Ein Wintermahl (eBook). Hubert Mingarelli

Ein Wintermahl (eBook) - Hubert Mingarelli


Скачать книгу
worüber wir gesprochen hatten, ehe das Eisen erklungen war. Ich hatte ihm gesagt, dass ich damals gespart hatte, um mir eine Badewanne leisten zu können. Wir verwendeten dieses Wort oft: damals. Wir sagten es meist im Scherz, manchmal ernst gemeint. Emmerich trat zu uns. Er versuchte, seine Verwirrung vor uns zu verbergen. Vom Schlaf hatte er dunkle Schatten unter den Augen.

      Endlich kehrten wir zurück und setzten uns auf Bauers Feldbett. Wir sprachen auch hier nicht von der Arbeit, die uns morgen erwartete. Aber dadurch, dass wir nicht davon sprachen, fühlten wir uns umso mehr von ihr bedrängt.

      2

      Am Abend verlangten wir unseren Kommandanten zu sprechen. Wer weiß, ob Graaf uns die Erlaubnis dazu gegeben hätte. Aber er war aufgebrochen in die Stadt, wo er jemanden kannte. Umso besser, so gelang es uns, ihn zu umgehen. Der Kommandant hörte uns zu, ohne uns anzusehen, während sich seine Hände unruhig in den Taschen bewegten, als würde er nach etwas suchen. Er war ein wenig älter als wir. Im Zivilleben betrieb er einen Großhandel für Stoffe, was wir uns nur schwer vorstellen konnten. Für uns war er seit eh und je der Kommandant von etwas.

      Was wir ihm sagten, wusste er bereits. Er warf ab und zu einen Blick zur Tür und nickte dann wieder heftig mit dem Kopf. Nicht weil er in Eile gewesen wäre, sondern weil er uns verstand. Natürlich übertrieben wir ein wenig. Man musste hier viel verlangen, um etwas zu erreichen. Falls wir etwa morgen der Ansicht wären, dass der Koch ein wenig geizte mit seinen Portionen, so müssten wir ihm sagen, dass wir vor Hunger sterben, um daran etwas zu ändern.

      An jenem Abend gab es andere Dinge zu besprechen, wichtige Dinge, und der Kommandant verstand uns und nickte manchmal. Wir erklärten ihm, dass uns das Jagen lieber wäre, als Erschießungen vorzunehmen, dass wir die Erschießungen wahrhaftig nicht mögen würden, dass sie uns deprimierten und dass wir nachts von ihnen träumten. Am Morgen verfielen wir in Trübsal, sobald wir daran dächten, und würden sie schließlich überhaupt nicht mehr ertragen, und alles in allem, wenn wir erst einmal ernsthaft krank wären, würden wir zu nichts mehr zu gebrauchen sein. Wir sprachen ohne Scheu mit ihm. Mit einem anderen Kommandanten hätten wir nicht so freimütig und offen geredet. Er war Reservist wie wir und schlief ebenfalls auf einem Feldbett. Aber die Massenblutbäder hatten ihn stärker altern lassen als die anderen. Er war abgemagert und wirkte manchmal so ratlos, dass wir befürchteten, er könnte vor uns krank werden und ein anderer, weniger verständnisvoller Kommandant an seine Stelle treten. Möglicherweise sogar aus dem näheren Umfeld. Graaf zum Beispiel, unser Leutnant, der nicht auf einem Feldbett schlief. Mit sich selbst ging er rücksichtsvoll um, aber nicht mit uns. Mit ihm gäbe es weniger Kohlen und noch mehr Appelle. Ein fortwährendes Heraustreten und Wiederwegtreten, das würde uns mit Graaf erwarten. Allein beim Gedanken daran hörten wir die Eisenplatte, deren Klang uns von früh bis spät begleiten würde. Es musste nicht ausgesprochen werden, wir mochten unseren Kommandanten, mitsamt seiner Ratlosigkeit.

      Er bewilligte uns, worum wir ihn gebeten hatten, und am nächsten Tag brachen wir auf, Emmerich, Bauer und ich. Wir machten uns vor Tagesanbruch auf den Weg, vor der ersten Erschießung, ohne Frühstück im Magen, aber dafür blieb es uns erspart, Graafs gehässigem Blick zu begegnen. Es war Nacht, es fror. Die Straße war härter als Stein. Wir marschierten lange Zeit, ohne Pause, in der Kälte, unter dem gefrorenen Himmel, aber mit einem leichten Glücksgefühl.

      Mir war zumute, als hätte ich unserem Kommandanten gestern Abend Lügen erzählt über unsere Nächte, denn diese Nacht hatte ich von etwas ganz anderem geträumt: Emmerich, Bauer und ich waren in einer Straßenbahn unterwegs. An und für sich ein sehr einfacher Traum, aber gerade deshalb war er außergewöhnlich. Wir saßen zu dritt in der Straßenbahn, um uns herum Ruhe und Frieden, alles wirkte vollkommen real, im Gegensatz zu vielen der anderen Träume. Nichts deutete darauf hin, dass etwas falsch wäre und allein ein Produkt meines Geistes.

      Ich erzählte Emmerich und Bauer nichts von meinem Traum. Ich fürchtete, sie würden mir sonst von ihren erzählen. Hier war es besser, seine Träume für sich zu behalten, gleichviel, ob es gute oder böse waren. Und warum sollte man sie überhaupt behalten?

      3

      Wir gingen ohne Unterlass so weit, bis nichts mehr zu hören war, nicht einmal das Echo der ersten Erschießung. Die Schweinekälte war einstweilen auszuhalten. Einen Augenblick glaubten wir, die Sonne zu sehen, aber es waren nur Scheinwerfer.

      Wir bewegten uns nicht abseits der Straßen. Wozu sollten wir jetzt schon damit beginnen? Soeben hatten wir ein polnisches Dorf durchquert, trist wie ein Eisenteller, den man niemals abgewaschen hat. Alles schlief noch, nur ein paar Hühner gackerten irgendwo. Ein Huhn hätte uns ganz gewiss gutgetan, aber wir wollten keine Zeit für die Suche verschwenden.

      Endlich sahen wir eine blasse Sonne aufgehen. Sie hatte kaum Kraft, dem Himmel Farbe zu geben. Sie würde uns erst um die Mittagszeit aufwärmen können, aber ­offen blieb, um wie viel Grad. Der Horizont hellte sich auf, dunkle Konturen schälten sich heraus, doch das war alles. In der Ferne zeichneten sich vertraute Wälder und Hügel ab.

      Der anbrechende Tag war wie ein Signal dafür, dass wir einen ungeliebten Ort hinter uns gelassen hatten. Wir legten eine Zigarettenpause ein. Um uns herum nichts als weit ausgedehnte Felder. Der Wind hatte den Schnee zu endlosen, monotonen Wellen geformt, die schon lang im Frost erstarrt waren. Wir blickten uns um und bekamen den Eindruck, uns inmitten eines weißen Meeres zu befinden. Über uns war es dasselbe, ein Stück weiter im Osten ein blasser Schleier vor der Sonne.

      Kaum hatten wir unsere Zigaretten angezündet, da brannten unsere Hände auch schon vor Kälte. Wir zogen die Handschuhe wieder an. Es war beschwerlich, mit Handschuhen zu rauchen. Normalerweise beklagte man sich nicht darüber, dass sie so dick gefüttert waren. Aber wenn man rauchte, dann schon.

      Es war nichts anderes zu hören als das Knistern unserer Zigaretten, unser Atem, und manchmal stiegen einem von uns Eiskristalle in die Nase. Mit leerem Magen zu rauchen ist längst nicht so angenehm, wie nach dem Essen zu rauchen. Aber dennoch genossen wir diese Zigarette, weil die Sporthalle und Graaf und der Tag, der dort anbrach, hinter uns lagen. Wir waren in der Mitte eines gefrorenen Meeres, alles war hässlich und vom Eis belagert, wir rauchten mit leerem Magen, aber wir fühlten uns in Sicherheit.

      Plötzlich sagte Emmerich: »Ich hab Angst, dass er sich das Rauchen angewöhnt. Was nützt es schon, wenn ich ihm sage, er soll es bleiben lassen. Gut, ich kann ihm auch schreiben, dass er es lassen soll, aber wozu? Er wird den Brief einstecken und vergessen, was drinsteht.«

      Es war typisch für Emmerich, sich auf diese Art an uns zu wenden. Er hing seinen Gedanken nach, manchmal ziemlich lang, und mittendrin sprach er plötzlich laut aus, was in ihm vorging. Man musste schnell kapieren, worum es ging, quasi während der Fahrt auf seinen Gedankenzug aufspringen. Das kriegten wir nicht immer hin. Diesen Morgen schon. Er hatte noch nicht einmal geendet, da hatten wir bereits kapiert, dass es um seinen Sohn ging. Emmerich dachte nämlich sehr oft an ihn; er war geradezu besessen von allem, was ihn betraf. Wir standen ihm bei, so gut wir konnten. Wann immer er wollte, hörten wir ihm zu. Wenn er nach unserer Meinung fragte, sagten wir sie ihm. Er tat uns leid, weil es keine Kleinigkeit war, zu sehen, wie er sich damit plagte.

      Bauer antwortete: »Ist nicht sicher, dass er den Brief einsteckt.«

      »Ach, ist nicht sicher?«, sagte Emmerich mit einem dünnen Lächeln. »Und ob er ihn einfach einsteckt.«

      »Schreib ihm, dass wir nach Hause zurückkommen«, sagte Bauer, »und dass er den Geruch nicht verbergen kann, wenn er geraucht hat, weil wir ohne Vorankündigung kommen werden.«

      Emmerich dachte nach und wiegte dabei den Kopf ein wenig. Es erschloss sich uns nicht, ob er damit Zustimmung oder Zweifel andeuten wollte. Unsere Zigaretten waren fast zu Ende. Um sie ganz aufzurauchen, musste man einen Handschuh wieder ausziehen. Die Finger brannten entweder vor Kälte oder vor Hitze.

      Ich sagte zu Emmerich: »Schreib ihm, dass man uns Fronturlaub angekündigt hat. Wir könnten ganz fix an der Reihe sein, von einem Tag auf den andern. Schreib nichts Genaues, schreib nur, dass das irgendwann passieren wird und dass du es sofort riechen wirst, wenn er geraucht hat, sobald du an der Türschwelle


Скачать книгу