Pax. Eva Roman
Tante Beatrix antwortete jedes Mal, du warst es doch, die den Hof gegen die Wohnung getauscht hat. Gott sei Dank, stell dir vor, du wärst jetzt allein in dem riesigen Haus, und wer diese Arbeit machen sollte. Tante Beatrix setzte den Kamm an und riss der Großmutter ganze Strähnen aus, bis sie aufschrie, es kam auch vor, dass sie sie verletzte, indem sie ihr die Nägel wie zufällig bis unters Fleisch kürzte, erzähl was, rief sie Pax zu, er aber wollte lieber nichts von dem berichten, was er draußen erlebt hatte, damit die Großmutter nicht neidisch wurde. Später, während Tante Beatrix Nägel und Windeln entsorgte, verlangte die Großmutter eilig, dass Pax die Zeitung brachte, um mit ihr zusammen die Todesanzeigen zu buchstabieren. Bald wirst du hier meinen Namen lesen können, sagte sie dann.
Vorsichtig griff Pax in die Schale mit den Blütenblättern, deren Duft sich mit dem der feuchten Erde und den Weihrauchschwaden über der Thujahecke vermischte. Kalt wie Wachs fühlten sich die dünnen Blätter an, feucht und tot. Schweres Konfetti, das ihn an etwas erinnerte. An die Frau mit der langen Sprache.
Lange Sprache? Tante Beatrix zuckte mit den Schultern, dass sie ehrlich keine Ahnung hatte, was er meinte, sagte sie, bevor sie in das Vaterunser einstimmte. Wie sie seine Hand dabei drückte, wenn auch nur, weil der Pfarrer sie dazu aufgefordert hatte. Pax fand es schön, er beobachtete Tante Beatrix, beruhigt vom Gemurmel der ewig gleichen Worte, und er hatte sie schon die Tage vorher belauert, morgens aus der Deckung seiner Cornflakespackung heraus – auch Tante Beatrix schien nicht weinen zu müssen, er sah sich um, tatsächlich weinte gar niemand der Anwesenden, was vielleicht daran lag, dass Tränen das Letzte für die Großmutter gewesen waren, und dass sie für das Geheule an ihrem Grab ganz sicher kein Verständnis aufgebracht hätte.
Einzig Tante Beatrix’ Augenlider waren eine Zeitlang geröteter als sonst, vielleicht weinte sie also doch heimlich, nachts oder noch vor dem Frühstück, dachte Pax, während sie zuhause im Garten darauf warteten, dass Oma Peschka den Frühling ausrief. Man kommt ja schon irgendwann an seine Grenzen, nach all dem Unglück, Tante Beatrix hielt einen Eimer über den Brunnen, andererseits, gab sie zu, war man aber doch auch ein bisschen erleichtert. Oma Peschka nickte, dass sie das Ganze ja selber durchhatte, sie lächelte mitleidig. Pax betätigte die Pumpe, einen eingetrockneten Fleck im Visier, Vanillesauce, auf Oma Peschkas Hauskleid. Gut, dass der Winter die Leitungen verschont hat, Oma Peschka zwinkerte ihm zu, während sie etwas von dem kalten Wasser in seine Richtung schnippte, ob er Lust hatte, mit ihr die Kaninchen zu füttern? Damit sich deine Tante endlich mal ein bisschen ausruhen kann. Aufmunternd streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
In dem riesigen Kaninchenstall, den der alte Peschka vielleicht nur deshalb an das Ende des Gartens gemauert hatte, weil ihm damals noch so viele Ziegel übrig geblieben waren, hing noch immer seine rostige Sense an einem Haken. Darüber hinaus hatte Peschka ein weiß gekalktes Mehrfamilienhaus mit braunen Fensterrahmen hinterlassen, dessen Fassade ein gusseiserner Vogel zierte. Nach Kriegsende und der Flucht aus Oberschlesien, wo vier kräftige Viehhändler ihn davon überzeugen konnten, ihre Schwester, die ein Kind erwartete, zu heiraten, hatte Peschka das Haus selbst gebaut, eine Leistung, die Pax beeindruckte, vielleicht gerade weil er Opa Peschka nie kennengelernt hatte. Er stellte sich vor, wie Peschka mit ein paar Männern Stein auf Stein schichtete, um dieses in den Augen eines Kindes riesige Haus zu mauern. Die Umstände von Peschkas Tod blieben für Pax undurchsichtig. Er hat zu tief ins Glas geschaut, sagte Tante Beatrix einmal, den Blick betreten abgewandt, während die Nachbarin nickte und leise das Wort Kor-sa-kow murmelte, bevor sie sich den Kindern gegenüber zu einer deutlicheren Geste hinreißen ließ: Sie hielt sich den Daumen der erhobenen rechten Hand an den Mund, die drei mittleren Finger um eine imaginäre Flasche, den kleinen abgespreizt, gluck-gluck sagte sie zwinkernd, bevor sie die Augen verdrehte und wie eine schwer Besoffene auf die Kinder zutorkelte. Wenn Leni, Oma Peschkas Enkelin, zu Besuch war, spielten Pax und sie oft in dem alten Kaninchenstall, gluck-gluck: Man musste sich zwingen, unter Opa Peschkas Sense so viele Schlucke Wasser zu trinken, wie man alt war, das ging noch, denn es waren damals nur sechs oder sieben, es gab Steigerungen, sechsundvierzig Schlucke für Tante Beatrix oder unschaffbare einundsechzig Schlucke Todesgefahr, Oma Peschka. War der Bauch zu voll, konnte man aufgeben, indem man laut und mit möglichst russischer Betonung das Codewort Kor-sa-kow schrie, dann folgten Varianten: einen Apfel an der Schnittseite der Sense in kleine Stücke schlitzen, eines der Stückchen in Sand paniert essen, in fünf Sekunden einmal um das Haus rennen, fünf Klimmzüge an der Schaukelstange machen, unter der Sense ein letztes Gebet sprechen und weitere Spiele, deren lustvoller Mittelpunkt immer die rostige Sense war, bis sie von der Schubkarre abgelöst wurde, die sich angeblich über Nacht mit Regenwasser aus Tschernobyl gefüllt hatte und deren unheimliche Anziehungskraft nur durch Tante Beatrix’ Erscheinen auf dem Balkon oder Oma Peschkas Auftritt mit Wäschekorb, Leine und Klammern im Garten gebrochen werden konnte. Manchmal gesellte sich Hendryk zu ihnen, nicht viel älter als sie, er lebte mit seiner Mutter in dem einzigen Wohnblock Blauenklingens schräg gegenüber, am Ende der Forststraße. Mit dem grünen Lkw, der, auf einer eigens gemieteten Abstellfläche geparkt, die Anwesenheit seines Vaters an den Wochenenden anzeigte, schienen Hendryks Ausbrüche zusammenzuhängen, einmal versuchte er den Wohnblock anzuzünden, indem er stundenlang vergeblich ein Feuerzeug an den Außenputz hielt. Pax und Leni ließen ihn nie mitspielen, wenn der Lkw auf dem Parkplatz stand, weil Hendryk dann unberechenbar war, jedenfalls nicht bereit, sich an die strengen Regeln ihres Spiels zu halten. Wir sollen doch nicht mehr Kor-sa-kow schreien, wies ihn Leni zurecht, weil das Wort unangenehm für Oma ist. Hendryk murmelte eine Entschuldigung, im Grunde wusste keiner von ihnen, was das Wort überhaupt bedeuten sollte, aber jeder kannte die Geschichte dazu, dass der alte Peschka nach einer Feier in eine Baugrube gefallen war, und hinterher war er nicht mehr ganz richtig im Kopf gewesen. Lenis Oma hatte ihn vierundzwanzig Stunden am Tag betreuen müssen, keine Sekunde hatte sie mehr für sich gehabt, und trotzdem war es Opa Peschka gelungen, immer wieder auszubrechen, um sich bei den Nachbarn in den Garten zu stellen und bei jedem Wetter stundenlang in den Apfelbaum zu starren.
Mein Vater sagt, deine Oma hat den Alten mit Absicht zu Weihnachten draußen erfrieren lassen, Hendryk sah Leni herausfordernd an. Sei doch still, Idiot, Pax schubste ihn, sodass er hintenüber zwischen die Strohballen fiel. A-B-C, Lenis Opa liegt tot im Schnee, wiederholte Hendryk kichernd, klopfte den Staub von seinem Pullover ab und steckte Pax eine Handvoll Stroh in den Kragen. Dann versuchte er die Kaninchen zu befreien, bis Pax und Leni ihn endlich gemeinsam überwältigen konnten.
OMA PESCHKA wohnte im Erdgeschoss, darüber Döberleins, ein kinderloses Lehrerehepaar, und gegenüber Tante Beatrix mit Pax, ganz oben wechselten die Mieter häufig. Als Pax in die Grundschule ging, lebte der Bärtige mit seiner Freundin zwischen den Dachschrägen, sein Motorrad stand im Hof, eine schwere Straßenmaschine, bordeaux-metallic lackiert. Seine Freundin war zwar selten zu sehen, Pax aber nahm sie ständig wahr, entweder über sich, ihre Absätze auf dem Parkett oder den Fliesen im Bad, oder vor sich, ihr Haarspray im Treppenhaus, immer öfter auch nachts, wenn sie den Bärtigen lautstark aus der Wohnung warf. Von diesen flüchtigen Begegnungen mit der Nachbarin blieben Pax nur schemenhafte Bilder, ihre Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, der schräg am Hinterkopf saß, die dunkel schattierten Augenlider, lange Wimpern, ihre dünnen roten Lippen, die zierliche Figur und die wenig zarte Stimme, die ins nächtliche Treppenhaus schrie. Wenn Pax davon aufwachte, stand Tante Beatrix schon – oder immer noch – in der Küche und räumte auf, willst du wissen, wie man Silber putzt? fragte sie, oder ob er eigentlich Ahnung davon hätte, wie man bügelte, wobei die Uhrzeit keinen Einfluss auf ihre immer gleichen Fragen im immer gleichen Tonfall zu nehmen schien, sie fragte, ohne zu bemerken, dass sie es Pax beim letzten Mal schon erklärt hatte und viele Male zuvor – sie stand in genau der gleichen Haltung an genau der gleichen Stelle am Bügelbrett oder am Herd, die Alufolie und den Topf vor sich, in dem sie das Silberbesteck kochen wollte, und diese absolute Gleichförmigkeit war etwas, das Pax an ihr mochte, weil alles vorhersehbar schien.
Er genoss die warme Feuchtigkeit, das Brodeln und Zischen, den Wäschegeruch, wenn der Wasserdampf aus dem Bügeleisen aufstieg, die Befriedigung, wenn sich noch die widerspenstigsten Stoffe unter dem heißen Bügeleisen aufgaben, mach nochmal, sagte Pax, Tante Beatrix löste den Knopf für den Wasserdampf aus, sie bügelte, während Pax eine kleine Kupferkanne bereithielt, um den Tank jedes Mal wieder aufzufüllen. Die beschlagenen Fenster blieben fest geschlossen, auch in den Sommernächten, wenn ihnen der Schweiß beim Bügeln