzimmer durch das Dunkel, und warum ihr der Herrgott ausgerechnet dieses genommen hatte, augenblicklich sollte Tante Beatrix den Pfarrer holen, für die letzte Ölung, die insgesamt drei Mal in sechs Wochen stattfand. Ab dem vierten Mal ließ Tante Beatrix die Großmutter schreien, mit dem Messer zerteilte sie rosafarbene Ohrstöpsel. Für dich, sie hielt Pax zwei Teile hin, sodass sie in jener Nacht, als die Großmutter mit geöffnetem Mund erstarrt war, nichts als die Geräusche ihrer eigenen Körper gehört hatten.
Bis die Erde es wieder zuließ, dass der Friedhofsgärtner in die Tiefe grub, mussten sie warten. Pax hätte gern geweint, als Tante Beatrix die Schaufel etwas ungeschickt drehte und er die Erde auf den Holzsarg treffen hörte. Stattdessen fiel ihm Großmutters Gesicht ein, dem die Krankheit sämtliche Farben entzogen hatte. Großmutter, auf dem Sofa, ein Gebilde aus Glasknochen, die allein unter dem Gewicht der Bettdecke zu brechen drohten, und trotzdem noch mächtig genug, Tante Beatrix’ Stimme in die eines eingeschüchterten, kleinen Mädchens zu verwandeln und Pax eine Ohrfeige zu verpassen dafür, dass er nachgefragt hatte, wieso der gute, allmächtige Gott, zu dem sie unablässig betete, sie so im Stich gelassen hatte.
Anfangs waren sie noch mit dem Rollstuhl ein Stück die Dorfstraße hinuntergefahren, in die Bäckerei, um eine mit Salz und Kümmel bestreute Seele zu holen, an der die Großmutter den Heimweg über kaute, später aber wollte sie das Haus gar nicht mehr verlassen, weshalb Tante Beatrix sich auf ihre endlose Suche nach der passenden Unterstützung gemacht hatte. Männer durften die Großmutter nicht anfassen, Frauen bezichtigte sie des Diebstahls. Deshalb mussten sie letztlich ständig selber nach Lauterthal. Immerhin haben wir so unseren Sport, sagte Tante Beatrix bei gutem Wetter, während sie das Garagentor öffnete und darauf wartete, dass Pax sein Fahrrad mit den Vollgummireifen herausrollte. Wenn er Glück hatte, durfte er zuhause bei Oma Peschka bleiben, die er längst zu seiner eigentlichen Oma bestimmt hatte. Wenn nicht, fuhr er vor Tante Beatrix her, immer die Landstraße entlang, gegen den Wind und die Druckwellen der vorbeifahrenden Lastwagen.
Fand sich wieder einmal niemand, der einspringen konnte, selbst Oma Peschka nicht, so war Tante Beatrix gezwungen, die Großmutter ausnahmsweise selber zu wickeln, und Pax musste das Zimmer verlassen. Er wartete dann in dem dunklen Flur vor dem Schlüsselloch oder unter dem Vordach am Fenster, von wo aus er die beiden beobachtete. Mal lag die Großmutter einfach nur da, den Kopf abgewandt wie ein beschämtes runzeliges Kind, mal lachte sie Tante Beatrix an, du hast mich gerettet, sagte sie mit heller Stimme, und dass es kurz vor knapp war, schau doch, sie deutete in den Himmel, aus dem sie in letzter Zeit wieder Christbäume regnen sah. Jeden Moment konnte sich der Ausdruck ihres Gesichts in sein Gegenteil verkehren, mit Absicht wollt ihr mich sterben lassen, sagte sie dann, weil ihr Geld braucht, ihr Geier, bevor sie wie immer das Wort an die Jahresuhr richtete, durch deren Glasglocke die Sonne ein flimmerndes Muster an die Wand warf. In der Uhr musste sich wohl der Großvater befinden, wie der Leib Christi in der diamantbesetzten Monstranz der Lauterthaler Kirche, oder auch nur wie ein Flaschengeist, einmal kehrt er doch noch heim, sagte die Großmutter jetzt, und wenn sie dann drei Wünsche frei haben sollte, so war der erste, dass er ihnen die Ohren langzog, im Keller, damit sie endlich zugaben, wo das verdammte Geld hin war.
Pax hatte das Spiel schnell verstanden. Sie suchten. Tante Beatrix suchte im Schrank, und er suchte hinter dem Jesus mit Dornenkrone und vergoldetem Lendenschurz oder unter dem Teppich, und nach etwa zwei Minuten entdeckten sie das Geld dann jedes Mal unter Großmutters Kopfkissen. Heute aber war es dort nicht, es befand sich stattdessen, eingewickelt in kotverschmierte Waschlappen, im Mülleimer, bist du jetzt völlig – Tante Beatrix packte die Großmutter an ihren Handgelenken, auf denen sich umgehend Blutergüsse abzeichneten, ihre Fingerabdrücke auf Großmutters Pergamenthaut.
Pax lief hinaus in den Garten zwischen die Forsythien. So lange er sich erinnern konnte, hatte die Großmutter Anfang Dezember Barbarazweige aus den Büschen geschnitten, die an den Weihnachtstagen hellgelb in der Stube blühten und dabei ihren frühlingshaften Duft verströmten. Er schloss die Augen und stellte sich die leuchtenden Zweige vor, eine ganze Weile blieb er so stehen, bis ihm irgendwann der Geruch von gedünsteten Zwiebeln in die Nase drang. Ihm wurde schlecht, wenn Tante Beatrix Großmutter fütterte, Essen anreichte, wie Großmutters ehemalige Pflegekraft Schwester Renate, eine der letzten Nonnen des örtlichen Klosters, es genannt hatte, sie hatte auch nicht Lätzchen gesagt, sondern Serviervorlage, und aus dem Wickeln war der Wechsel der Inkontinenzmaterialien geworden. Jedenfalls bevor die Großmutter sie des Diebstahls bezichtigt hatte. Sie hatten sich entschuldigt und die Klosterfrau noch mehrfach zum Bleiben überredet und erst viel später festgestellt, dass Großmutters Bündel mit den Geldscheinen sich während Schwester Renates Ehrenamt tatsächlich mehr als halbiert hatte.
Kann kein Mensch essen, behauptete die Großmutter oft, und dann spuckte sie aus, die Suppen und den Brei und die zerquetschten Bananen, unbegabt warst du immer, woraufhin sie von dem Hähnchencurry mit Ananas schwärmte, das ihre jüngere Tochter eingeführt hatte. Das war ein Mal, ein einziges Mal, dass die für uns gekocht hat, flüsterte Tante Beatrix und weiter, dass sie endlich still davon sein sollte, sie sah zu Pax, der in der Küche half, die Ränder vom Toastbrot abzutrennen und es in mundgerechte Vierecke zu schneiden, damit die Großmutter gut kauen konnte. Mit an das Sofa, auf dem sie gefüttert wurde, wollte er nicht, schon gar nicht, nachdem er einmal beobachtet hatte, wie ihr Gebiss in die pürierte Bratwurst gefallen war.