Ein Wintermahl (eBook). Hubert Mingarelli

Ein Wintermahl (eBook) - Hubert Mingarelli


Скачать книгу
wäre auch eine traurige Sache. Abend für Abend wäre er enttäuscht.«

      Bauer und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. Dann antwortete ich für uns beide: »Also gut, schreib ihm das nicht.«

      Emmerich brachte ein schmales Lächeln zustande und legte kurz die Hand auf den Mund. Dann starrte er auf seine Stiefel. Wie gesagt, wir standen ihm bei, so gut wir konnten, aber man kann nicht alles bedenken.

      Wir warfen die aufgerauchten Zigarettenstummel weg, zogen unsere Handschuhe wieder an und legten uns die Schals bis unter die Augen um. Damit trat ein längeres Schweigen ein. Wir senkten die Köpfe zur gefrorenen Straße, und jeder von uns ging in Gedanken, wohin er wollte. Wohin Emmerich ging, wusste ich. Bei Bauer dagegen hing es von der Tagesform ab.

      Was mich betraf, so ging ich nicht weit. Ich kehrte zur Nacht zurück, zu meiner Straßenbahn. Aber sie kam mir bereits weit entfernt vor, wie das mit Träumen so ist. In nur einer Woche schon läge dieser Traum hier in einem Loch des Vergessens, für immer. Wenn man doch nur in dieses Loch hineintun könnte, was man wollte!

      4

      Mein Rücken hatte sich immer schmerzhafter verkrampft unter der Kälte. Wir machten uns wieder auf den Weg, Emmerich voran. Kurz zuvor hatte sich mit einer Schulterbewegung und einem Stoßseufzer durch den Schal angedeutet, dass er mit seinem Problem immer noch nicht durch war. Also dachten wir, während wir hinter Emmerich herstapften, weiter darüber nach, wie man seinen Sohn vom Rauchen abbringen könnte. Im Grunde glaubte ich, dass keiner von uns eine Möglichkeit fände, ihn von hier aus am Rauchen zu hindern, wenn er nun einmal damit angefangen hatte. Nur, hätten wir dies Emmerich gegenüber ausgesprochen, so hätten wir ihm ebenso gut den Gewehrkolben in den Rücken rammen können.

      Bauer und ich hatten keine Kinder. Alle in der Kompanie hatten welche, außer Bauer und mir. Emmerich hatte uns schon oft gesagt, dass Vatersein sowohl ein Glück als auch ein Unglück sei. Vor dem Krieg sei es ausschließlich ein Glück gewesen, aber nun habe sich das Unglück dazugesellt. Wir verstanden ihn nur so halb.

      »Sag ihm, dass es dir Unglück bringt, wenn er damit weitermacht«, schrie Bauer mit einem Mal.

      Wir schraken auf, Emmerich und ich. Selbst durch den Schal klang es noch wie ein Gewehrschuss. Oder wie der Schrei eines wilden Tieres.

      Unsere Arbeit hier hatte Bauers Stimme verändert. Sie konnte urplötzlich überschnappen. Was er sagte, war dabei fast unwichtig. Aus dem banalsten Anlass konnte er losschreien. Emmerich und ich hatten aufgehört, uns deshalb zu sorgen, und machten ihm auch keine Vorwürfe mehr. Aber dass wir es wussten, schützte uns nicht davor, jedes Mal aufzuschrecken, wenn es so weit war.

      Emmerich wandte sich ein Stück zu uns um und antwortete mit einem Vibrieren in der Stimme: »Wenn er geraucht hat und mir ein Unglück zustößt, ist sein Leben ruiniert.«

      »Er hat recht«, sagte ich zu Bauer.

      Bauer machte einen großen Schritt voran, fasste Emmerich an der Schulter und sagte, diesmal mit seiner wahren Stimme, ruhig und besonnen: »Dir müsste erst einmal ein Unglück zustoßen. Was riskieren wir hier schon?«

      »Hier vielleicht nichts«, antwortete Emmerich. »Im Moment ist alles in Ordnung. Aber wir riskieren, dass wir woandershin geschickt werden.«

      »Kann schon sein. Aber morgen nicht«, sagte Bauer. »Und hier, was sollte dir hier für ein Unglück zustoßen?«

      Emmerich verlangsamte seinen Schritt, um an unserer Seite zu gehen, und sagte zu Bauer: »Kann man nie wissen. Außerdem braucht es ja nur ein blöder Zufall sein: Er raucht, und mir passiert ein Unglück, einfach so. Was wird dann mit ihm? Ich will nicht, dass sein Leben wegen so einem Zufall ruiniert ist.«

      »Er hat ganz recht«, sagte ich.

      Bauer murmelte etwas in seinen Schal hinein.

      Emmerich sagte: »Ich kann ihm nicht mit so was drohen. Da ist es doch noch besser, wenn er raucht.«

      Bauer hob seinen Schal an und sagte zu Emmerich: »Gib ihm doch gleich deine Ration.«

      Er meinte die Zigaretten. Ich hörte Emmerich leise lachen. Nicht sonderlich fröhlich, aber immerhin. Von da an gingen wir wieder schweigend, jeder für sich. Aber Emmerichs Sohn begleitete uns weiterhin. Bauer und ich hatten keine Ahnung, wie er aussah. Emmerich besaß kein Foto von ihm, und wir hatten noch nie gewagt, ihn zu fragen, warum. Vielleicht stand irgendein Aberglaube dahinter.

      Während wir geredet hatten, hatte sich der Tag immer weiter entfaltet. Das graue Licht, das er jetzt spendete, würde uns nun bis zum Abend begleiten. Für die Temperatur galt das Gleiche, es würde nicht wärmer werden, auch mittags nicht. Zum Glück war es windstill. Wenn man sich diesen Umstand bewusst machte, von dem Moment an, in dem die Windstille eintrat, konnte man sich geradezu glücklich schätzen. Wir mussten gegenwärtig nur aufpassen, wohin wir unsere Füße setzten, damit sie nicht in der Falle der gefrorenen Radspuren landeten.

      Ich behielt deshalb mit stetig gesenkten Augen die Straße im Blick und dachte dabei über alles Mögliche zugleich nach, über den Zufall, das Unglück und Emmerichs Sorgen um seinen geliebten Sohn. Aber wenn ich meinen Blick gehoben hätte, und wenn ich weit genug hätte vorausblicken können, so hätte ich gesehen, wo der Zufall wohnte, der Emmerich treffen würde, und hätte die Brücke in Galizien gesehen. Ich hätte Emmerich gesehen, an einen Pfeiler gelehnt, im anbrechenden galizischen Frühling, mit weit aufgerissenen Augen. Ich hätte gehört, wie er nach Luft rang, während er Blut spuckte, wie er verzweifelt versuchte, mit uns zu sprechen, mit Bauer und mir, die vor ihm knieten und nicht wussten, was tun mit all dem Blut, das ihn erstickte. Wir wussten nicht, wie wir mit ihm sprechen sollten. Wir wussten überhaupt nicht, was wir tun sollten, als hätte das Geschoss auch uns durchschlagen, sodass wir ratlos zurückblieben, vor ihm niederkniend, nutzlos und stumm bis zum Ende.

      5

      Schließlich vergaß ich Emmerichs Sohn und dachte nur noch an mich selbst, dadurch verging die Zeit anders als zuvor. Wir durchquerten ein weiteres Dorf, verschlafen wie das erste, abgesehen von einem erleuchteten Fenster und dem Geruch nach Rauch.

      Hin und wieder glitt ich aus und stolperte gegen Emmerich oder Bauer. Der Körperkontakt mit ihnen beruhigte mich. Noch mehrere Minuten, nachdem ich einen Arm oder eine Schulter berührt hatte, erinnerte ich mich daran, spürte noch die körperliche Empfindung.

      Wir langten an einer gefrorenen Wasserfläche an, erkennbar allein durch das Schilf, das sie umgab, denn das Eis war ebenso weiß wie die Felder ringsum. Die Fläche war ziemlich groß. Der Wind hatte den Schnee an einem Ufer angehäuft, wo er einen spitz zulaufenden Hügel bildete, gleich einem Wellenkamm. In der Mitte des Eises konnte man am erstarrten Schilfrohr ablesen, in welcher Richtung der Wind an dem Tag geweht hatte, als alles zugefroren war. An jenem Tag hatte jemand einen Stock dort hineingerammt.

      Bauer sagte uns, wir sollten warten, und begab sich auf die gefrorene Wasserfläche. Er hatte sein Gewehr von der Schulter genommen und gebrauchte es wie einen Gehstock, um nicht auszurutschen.

      Emmerich und ich traten auf der Stelle, um uns warm zu halten, und sahen Bauer zu, wie er sich vorsichtig auf dem Eis voranbewegte. Ich spürte, wie das Glücksgefühl, sich der Arbeit entzogen zu haben, allmählich entschwand. Jetzt fühlte sich alles ganz anders an. Kaum dass er begonnen hatte, erschien uns der Tag bereits lang und von Schwierigkeiten durchzogen. Wir hatten erst die Hälfte hinter uns. Dass drüben bei der Kompanie die Arbeit vielleicht schon beendet war, hieß noch lange nicht, dass wir hätten zurückkehren können. Wir mussten den Einbruch der Nacht abwarten. Andernfalls würde Leutnant Graaf sagen: »Das habt ihr euch zu einfach gemacht, ihr ­Mist­kerle. Das war das letzte Mal, dass man euch hat gehen lassen.« Von seinem Standpunkt aus hätte er auch recht gehabt. Und alle aus der Kompanie würden uns zu Recht mit schlimmeren Beleidigungen belegen als Graaf.

      Um allen gegenüber zu rechtfertigen, dass wir zurückgekehrt waren, wäre es nötig gewesen, einige zu finden und mitzubringen. Nur hatten wir gar nicht erst begonnen, welche zu suchen. Noch nicht einmal daran gedacht hatten wir.

      Mein


Скачать книгу