Pax. Eva Roman

Pax - Eva Roman


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Beatrix misstrauisch, du kannst doch noch gar nicht richtig lesen. Ich will nicht sterben, Pax sah nach unten, überwand seine ganze Scham, öffnete seine Hose und deutete auf eine Stelle, für die er zu seinem Unglück auch noch seine Unterwäsche beiseite schieben musste, hier, ich hab mich infiziert, er zitterte, Tante Beatrix sah genau hin, das ist eine Zecke, verächtlich schnaubend zog sie den Holzbock mithilfe eines Taschentuches heraus, pfui Teufel, die setzen wir jetzt auf einen Stein.

      Pax zog schnell seine Hose hoch, während Tante Beatrix selbst verschämt zur Seite sah, wobei sie nach dem Feuerzeug kramte, mit dem Pax am Friedhof immer das ewige Licht anzünden durfte. Sie hielt die Flamme an die Zecke, die anschwoll, bis sie mit einem leisen Ploppen platzte und sich dann auf die Hälfte ihrer Größe zusammenzog. Weil die Künstler eben in Gedanken bei ihren Kunstwerken sind und nicht auf die Bäume achten oder den Straßenverkehr, darum passiert so was, sagte Tante Beatrix, aber nicht hier. Und solche Krankheiten, die gibts hier auch nicht, das gibts nur dort, wo so viele ungesunde Männer sind und so viel Müll, da konnte man wieder sehen, was die anrichteten im Radio, weil sie ständig so einen Mist senden, komm jetzt, nächstes Mal schaltest du einfach um und außerdem sollst du ein Unterhemd tragen – der Sommer ist vorbei.

      Glaubst du, ich habe sicher nicht A.I.D.S?, fragte Pax noch einmal, Schluss jetzt, sagte Tante Beatrix, wehrte jegliche von Pax vorgebrachten Bedenken wegen der ermordeten Zecke energisch ab und legte sich zuhause gleich auf das Sofa unter ihre dicke Kamelhaardecke, und Pax, von der Tatsache, dass Tante Beatrix sofort einschlafen konnte, beruhigt, schlich ins Treppenhaus und warf die Digitaluhr des Bärtigen heimlich in dessen Briefkasten zurück.

      Etwa zu dieser Zeit hatte Pax damit begonnen, die Sendungen, die er im Fernsehen sah, mit seinen Spielfiguren nachzuspielen, meistens waren es bittere Kämpfe, Schusswechsel zwischen guten Indianern und bösen Cowboys, in die sich Calimero, Lucky Luke oder die Schlümpfe einmischten, bis die Hälfte der Figuren tot auf dem Holzfußboden lag, während die Überlebenden sich, je nach Wetterlage, draußen im Halbschatten mit Lenis Barbiepuppen vergnügten. Ken und He-Man, Petra und Barbie probten die Orgie in sämtlichen Konstellationen, sobald keiner der Erwachsenen in Hörweite war, jederzeit bereit, sich in Brautmode, Safari- oder Tennisoutfits zu hüllen, falls sich doch Schritte näherten. Einmal bastelte Pax aus dem Inhalt von Tante Beatrix’ Locher und einem Bindfaden eine Kette, er knotete sie an den Rückspiegel zwischen den Vordersitzen von Lenis Playmobil-Campingbus, bevor er He-Man und Skeletor hineinsetzte. Ob sie mitfahren durfte, fragte Leni und stellte ihre Astronautin zusammen mit einem der gelbbraunen Affen als Anhalter auf die Straße zwischen die Plastikpalmen, später war sie für den Rest des Tages beleidigt, weil Pax so achtlos an ihnen vorübergefahren war.

      Manchmal studierten die beiden kleinere Theaterstücke ein, in denen sie sich selbst mit den Figuren aus Oma Peschkas Puppentheater zu einem bunten Ensemble vermischten, dazu spielten sie aufgenommene Musik und Dialoge auf dem Kassettenrekorder ab. Pax und Leni lachten über die Fremdheit der eigenen Stimmen, während Tante Beatrix eine Leidenschaft für Romane entwickelte, in denen das Leben so beschrieben war, wie sie es sich wünschte, sorglos oder höchstens von Sorgen getrübt, die sich im Laufe der Handlung auflösten zu absoluter Unbeschwertheit in schöner Landschaft. Nach und nach passte sich ihr Wortschatz der gelesenen Erbauungsliteratur an, als könnte sie allein durch ihren Sprachgebrauch alles, das sich außerhalb einer für sie ohne größere innere Nöte zu bewältigenden Gefühlsamplitude befand, von sich fernhalten, so weit, bis es sie im Grunde gar nicht mehr betraf – es gab keine Krankheiten mehr, nur noch kleine Malaisen, ihre ehemalige Kollegin Frau Gerstner aus dem Kaufmarkt zum Beispiel litt nicht etwa an Brustkrebs, sondern an Körnchen in der Brust, es gab in der Zeitung keine Mörder und Vergewaltiger mehr, sondern nur noch solche, die sich schon ein bisschen komisch benahmen, und ihre Schwester war inzwischen nicht einmal mehr in Afrika verschwunden, es war, als habe Pax’ Ursprungsfamilie im Grunde gar nie existiert. Adjektive wie schön und großartig wandelten sich zu ganz nett, während schlecht und schrecklich einfach gar nicht mehr benutzt wurden – etwas konnte, im allerschlimmsten Fall, schon ein bisschen traurig sein.

      Wann immer Pax sie damals sah, hielt Tante Beatrix einen dieser Romane, die sie auch mit Oma Peschka tauschte, in der Hand. Einmal, als Leni und Pax nach wochenlangen Proben ein neues Stück vorführten, saß Tante Beatrix im Zuschauerraum auf einem Küchenstuhl und las nicht heimlich, sondern unverhohlen die Geschichte der Magd mit den haselnussbraunen Augen, und auch Oma Peschkas Aufmerksamkeit ließ zu wünschen übrig, noch während der Darbietung stand sie auf, um so laut mit dem Schneebesen in ihrem Topf zu schlagen, dass Leni aufsprang, wütend die Musik ausschaltete und hinausstürmte.

      Pax folgte ihr in das gemeinsame Versteck unter der alten Tanne, eine grüne, weiche, nach Harz duftende Höhle, in der sie auf weichen Nadeln saßen. Nimm es nicht so schwer, sagte er, wichtig ist, was wir erfunden haben, die schönen Kostüme, die Geschichte, die Musik. Aber ich möchte, dass Oma zusieht, sagte Leni.

      Zusammen schlichen sie in den Keller hinunter, in die Waschküche, um die Waschmitteltonne hervorzuholen, und zurück in die Wohnung, wo sie so viel wie möglich von dem weißen Pulver in die große Glasröhre füllten, die Oma Peschka in einer Ecke des Wohnzimmers stehen hatte, und die, wenn man sie einsteckte, blubberte, wobei ein Licht anging und kleine Plastikfische und Seepferdchen von den Blasen herumgewirbelt wurden – eine Weile noch beobachteten Pax und Leni die Luftblasen, wie sie sich schwer durch den Brei aus altem Wasser und Waschpulver kämpften, bevor sie ihr Stück in der Küche aufgeregt zu Ende spielten, du musst jetzt klatschen, sagte Leni am Ende der Vorführung zu Oma Peschka, die gerade dabei war, den Hackbraten in den Ofen zu schieben. Ob er mitessen wolle, fragte sie, und Pax schüttelte den Kopf und verschwand eilig im Flur, um sich die Schuhe anzuziehen, im Halbdunkel zitterte er die Schnürsenkel zwischen den Fingern zu einer losen Schleife. Auf dem Wohnzimmerboden verteilte sich der Schaum, als wäre eine Schneelawine im Raum niedergegangen.

      Der Umzugskarton war unter einem Kuhfell, das früher einmal als Bettvorleger oder Wandteppich gedient haben musste, vor Staub geschützt. Weil nicht wirklich geklärt war, ob es sich bei der abzusitzenden Strafe für das Schaumbad um Haus- oder Zimmerarrest handelte, war Pax Tante Beatrix vorsichtig in den Keller gefolgt, Gegenstände aus der Wohngemeinschaft seiner Mutter sollten sich in dem Karton befinden. Stimmt das, fragte Pax, sind das wirklich ihre Sachen? Jetzt sei doch mal einen Moment still, Tante Beatrix kämpfte mit der Waschmaschine. Außer einem Flakon mit Parfum befand sich noch ein Tauchsieder in einem gemusterten Mäppchen in dem Karton und ein gusseiserner französischer Topf, lass die Bowleschale bloß, wo sie ist, sagte Tante Beatrix, das schwere Ding, und dass er schon genug angerichtet hätte, wofür man sich schämen musste. Er fand eine zerbrochene rote Porzellanhand, über deren Finger man Ringe stecken konnte, Eierbecher und ein paar Tassen, etwas Schmuck, Ketten mit Federn und goldenen Blättern, ist es wirklich Mutters Parfum? Das kann schon sein, sagte Tante Beatrix, wenn sie aber in diesem Tonfall sprach, bedeutete das meistens, dass eine Antwort gleichermaßen wahr oder falsch sein konnte und die Kiste jederzeit verschwunden. Vorsorglich steckte Pax die Flasche mit den Parfum ein. Auf dem Weg nach oben huschte er an Oma Peschkas Tür vorbei wie ein Schatten, ob es wirklich kein einziges Foto gab? Tante Beatrix schüttelte den Kopf, dass sie alle weggetan hatte, sagte sie, weil uns das nur traurig macht.

      TANTE BEATRIX wurde wieder krank, wahrscheinlich noch immer Nachwirkungen der Bronchitis, die der kalte Wind auf dem Umzug, wie sie die Demonstration im Nachhinein nannte, verursacht hatte. Ihr war oft kalt, und sie wurde leicht krank, Pax kümmerte sich dann um sie, saß bei ihr am Rand des Sofas, brachte ihr Bonbons, kochte Tee und versuchte, möglichst wenig zu beanspruchen und noch weniger zu verbrauchen, um den Haushalt nicht zusätzlich zu belasten. Diese Angst, Tante Beatrix könnte so schwer erkranken, dass sie ihn weggeben musste, sie könnte mit einem Mal doch lieber alleine leben wollen oder sich in seiner Abwesenheit aufgelöst haben, der Atomkrieg, für den sie in der Schule wöchentlich probten, sich unter ihren Bänken zu verkriechen, könnte vormittags ausbrechen und sie wäre nicht in seiner Nähe, Terroristen der RAF, deren Steckbriefe in der Post und an der Haltestelle hingen, könnten eine Bombe werfen, und er wäre nicht dabei und wüsste nicht, wo sie war. Nach jedem Friedhofsbesuch wurde die Angst schlimmer, Tante Beatrix starb, und Pax würde in ein Kinderheim kommen. Pax starb, und Tante Beatrix wäre


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