Pax. Eva Roman
Pax, weiterzufragen, wie sie das denn wissen konnte, bevorzugte dann aber die Vorstellung, dass er sich um die Eltern und den Bruder keine Sorgen zu machen brauchte, dass sie nicht kalt geworden waren wie Großmutter, dass man sie nicht hässlich geschminkt und wie aufgequollene Puppen präpariert hatte, sondern dass sie eben verschwunden waren, so wie Tante Beatrix es ihm damals erklärt hatte: In Afrika wollten sie Weihnachten feiern, weil es da nicht immer so scheußlich grau ist wie hier im Winter, und weil er damals noch so klein war, hatten sie nur seinen älteren Bruder mitgenommen, es ist ja auch nichts für ein Kleinkind, so eine Reise, und es war auch nicht so viel Platz in dem ausgemusterten Postbus. Die genauen Umstände ihres Verschwindens hatte Tante Beatrix vergessen, das war jedenfalls alles lange, bevor du denken konntest, und dass sie nicht wiederkommen würden, leider, sie kniff ihn etwas ungeschickt in die Schulter, bevor sie eine Kiefernnadel von der Marmorplatte pickte, manche Dinge konnte man eben nicht ändern, aber immerhin, man konnte zum Trost ein Eis kaufen, bei dieser Hitze.
Ob denn die Blumen auf dem Grab seiner anderen Großeltern kein Wasser brauchten?, fragte Pax auf dem Weg zu dem gemauerten Becken, in das sie die Kanne tauchten. Tante Beatrix schüttelte den Kopf, das ist irgendwo ganz weit weg, da gießt jemand anderes, sagte sie so bestimmt, dass er, statt sie weiter mit seinen Fragen zu belästigen und dabei vielleicht noch den Eindruck zu erwecken, ihre Anwesenheit allein genügte ihm nicht, lieber zustimmend nickte. Er hätte sie gerne auf dem Weg zurück an der Hand gehalten, er fand sie schön in ihrem Sommerkleid, er neigte seinen Kopf etwas, stellte sich vor, dass es tröstlich sein könnte, ihn an ihre Armbeuge zu schmiegen, sie aber machte keine Anstalten, und er wollte nicht aufdringlich sein, immerhin opferte sie sich genug für ihn auf, sie hatte sich gegen ein eigenes Leben entscheiden müssen, nur seinetwegen, weil sie ihrer Schwester vor der Reise nun mal versprochen hatte, immer gut für ihn zu sorgen, sie erzählte ihm das oft, und auch die Nachbarn oder Tante Beatrix’ Kollegen betonten es häufig, als wäre Pax ihr nicht auch so, von ganz alleine dankbar für jeden einzelnen Moment ihrer Lebenszeit, die sie ihm schenkte, und sie tat ihm leid, denn ihr Leben ohne ihn wäre vermutlich so irrsinnig viel schöner gewesen, nur sagte sie nicht etwa, ohne dich würde ich selbst eine Weltreise unternehmen, oder, ohne dich wäre ich Pilotin geworden, ohne dich hätte ich die Revolution angezettelt, oder, ohne dich würde ich längst zum Mond geflogen sein, sie sagte nur, ohne dich hätte ich mehr Geld im Portemonnaie, das war ihre einzige Idee von dem Leben ohne ihn, in dem sie vielleicht auch im Kaufmarkt gestanden hätte, so wie jetzt. Meist arbeitete sie vormittags an der Fleischtheke, bis auf Donnerstag, da war sie ganztags im Markt, und Pax besuchte sie manchmal, in der Hoffnung auf eine Scheibe Gelbwurst oder ein paar abgelaufene Süßigkeiten. Ach weißt du, fiel es Tante Beatrix am Eisentor mit den vergoldeten Zinnen ein, das vom Friedhof zurück auf die Straße führte, ich bezahle den Buschen lieber doch, warte hier, und er sah sie eiligen Schrittes zurück zum Opferstock in der Kapelle hasten.
Auf dem Heimweg wurde Pax schwindelig, sein Gesicht unter der Schildmütze brannte, leg dich mal auf dein Bett, sagte Tante Beatrix zuhause, bevor sie als Erstes zu ihrem Medizinschränkchen im Badezimmer lief und mit dem Fieberthermometer zurückkam. Sie schüttelte den Glaskolben und kontrollierte die Anzeige, hier, steck dir das mal unter die Achsel – wenn ich wiederkomme, lesen wir ab.
Siebenunddreißig, sagte Tante Beatrix, und ein halbes Grad dazu – ob er den Oberarm auch richtig angelegt hatte? Nochmal zur Kontrolle, sie schüttelte wieder. Diesmal presste Pax die Arme an den Körper und versuchte dabei, die Styroporplatten an der Decke zu zählen und danach die rautenförmigen Ornamente darin und endlich noch die Blättergirlanden innerhalb der einzelnen Rauten.
Endlich kam Tante Beatrix wieder zurück, sie trat ans Fenster und hielt das Thermometer ins Licht, leicht erhöht, und jetzt mach mal die Augen zu, hast du Kopfschmerzen? Ein bisschen, behauptete Pax, tatsächlich war ihm heiß, und der kühle Waschlappen, den sie ihm auf die Stirn legte, tat gut. Tante Beatrix zog ihm Hose und Socken aus, das muss ja alles längst in die Wäsche, sagte sie, und sorgsam umwickelte sie Pax’ Unterschenkel mit feuchten Handtüchern, und jetzt versuch ein bisschen zu schlafen, ich komme dann wieder und wechsle die Lappen. Ausgerechnet sonntags muss der krank werden, wo kein Mensch erreichbar ist, hörte er sie im Flur laut vor sich hinsprechen, draußen rauschte der Wind durch die Blätter, das nasskalte Gefühl an seinen Beinen erinnerte ihn an die Zeit, als er noch hinten bei Tante Beatrix auf dem Fahrrad mitgefahren war und seine Füße manchmal zwischen die Speichen des Hinterrades und den Fahrradrahmen geraten waren. Am schlimmsten war es auf dem Weg zum Freibad gewesen, dann hatte er den ganzen Rückweg geweint, nicht, wie Tante Beatrix angenommen hatte, wegen der schmerzenden Füße, sondern wegen des verpassten Sommernachmittags. Die kalten Wickel waren dann kein Trost. Wenn es aber kühler war, hatte er so manchen Unfall nur vorgetäuscht. Die Füße in die Speichen gehalten und die Augen fest geschlossen, bis sie dann gequetscht wurden und Tante Beatrix sich um ihn kümmern musste.
Mir ist schlecht, rief er jetzt laut, aber Tante Beatrix, die noch nicht aus der Tür war, kam zu spät mit ihrem Eimer. Dass er nächstes Mal früher was sagen sollte, da macht man was mit. Nachdem sie alles aufgewischt hatte, kam sie mit Cola, Salzstangen und Genesungswünschen von Oma Peschka zurück, aber nur schlückchenweise trinken, sagte sie, und als sie Pax’ reumütigen Blick bemerkte, schon gut jetzt, dass er eben in Zukunft einen Sonnenhut aufsetzen sollte, ich hab es ja gleich gesagt, aber du wolltest ja nicht hören.
VON IHREN KOLLEGINNEN im Markt erfuhr Pax nicht nur, das Tante Beatrix bedauernswert war, nach all dem, was sie mitgemacht hatte und seinetwegen noch immer mitmachen musste, sondern darüber hinaus, dass es in Blauenklingen eine Menge weiterer, weniger bedauernswerter Menschen gab, Menschen, die anders waren als Tante Beatrix und Pax, als Herr und Frau Hämmerle, Frau Lubinski und die anderen Kollegen aus dem Markt – und deren Andersartigkeit sich zum Beispiel an den Lebensmitteln ablesen ließ, die sie im Kaufmarkt auf das Band legten. Tante Beatrix und ihre Kolleginnen waren Expertinnen in der Beurteilung des Einkaufsverhaltens der anderen, sicherheitshalber wechselten Pax und Tante Beatrix die Straßenseite, wenn die Mohammedaner, wie Tante Beatrix die Gastarbeiter nannte, in Horden ankamen, um irrsinnige Mengen einzukaufen, als müssten sie verhungern. Sie wohnten in den alten Häusern im Tal, und es war besser, zu diesen Leuten, die immer alle ihre Wäsche sonntags in den Balkon hängten, genügend Abstand zu halten. Vielleicht fand an dem ersten frühherbstlichen Samstagmorgen, an dem der Wind ungnädig auffrischte, als wolle er den über die Felder ankommenden Demonstrationszug sprengen, daher einfach nur eine Kundgebung gegen alles statt, was die Blauenklingener, oder einige von ihnen, nicht kannten und vor dem sie also unbestimmte Angst hatten, wie Pax vor den lebenden Toten. Tante Beatrix jedenfalls konnte ihm den Inhalt der Veranstaltung nicht genau erklären – wir gehen halt da mit, sagte sie leidenschaftslos, und es schien fast gleichgültig zu sein, welches Transparent, welches Banner man ihr in die Hand drückte, welches Schild sie den wenigen Ausländern, den imaginären Kindsmörderinnen und denen vom anderen Ufer entgegenhielt – sie putzte Pax’ Schuhe an diesem Tag besonders, und sie putzte ihre Schuhe, sie zupfte Fusseln und Haare, damit sie unter den Demonstranten nicht unangenehm auffielen, besser sie hielten sich nur am Rand. Nach kurzer Zeit war es Tante Beatrix kalt, ihr Rücken schmerzte, und sie tat Pax leid, genug demonstriert für heute, Max, sagte sie und nahm ihm das schwere Kreuz für einen abgetriebenen Mehrzeller aus der Hand, das er stolz vor sich hergetragen hatte, es war ihr unwohl dabei, ein Kreuz zu tragen, oder vielmehr die Verantwortung dafür, dass Pax eines trug zu einem außerkatholischen Anlass. Es gehörte sich nicht, die ganze Demonstration gehörte sich im Grunde nicht. Fronleichnam oder Erntedank, das waren gewohnte Anlässe, dem Kreuz zu folgen, jetzt aber gab sie irgendeinem Nachbarn das schwere Ding, wie sie es nannte, der es zusätzlich zu seinem Banner schleppen musste. Auf Höhe des Bentheimer Weihers zog sie Pax unvermittelt in einen Feldweg, wir sparen uns die Abschlusskundgebung am Marktplatz, sagte sie, weil sie das alles schon mal gehört hätten.
Der kühle Wind riss Löcher in die Kronen der Bäume, die knarzend aneinanderrieben. Mit einem Mal begann Pax zu weinen, Tante Beatrix zückte ein Taschentuch, was denn los sei, fragte sie – dass er im Radio eine Reportage gehört hatte, sagte Pax leise, um tragische Künstlertode war es gegangen, ein Schriftsteller wurde während eines Gewitters von genau so einem Ast erschlagen, Pax deutete nach oben – und ein Dichter fiel beim Schlittschuhlaufen in ein Loch für Wasservögel, und ein Schauspieler aus Hollywood ist an Aids gestorben, vielleicht sterbe