Pax. Eva Roman

Pax - Eva Roman


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Armbanduhr, eine wie Pax sie sich lange schon wünschte. Vielleicht war der Bärtige tot. Pax kniete sich neben ihn und nahm ihm die Uhr ab, darauf bedacht, dass der Nachbar nicht in einer Art Todeskampf nach ihm greifen und ihn festhalten konnte, er beeilte sich, mit seiner Beute schnell wieder hinein und hinter den Türspion zu kommen.

      Das Licht hielt sechzig Sekunden, und kurz bevor es erlosch, sah Pax Mutter, Vater und seinen Bruder John im Treppenhaus auftauchen. Nicht so, als wollten sie zu Tante Beatrix herein, sondern völlig unbewegt, der Vater mit großer Sonnenbrille in einem buntbestickten weiten Hemd der Mutter zugewandt, wie Schaufensterpuppen, die man vor Jahren im Abstellraum untergebracht und nun wieder herausgetragen hatte, und die umzukleiden noch keine Zeit gewesen war. Seine Mutter hatte lange, dunkelblonde Haare zu goldbraunen Augen, sein Vater war dunkler, kurzhaarig mit Augen wie Baumharz. Oder sein Vater hatte lange Haare, hell, um stechend grüne Augen, seine Mutter trug mal Zöpfe, hennafarbene oder schwarze, mal lockiges, mal glattes Haar über den graublauen Augen. Sein älterer Bruder aber war das Kind, das mit ihren Zöpfen spielte, wer und wo immer sie waren.

      Der Bärtige auf dem Boden regte sich nicht und schien sie auch nicht im Geringsten zu interessieren, jetzt wechselte das Licht hinter dem Türspion, als drehte jemand beliebig an den Belichtungseinstellungen eines Fotoapparates, mal traten die Figuren hell hervor, dann wieder der sie umgebende Hintergrund, das Treppenhaus mit der Tür gegenüber, darauf das Türschild aus gebranntem Salzteig, Döberlein – Mutter und Vater erstarrten, einzig sein Bruder bewegte sich, ein gelbes Metallfahrzeug in Händen, Mehl hatte er über die steinernen Treppenstufen geschüttet, Schnee, durch den sich mehrere Spielautos kämpften und Spuren hinterließen. Es wurde schwarz hinter dem Türspion, das Quietschen der Räder verstummte, er hörte Mutter und Vater darüber diskutieren, ob die Spuren, die John gezogen hatte, gelungen seien, ob sie als Kunst gelten konnten, vorsichtig öffnete Pax die Tür, die Finger seiner linken Hand tasteten über die Oberkante des Streifens aus gelbgrüner Schutzfarbe, führten ihn durch das Dunkel des Treppenhauses an dem Liegenden vorbei. Er drückte die Klingel, dreimal kurz, ein Zeichen ohne Vereinbarung, das vielleicht bedeuten konnte, dass etwas Besonderes vorgefallen war, eins-zwei-drei, er beeilte sich, zurück hinter den Spion zu kommen, sah schließlich die Tür gegenüber aufgehen, Herr Döberlein im Gegenlicht, im Pyjama mit verquollenen Augen, dahinter seine Frau, auf dem Boden den Bärtigen, das Licht ging aus und wieder an und wieder aus und an, und irgendwann waren da Sanitäter zu sehen. Tante Beatrix schnarchte leise, Pax verabscheute es, wenn ihr Schnarchen ihm ihren Rhythmus aufzwang, und er mochte es gern, weil er so in der ganzen Wohnung wusste, dass sie da war. Er spielte Stoppen mit seiner neuen Digitaluhr, drückte die Knöpfe, so schnell er konnte, um möglichst wenig Zeit auf dem Display zu haben, Start-Stop-Ergebnis, Start-Stop-Ergebnis, wieder und wieder, und jedes Mal gab die Uhr dabei drei Pieptöne von sich, Tante Beatrix würde aufwachen wie immer, sie würde sagen, da bin ich wohl einfach auf dem Sofa eingeschlafen, Pax wollte gerne, dass sie es bemerkte, dass sie darauf aufmerksam wurde, dass er die Digitaluhr gestohlen hatte, er hielt die Uhr nah an ihr Ohr, Start-Stop, zwei Pieptöne lang die Vorstellung, wie es sein könnte, sich zu ihr zu legen – er traute sich nicht, Start-Stop-Ergebnis, Start-Stop – Tante Beatrix erschrak –, sie erschrak immer, wenn sie aufwachte, was war so außergewöhnlich daran, jeden Tag auf dem gleichen Sofa aufzuwachen, auf dem ihr Stunden zuvor die Augen zugefallen waren, da bin ich wohl einfach auf dem Sofa eingeschlafen, sagte Tante Beatrix, ignorierte die Digitaluhr, stand auf und verschwand im Badezimmer.

      TROTZ ALLEDEM – ich glaube an mein Vaterland, das aus der tiefsten Not noch stets den Weg nach oben fand, da kniete der steinerne Soldat, gestiftet vom Kriegerverein Blauenklingen, den Stahlhelm auf den Knien, grün vom Moos. Pax hatte Tante Beatrix an diesem Augusttag auf den Friedhof begleitet, bleib mal stehen, sie drückte ihm ihre flache Hand an die Stirn, du glühst ja, sagte sie, und deutete auf die Schildmütze in seiner Hand, warum er die nicht aufsetzen wollte? Dass er sie doch eben erst in der Frühmesse hatte abnehmen sollen, und warum überhaupt die Männer in der Kirche die Kopfbedeckungen auszogen und die Frauen nicht? Tante Beatrix zuckte mit den Schultern, was du für Fragen stellst, und das schon um die Uhrzeit, sie fächelte sich etwas Luft zu, bevor sie noch einmal die Temperatur seiner Stirn überprüfte, die Schuhe bleiben trotzdem an, Max, sie sah sich um, aber niemand, nur die Soldatenfigur konnte beobachten, dass ihr Neffe barfuß auf dem im Schatten noch feuchten Kies stand. Tote tragen auch keine Schuhe, sagte Pax, doch, sagte Tante Beatrix, man legt sie mit Schuhen in den Sarg, und dass er das doch kürzlich erst bei der Großmutter gesehen hatte im Leichenschauhaus. Du rennst doch jedes Mal mit Leni hin. Pax nickte, stimmt, sagte er, um nicht zugeben zu müssen, dass er die Augen immer fest zugepresst hielt, sobald sie sich dem Schaufenster näherten, hinter dem die Leichen aufgebahrt waren. Angsthase, sagte er zu Leni, wenn er sie aufgeregt kichern hörte, bevor sie davonliefen.

      Ein paar Kieselsteine waren an seinen Sohlen kleben geblieben und piksten ihn jetzt, während Tante Beatrix und er die Kapelle ansteuerten, im Frühjahr hatten sie für die Toten Narzissen und Tulpen in Oma Peschkas Garten gepflückt, jetzt, im Sommer, banden die Frauen aus dem Ort Kräuterbuschen, die zu Maria Himmelfahrt geweiht wurden und hinterher in der Kapelle gegen eine Spende zum Mitnehmen auslagen. In die Mitte der Sträuße gehörte eine Wetterkerze, gegen Gewitter, um sie herum Getreide und Kräuter, dann farbige Blumen, ganz außen einige Haselnussblätter. Weißt du warum?, fragte Tante Beatrix. Weil die Mutter Gottes bei einem Gewitter mit dem Jesuskind unter einem Haselnussstrauch Schutz fand, sagte Pax. Ach du weißt ja doch schon alles, Tante Beatrix tastete in ihrer Handtasche nach dem Portemonnaie, du hast deine Kappe ja noch immer nicht auf, wiederholte sie. Gleich, sagte Pax, weil er gerade dabei war, die lilafarbenen Blumen auf ihrem Kleid zu zählen, er begann mit den Blüten auf ihrem Gürtel, zählte weiter die Rippen entlang, bis zu ihrer linken Brust. Die runden Male auf ihrem nackten Oberarm fielen ihm auf, sie waren blasser als die sie umgebende Haut, diese hässlichen Impfnarben, sagte Tante Beatrix, als sie seinen Blick bemerkt hatte, sei bloß froh, dass man das heute nicht mehr so macht. Hat sicher wehgetan, sagte Pax, Tante Beatrix nickte, und jetzt Schluss und auf mit der Mütze, los, mir zuliebe. Aber sie gefällt mir nicht mehr so gut, sagte Pax und vergaß dabei das Ergebnis seiner Zählung, sie sieht nach Kleinkind aus. Ob er lieber einen Sonnenstich riskieren wollte? Wieder fasste sie an seine Stirn, heute ist Sonntag, da hat die Apotheke zu und dann kann dir keiner mehr helfen. Tante Beatrix wartete, bis Pax endlich gehorchte, bevor sie in ihr Portemonnaie sah, ach Mist, nur ein Fünfer, das ist mir doch zu viel, wo die Frauen die Sträuße sowieso bloß in ihren Gärten pflücken, wir bezahlen nächstes Mal, komm jetzt. Zur Sicherheit drehte Tante Beatrix sich noch einmal um, bevor sie nach einem besonders schönen Exemplar griff, bald nehmen wir sowieso Herbstblumen aus dem Garten, Astern oder Chrysanthemen oder die orangen Lampionblumen.

      Pax legte den halben Strauß für Opa an den Gedenkstein mit der Inschrift Den lebenden Toten, das sagt man so, wie in dem Gedicht neulich im Radio, wie ging das nochmal, in der Nacht und dann ist es auch wieder gleichzeitig Tag und du weißt schon, fragte Tante Beatrix – dunkel wars, der Mond schien helle, sagte Pax, ja, genau, Tante Beatrix nickte. Die Wetterkerze blieb bei den Gefallenen, die Haselnuss kam mit der anderen Hälfte des Straußes zu Oma, damit hatten sie ihr Bestes getan gegen die Gewitter. Am Grab öffnete Pax gleich das Weihwasserbecken, das wie eine übergroße Zuckerdose mit einem Deckel vor Verunreinigungen geschützt war, vor den Vögeln, die es bei der Hitze als Bad missbrauchen würden. Eine abgeschnittene Flaschenbürste diente dazu, das Weihwasser zu sprengen, im Winter fror sie ins Eis, und wenn es wärmer wurde, konnte man mit ihr einen gefrorenen Würfel aus dem Becken ziehen. Jetzt sprengte Pax großzügig die graue Marmorplatte, die schon in der Sonne lag, er sah den Tropfen zu, die wie von Zauberhand über den verwitterten Namen der Urgroßeltern und über Großmutters glänzenden Goldbuchstaben verdunsteten. Wer kein Grab hat, der ist nicht sicher tot, sagte Pax, und weniger als eine Feststellung waren seine Worte eine Frage, die Tante Beatrix mit nichts weiter als einem tiefen Atemzug quittierte. Stell dich doch lieber in den Schatten, sagte sie jetzt, du bist ja schon ganz rot im Gesicht. Immer hielten sie am Grab einen Moment inne, nur einige Sekunden, eben genau so lange, bis Tante Beatrix es nicht mehr aushielt und mit Bestimmtheit sagte, da wo Großmutter jetzt ist, da hat sie es gut, noch bevor die Wirkung der Stille eintreten konnte und bevor sie ins Nachdenken gerieten, fuhr sie fort, jetzt wird gegossen, oder, so ein Glück, dass wir nicht gießen müssen, ob wir heute noch gießen müssen, oder wir gießen


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