Pax. Eva Roman

Pax - Eva Roman


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nach einem Einschlag sofort tot? Wenn Tante Beatrix und er sich bei Gewitter an verschiedenen Orten aufhielten, bekam er Panik, und er schob beim Spielen mit seiner Freundin Leni irgendeine Ausrede vor, um schnell nach oben zu rennen, oder quer durch den Ort in den Kaufmarkt, im strömenden Regen, nur um bei Tante Beatrix zu sein. Ach, du besuchst mich, sagte sie dann, das ist aber nett, und sie spießte die oberste Scheibe Schinken auf, die schon etwas vergraut war, legte sie zur Seite und hielt Pax die Scheibe darunter mit ihrer zweizinkigen Gabel über die Fleischtheke.

      Wenn es einmal länger regnete, war Pax sich sicher, dies waren die vierzig Tage Regen vor dem Weltuntergang, der ihm abends beim Einschlafen schwere Sorgen machte. Wenn nun die Welt unterging und Tante Beatrix in den Himmel kam und er in die Hölle oder umgekehrt oder wenn er sie in den Wirren des Jüngsten Tages, die der Pfarrer ausführlich beschrieben hatte, irgendwo zwischen den Heuschrecken, die die Menschen mit eisernen Masken überfallen würden, einfach verlor? Er versuchte, wann immer es ging, sich vorsorglich in ihrer Nähe aufzuhalten, und so konnte er nicht anders, als dem Tag seiner Einschulung mit größter Sorge entgegenzublicken. Auf einem im Garten vor den herbstlichen Beeten aufgenommenen Foto hielt er seine Schultüte so angestrengt umklammert, als wäre sie bleigefüllt. Von diesem Tag an blieb er hin- und hergerissen, zwischen der Freude über die Stunden, die nur ihm gehörten, und seiner Angst, nicht zu wissen, was Tante Beatrix anfing mit sich, wenn sie krank war und nicht arbeiten gehen konnte, und er sorgte sich auch, wenn sie zur Arbeit ging – der Kaufmarkt konnte überfallen werden und Tante Beatrix entführt, sie konnte in einen Unfall verwickelt werden, und man würde sie in ein Krankenhaus transportieren, das außerhalb von Blauenklingen lag und dessen Namen er nicht kannte.

      Immer dienstags brachte Tante Beatrix Pommes frites aus dem fahrbaren Stand vor dem Kaufmarkt mit, auf die Pax sich besonders freute. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, weil er schon Hunger hatte, wenn er in der letzten Schulstunde über dem Mathematik-Arbeitsbuch saß, Äpfel und Birnen bündelte, sie mit Bleistift umkreiste, um zu verstehen, was Schnittmengen bedeuten sollten. Mit ihrer den knusprigen Duft der Pommes frites durchdringenden Stimme sagte Frau Vetter zu Pax und einigen Mitschülern in den vom Schulgong ausgelösten hektischen Aufbruch hinein: Ihr nicht, ihr bleibt noch. Tante Beatrix wartete sicher schon, sie würde sich Sorgen machen, nicht wissen, was sie mit den Pommes frites anfangen sollte, sie würden schwarz werden, sie wäre traurig, sie wäre überfordert von ihm und mit ihm, sie würde vielleicht überlegen, ihn doch wegzugeben, und erst versuchte Pax noch, sich zu konzentrieren, bald aber hörte er nichts mehr, in dem weich und trübe gewordenen Schauspiel um ihn herum versinkend, in das die Vetter wabernde Laute sandte, bis endlich, nach mindestens einer halben Stunde, nach einer letzten Runde durch die licht gewordenen Reihen, einem letzten Blick in die Hefte wieder Worte aus dem Gemurmel drangen, ihr könnt nun gehen, sie sah Pax an, die anderen, du nicht. Die anderen hatten den Raum noch nicht verlassen, da begann er schon zu weinen. Etwas zog seinen Hals zu, und er bekam kaum Luft, Pax spürte, wie seine Wangen feucht wurden, wie sich dieses Etwas nach oben von hinten über den Gaumen in seine Nase zog, sie zusetzte und ihm dabei die Luft zum Atmen nahm, Frau Vetter kam an seinen Tisch, nachdem der letzte Schüler die Tür hinter sich geschlossen hatte, er sah nur ihre braunen gewellten Haare und darunter den gelben Lidschatten zu feindlichen Linien verschwimmen, von dir weiß ich, kann man viel mehr erwarten, sagte sie, schlag noch einmal das Heft auf, Pax konnte nicht mehr sprechen, nurmehr in erbärmlichen Schluchzern betteln, willst du Mathematik verstehen oder zu deiner Mama, die Lehrerin fragte es verächtlich, und Pax antwortete ehrlich, weil er nicht anders konnte, und damit die Lehrerin sich nicht schlecht fühlte wegen ihres Fauxpas, sagte er auch Mama und nicht Tante Beatrix, und er war noch nicht am Ende, da schleuderte sie sein in einen roten Plastikumschlag eingeschlagenes Heft wütend auf die Bank, es rutschte weiter über die Tischkante auf den Boden. Unter dem Tisch sah ihm sein Bruder entgegen, die Haare von der Sonne ausgeblichen wie sein T-Shirt, löcherig an einer Seite, er hielt Pax’ Namensschildchen, das aus dem Umschlag des Heftes gerutscht war, in der Hand, gab es ihm lächelnd zurück, Pax konnte sich selbst hören, wie er sich bei John bedankte, und eben als er noch dachte, wie gut es war, einen großen Bruder zu haben, der zu ihm hielt, da nahm er nichts mehr weiter wahr als Frau Vetters Füße, die vor ihm aus rostbraunen Halbschuhen quollen, und ohne sie noch einmal anzusehen, rannte er mit der offenen Schultasche an ihr vorbei nach draußen, weiter, den ganzen Weg bis nach Hause, wo er verschwitzt und atemlos ankam.

      Tante Beatrix war die Verspätung noch gar nicht so richtig aufgefallen, da bist du ja, sagte sie, eben dabei, die weichen, kalten Pommes frites aus dem Styroporbehälter auf ein Backblech zu kippen. Im Radio kündigte ein Signalton die Nachrichten an, Pax wechselte den Sender, damit Tante Beatrix erst gar nicht belästigt wurde, erst gar nicht dem Sprecher zurufen musste, dass sie doch mal was Schönes spielen sollten, anstatt ihrer ewigen Nachrichten vom Weltuntergang. Sicher war Frau Vetter jetzt sauer, so gerne hätte er ihr zuliebe die Mengenlehre verstanden, aber er fürchtete sich von da an vor ihr, und jederzeit war er darauf gefasst, dass sie ihn wieder festhalten oder sogar einsperren konnte. Er hielt einen Sicherheitsabstand zu der Lehrerin und vermied in den nächsten Tagen jeden Augenkontakt, sicher befand er sich ihrer Ansicht nach nun innerhalb der Schnittmenge zweier Kreise, dem der Jungs und dem der Mamakinder, und zwischen diesen Kreisen war Pax gefangen und schämte sich noch Wochen später, als Frau Vetter sich einen Ideenaustausch mit Tante Beatrix über sein Verhalten wünschte. Er könnte vielleicht eine Klasse überspringen, sagte sie beharrlich, er langweilt sich womöglich, er liest Erwachsenenliteratur, Zeitschriften, wo hat er die her? Tante Beatrix tat nur so, als würde sie zuhören, vielleicht war sie in Gedanken in einem ihrer Hefte, jedenfalls irgendwo anders, Pax konnte es an ihren Augen sehen, an denen der Lehrerin, als schüttelte sie den Kopf über Tante Beatrix, genau wie der Kinderarzt, der sie in Pax’ Beisein wegen der falschen Verabreichung eines Medikamentes zurechtgewiesen hatte. Es war nicht so, dass Tante Beatrix sich der Kritik, welcher Art auch immer, offen widersetzte, sie nahm keine Stellung dazu, sie saß da, unbelehrbar und gleichsam reumütig wie ein Kind, das mit den Sätzen, die im Raum standen, im Grunde nichts anfangen konnte. Niemandem außer Pax schien aufzufallen, dass ihr das Leben zu viel abverlangte, und so nahm er sich vor, dafür zu sorgen, dass sie künftig von allem Unangenehmen verschont blieb, keiner sollte sie mehr herablassend behandeln, sie hatte es nicht leicht gehabt, wie oft sie krank gewesen war in seinem Alter, die wird mal nicht alt, hatte der Arzt zu der kleinen Beatrix gesagt, aber die Großmutter hatte sie nicht aufgeben wollen. Da hat sie sich doch auch mal um mich bemüht, das muss man ihr lassen, immerzu musste ich ihre scheußlichen Hausmittel ertragen, die Wadenwickel, den Kaffee mit Zitrone und das Ringelblumenschmalz in der Nase, und eingepackt daliegen, mitten im Sommer, wie langweilig das war und wie einsam, sie erzählte es ihm oft und so ausdauernd, bis er ganz stumm war vor Ergriffenheit. Nichts war einfach für sie gewesen, wie für dich, Max, sagte sie, du hast es gut.

      DÖBERLEINS VON GEGENÜBER wussten, dass Tante Beatrix jede Art von nachbarschaftlichem Kontakt, der über die Leihgabe von Leseheften, Kaffeefiltern oder Eiern hinausging, als potenzielle Bedrohung empfand. Trotzdem ließen sie sich in letzter Zeit nicht davon abhalten, sich um Pax zu bemühen, bis Tante Beatrix, nachdem er ihr erzählt hatte, dass Frau Döberlein ihre zwischen zwei helle Semmelhälften eingepressten Schaumküsse aus dem Kaufmarkt ungesund fand, feststellte, dass diese Leute, wie alle Lehrer, alles besser wüssten, ich gehe zu Herrn und Frau Siebengescheit, sagte Pax von nun an, um Tante Beatrix zu beruhigen, damit sie sich durch seine Besuche bei den Nachbarn nicht zurückgesetzt fühlte. Öfter schon war ihm aufgefallen, dass sie, wenn er zurückkam, allein im Halbdunkel auf dem Sofa saß, pass nur auf, sagte sie dann, vielleicht behalten sie dich gleich da. Darauf war Pax selbst noch nicht gekommen, aber nichts war einleuchtender, tatsächlich konnte Tante Beatrix ihn mit der bloßen Aussicht, man könne sie beide trennen, sofort gewinnen. Von nun an bog er in eine Seitenstraße, huschte hinter eine Mülltonne oder versteckte sich anderweitig, wann immer er Döberleins nur von Weitem sah. Er stellte sich vor, dass sie nach der Schule in einem Kleinbus unterwegs waren, wie der Hundefänger in einem seiner Kinderbücher, mit einem großen Kescher auf Beutezug, und als er einmal nur in letzter Sekunde noch hinter eine Hecke verschwinden konnte, war ihm, als hätten sie ihn bemerkt. Sie blieben stehen, sahen in seine Richtung, und bald darauf hielt Tante Beatrix, zusammen mit einigen Briefen, eine an Pax adressierte Karte in den Händen, Post von Herrn und Frau Siebengescheit, rief sie, und Pax setzte sich zu ihr auf das Sofa. Er gab sich Mühe, besonders holprig


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